„Du machst Dir Freizeitstreß!“ meint meine liebe Kollegin Ruth nicht ohne Sorge, als ich im Büro leicht aus der Haut fahre und sie realisiert, daß ich nach meiner Rückkehr aus Ibiza nur drei Arbeitstage später schon wieder aufzubrechen gedenke. Zugegeben: Wenn die Arbeit aktuell auf ganz wenige Schultern verteilt ist und trotzdem gemacht werden muß, kann man schon mal etwas ungehalten werden. Doch ist es so – Ihr wißt das -, daß unsere bevorzugte Fortbewegungsart trotz der Anstrengung ja erholsam wirken kann. So sehe ich das jedenfalls für mich, als Elke und ich schon am Donnerstag den Weg nach Söll zur Tour de Tirol einschlagen.
Der dreieinhalbtausend Einwohner-Ort unweit von Kufstein (kein Pickerl!) empfängt uns in freundlicher Fremdenverkehrsmanier, so, wie man es bei den Beutegermanen erwartet und für schön befindet. Sicherlich übersteigt die Bettenkapazität die Zahl der Eingeborenen deutlich, man lebt sichtlich von uns Touristen. Gerade in der Lücke zwischen beendetem Sommer und dem noch fehlenden Schnee kommen wir Läufer gerade richtig und das in hoher Zahl. Sichtlich ist das halbe Dorf in der Organisation der Läufe engagiert. „Wir leben ja davon“, ist ein Einheimischer mir gegenüber aufrichtig.
Im Tourismusbüro erfolgt die Kontrolle der sattsam bekannten 3G-Regel, dafür gibt’s verschiedenfarbige Bändchen als Zutrittsgenehmigung für den engeren Zielbereich und die kleine Sportartikelmesse. Nebenan in der Whiskymühle erhalten wir unsere Startunterlagen inkl. einiger netter Beigaben. Als extrem erholsam empfinde ich die weitgehende Befreiung von der Maskenpflicht, sie besteht v.a. noch in Apotheken, Lebensmittelgeschäften und im ÖPNV inkl. der Bergbahnen. Den restlichen Donnerstag und den Freitag nutzen wir bis zum Nachmittag zur Ortserkundung, dann wird’s ernst.
Wie geht man am besten die Auftaktveranstaltung an, wenn man weiß, daß noch zwei harte Läufe an den nächsten beiden Tagen auf einen warten? Man zügelt sich vernünftigerweise. Elke ist bei unserem Freund Günther auf Nummer Sicher, denn er wird sie laufend begleiten. Auch seine Frau Andrea ist aus dem benachbarten Langkampfen, halt, Unterlangkampfen - so viel Zeit muß sein! – mitgekommen und werden uns das ganze Wochenende bemuttern und bevatern. Also, Zurückhaltung ist angesagt, knapp unter einer Stunde zu bleiben sollte für mich klug sein.
Der Massenstart erfolgt um 17:30 Uhr, 419 Erfolgreiche wird die Ergebnisliste später ausweisen. Die Aufgabe besteht aus drei Dorfrunden von je 3,33 km Länge, die Elke und ich am Vormittag natürlich schon mal abgewandert sind. Unter dem blauen Torbogen starten wir in Richtung des Pölven, quasi der Hausberg Sölls, den wir übermorgen deutlich intensiver kennenlernen werden. Die am besten als Oval zu beschreibende Runde beginnen wir links umfassend, schnell führt uns die erste Steigung noch auf Asphalt aus dem Dorf heraus. Vorbei am Campingplatz Franzlhof gewinnen wir rasch an Höhe, vor der Elke mächtig Respekt hatte, aber sie wird sie mit Bravour meistern.
Am Scheitelpunkt ist eine Wasserstelle eingerichtet, die ich in der dritten Runde nutzen werde. Dahinter folgt ein schöner Höhentrail, der uns am Dorf vorbei mit einem wunderschönen Ausblick ins Tal erfreut. Hinter der Brennerei Oberkoller sind nochmal ein paar Höhenmeter zu gewinnen, bevor es stramm bergab ins Dorf zurückgeht. Die kleine Pirchmooser Kapelle lassen wir rechts liegen und ich sicher einige Zeit dazu, weil ich bergab mehr trudele anstatt zu galoppieren. Schon bin ich trotzdem wieder im Start-/Zielbereich, an dessen Ende eine Wende zu nehmen ist, und gleich bin ich auf den Runden zwei und drei. Dreimal zwanzig Minuten, das passt, und die paar Sekunden über einer Stunde – geschenkt.
Ich schätze läuferfreundliche Startzeiten, sie ermöglichen sowohl eine ausreichende Mütze Schlaf sowie ein gemütliches Frühstück. Um 9:30 Uhr sind wir dran, die Ultras – ausnahmsweise gibt es zum 15. Jubiläum auch einen Ultratrail über 75 km mit 4.000 Höhenmetern – wurden schon fünf Stunden vorher zu ihren 33 km Anlauf losgelassen. Wie gestern ist es noch frisch, aber aufs versprochene Kaiserwetter brauchen wir nicht lange zu warten. Umgekehrt zum gestrigen Verlauf verlassen wir das Dorf, an der Pirchmoos-Kapelle wird diesmal links abgebogen. Leider bin ich alleine, Günther und Andrea sind zwar anwesend und begleiten Elke einige Stunden, aber eine Hochzeitseinladung hält ihn von der Teilnahme ab.
An einigen Gehöften und Pensionen vorbei müssen wir eine erste stramme Steigung nehmen und werden in der Folge mit feinen Trails und schönen Wiesenwegen belohnt. Kurz vor dem Hochfilzer mit seinen markanten hölzernen Ferienhäusern sind die ersten fünf km im Sack. 35 Minuten bisher, so kann es gerne weitergehen. Wird es aber natürlich nicht. Es folgen der wunderbare Blick auf Söll von gestern. Nach 7,5 km sind wir wieder am Start und verlassen das Dorf ostwärts. Elke hat in der Zwischenzeit meinen vergessenen Becher geholt, der in dem Startsackerl enthalten war. Die Absicht, den wie empfohlen zu nutzen, ist zwar löblich, aber gebraucht hätte ich ihn im weiteren Verlauf nicht, denn überall werden die Getränke in einer ausreichenden Zahl Becher angeboten.
Die kleine gedeckte Auhäuselbrücke führt uns ins Sonnenlicht, das Wetter beginnt herrlich und wird auch so bleiben. Kaiserwetter im Kaisergebirge, was willst Du mehr? Das sprichwörtliche Glück bei meinen Alpeneinsätzen bleibt mir also treu. Das Laufen über sonnendurchflutete Wiesen und Wälder, immer wieder vorbei an attraktiven Bauernhöfen, ist wunderbar. Der erste VP mit Vollversorgung kommt nach etwa 12 km zwar etwas spät, aber ich habe eine Wasserflasche dabei und konnte gut überbrücken. Unter einer Bergbahn hinweg komme ich weiter prima voran, die tollen Ausblicke ins Tal, die schönen, gut zu belaufenden Wege sind eine Freude und das sensationelle Wetter sowieso. Nach fünfzehn km und einigen hundert bereits genommenen Höhenmetern geht’s dann ins Eingemachte: Praktisch zurück auf der Ausgangshöhe von rund 700 m folgt ein Aufstieg von guten tausend Metern auf den nächsten zehn km.
Ein zumindest optisches Gedicht stellt die Rübezahlalm auf etwa 1.200 m Höhe nach 20 km dar, lt. Günther die Alm der Region schlechthin. Sehr gut werden wir verpflegt, allerdings neben den Gebäuden. Markant und klasse anzusehen sind die zahlreichen, aus vollen Baumstämmen geschnitzten Skulpturen, die uns im weiteren Verlauf begleiten werden. Schnell gewinnen wir weiter Höhe, die Bergbahn wird unterquert. Nicht ganz im Klaren über meine Platzierung im Feld (sicherlich nicht ganz hinten) habe ich schon gewisse Bedenken, ob es heute reichen wird. Sieben Stunden haben wir Zeit, als Referenzwert dient mir der Brixen-Dolomiten-Marathon mit seinen direkt vergleichbaren Höhenmetern. Sechseinviertelstunden hatte ich dort vor drei Jahren auf die Plose, den Brixener Hausberg, benötigt, da ist heute nicht sehr viel Luft nach oben.
Die Bergstation der Hartkaiserbahn gibt wieder Gelegenheit zum Auftanken und dem Herrn fürs Wetter zu danken. Auf einem markanten Hügel voraus kann ich schon das nächste Zwischenziel, die Mittelstation zur Hohen Salve, erkennen. Erst einmal aber passieren wir einen kleinen See, Wasserspeicher für die Winterbeschneiung der umliegenden Skipisten. Am Wegweiser zur Tanzbodenalm klingelt’s bei mir, da war doch etwas Besonderes? Über die erste Terrasse, dann durchs Gebäude und über die zweite Terrasse wieder hinaus, begleitet vom Applaus der Gäste. Hätt jet, wie man bei uns zu sagen pflegt. 26 km sind geschafft, 3:45 Stunden bin ich (erst) unterwegs. Das sollte doch in sieben Stunden zu schaffen sein.
Aber o weh, weiter müssen wir hinauf, auf gutem Weg zwar, aber sehr langsam. So viel an einem Stück bin ich wahrscheinlich innerhalb eines Rennens noch nie marschiert. Traumhaft ist jedenfalls der Blick zurück, ebenso die folgende Verpflegung, genau zum richtigen Zeitpunkt. Entlang des Eibergs (1.673 m) umrunden wir den Jochstubnsee fast zur Gänze. Zinsberg, höher und höher schleppe ich meinen müden Körper empor, immer das Schreckensszenario von über sieben Stunden im Hinterkopf. Dann sehe ich plötzlich das Ziel: Au Backe, ein wunderschöner Kegel mit einem Gebäude auf der Spitze, allerdings elend hoch. Und zwischen mir und ihm eine gewaltige Senke. Nützt alles nichts, erst einmal am Filzalmsee entlang weiter voran. Lange wird jetzt bergab gelaufen, der Erlebnispark Hochsöll/Hexenwasser an der Grindlalm lautet das nächste Zwischenziel. Das Gebiet um die Hohe Salve galt früher als Hexenland: Die zauber- und heilkundigen Frauen, die hier lebten, wurden von der Bevölkerung zugleich gefürchtet und verehrt. Hier ist der Umsteigepunkt in die Bergbahn Hohe Salve, hier sollte die Gattin stehen. Tut sie auch, die Anfeuerung ist Gold wert.
35 km sind vorbei, und erst 4:50 Std. 2:10 Std. für sieben km, das muss reichen. Wer aber schon mal über eine halbe Stunde für einen einzigen km gebraucht hat, kennt den Spruch mit dem Pferd und der Apotheke. Unmittelbar nach dem Abschiedskuss von der besten Ehefrau von allen beginnt der letzte Abschnitt. Wie von zahlreichen Läufen in der benachbarten Schweiz gewohnt, zieren kleine Fähnchen beiderseits des Wegs die nächsten Meter. Die Bahn verläuft jetzt genau über mir. Es folgt ein prüfender Blick in die nächste Gondel und, jawohl, Jacke und Frisur kommen mir bekannt vor. Meinem Schrei folgt ein heftiges Winken aus luftiger Höhe. Dann entschwebt sie in Richtung Hohe Salve, und die ist immer noch unangenehm weit weg und ebenso hoch.
Unterhalb und entlang der Seilbahn quälen wir uns Schritt für Schritt eine schwarze Piste hoch. Langsam, ganz langsam. Noch langsamer. Die Zeit läuft. Ich nicht. Sch… ist das steil! Km 38, es geht abwärts. Abwärts! Du lieber Himmel, jeden Meter, den ich verliere, muss ich wieder hoch. Es sind viele Meter, ganz viele. Aber was jammere ich? Erstens ist mein Schicksal selbstgewählt, zweitens trifft es alle gleichermaßen und drittens habe ich dafür auch noch bezahlt. Was ich nicht mehr auf der Pfanne habe ist, daß noch eine komplette Umrundung der Hohen Salve ansteht, die ich tapfer in Angriff nehme. Km 40, es geht runter… Letzte Streckenverpflegung, der letzte Moderator, noch 1,2 km. Hinter der Schranke an der Kälberalm weist der Weg himmelwärts. Hoch, höher, langsam, langsamer. Unter der Bahn hindurch, phantastische Ausblicke.
Km 42, der Zielkanal weist stramm nach oben, was mich jetzt auch nicht mehr umbringt. Am Eingang des Kanals bietet mir der Ordner ein ultimatives Heldenfoto mit dem Pölven im Hintergrund an, über das ich mich sehr freue. Dann schreite ich würdevoll nach ganz oben, nur kurz unterbrochen von dem mündlich überbrachten Glückwunsch meiner Angetrauten. Nach 6:41 Std. dann Männerglück hinter der Ziellinie, denn gleich vier Frauen reißen sich um mich zur Medaillenübergabe. Da ich konkurrenzlos bin, sich also niemand weiteres im Zielkanal befindet, sorgt der hiesige Moderator auch noch für ein weiteres tolles Foto. Traumhafte Zielverpflegung, die angebotene Suppe (und erwartete Bouillon) entpuppt sich als selbstgekochte Rinderbrühe aus der Almküche, ein kulinarischer Traum, gerade zum jetzigen Zeitpunkt in dieser Situation. Auch gibt es das tolle Finishershirt.
Die trockene Kleidung hatte man vorher abgeben können, sie wird an der Mittelstation wieder ausgegeben. Meine hat Elke im Rucksack, weshalb ich nicht sofort talwärts fahren muss. Auf der dem Ziel gegenüberliegenden Seite ziehe ich mich auf einer Bank um und genieße sonnenbeschienen gleichermaßen die herrliche Aussicht und das ausgedehnte Gespräch mit einem netten, sehr sportlichen 76jährigen Einheimischen. Irgendwann müssen wir uns dann doch loseisen und sind wenige Minuten später zurück in Söll und nach einem kurzen Fußmarsch in der Unterkunft. 362 Teilnehmer sämtlicher heutzutage vorstellbarer Geschlechter haben das Ziel innerhalb von gut siebendreiviertel Stunden erreicht.
Ein Ersttäter, der keine Erfahrung aus Mehrtagesläufen besitzt, fragt sich im Vorfeld natürlich, ob und wie er die drei Tage überstehen kann. Ich bilde da keine Ausnahme. Klar, über den Zehner brauchen wir uns nicht groß zu unterhalten. Der mit gebremstem Schaum absolviert, kann und darf keine negativen Auswirkungen auf die beiden folgenden Tage haben. Die Erfahrung habe ich z.B. in Athen beim tollen Nachteinlauf ins Panathinaiko-Stadion vor dem Marathon am Folgetag gemacht. Auch der Kaisermarathon bereitete mir im Vorfeld kein wirkliches Kopfzerbrechen. Daß es knapp werden würde, war mir klar, aber die Erfahrung zahlreicher erfolgreich absolvierter alpiner Marathons mit vielen Höhenmetern gab mir Zuversicht. Die große Unbekannte ist also der Pölventrail am dritten Tag.
Was werden die Beine morgens sagen? Werden sie überhaupt noch dran sein? Zum Frühstück müssen wir ins Nebengebäude, was ich nach einer schmerzfrei verbrachten Nacht zu einigen wenigen testweisen Laufschritten nutze. Die gestalten sich unauffällig, was mich schon mal enorm beruhigt. Ich hatte durchaus mit der Möglichkeit gerechnet, das Rennen im wahrsten Sinne des Wortes angehen zu müssen. Das wird also erfreulicherweise nicht der Fall sein. Günther und ich werden zwar gemeinsam starten, aber er ist schnell über alle Berge entfleucht, denn er hatte ja gestern mit der faulen Ausrede Hochzeitseinladung gekniffen und ist daher frisch. Und ohnehin sehr viel schneller… Ich freue mich über die bisher führenden drei Mädels und Jungs, die sich gleichermaßen bereitwillig sowie freundlich und nicht im Ansatz abgehoben von mir ablichten lassen. Auf geht’s zur Umrundung des großen (1.595 m) und des kleinen (1.562 m) Pölven!
Gerade noch die startenden Stars abgelichtet, geht es kurz darauf auch für mich los. Schnell haben wir das Dorf hinter uns gelassen und befinden uns auf dem bereits mehrfach gelaufenen Trail oberhalb Sölls mit schönem Blick auf selbiges und seine Pfarrkirche. Ein breiter, befestigter Waldweg bringt uns die ersten Höhenmeter, die bald auf sehr schönen Trails und Wiesenwegen ausgebaut werden. Überholen ist hier teilweise schwierig, aber mein Problem ist das eh nicht. Kaum vier km absolviert, informiert man uns per Schild, daß es am Franzleibl steil würde. Das erschließt sich, ehrlich gesagt, sofort unmittelbar persönlich auch ohne Hinweis. Tatsächlich ist das schon der vielleicht schönste Abschnitt des Laufs. Über einen breiten Wiesenhang arbeiten wir uns als wunderbar anzusehende Läuferkette serpentinenartig den sehr steilen Wiesenhang unter einer Stromtrasse hinauf. Klar ist der gemächliche Schritt die bevorzugte Fortbewegungsart in meinem Leistungssegment, und genauso klar ist der traumhafte Blick zurück ins Tal.
Drei km weiter verlieren wir auf dem Hias Ortner Steig, teilweise seilgesichert, jede Menge der gerade erarbeiteten Höhenmeter. Dies wird auch das Prinzip der restlichen Strecke sein: Wie gewonnen, so zerronnen. An einigen Stellen bin ich froh, keine Stöcke dabeizuhaben, denn ich brauche alle vier Extremitäten zum Kraxeln. Über Wiesen und durch Wald auf breitem, optimal zu belaufendem Fahrweg befinden wir uns in Richtung Bad Häring, das wir allerdings nur rudimentär zu Gesicht bekommen werden. Dafür präsentiert sich rechterhand Aufing im Frühnebel. „Baden erlaubt“ gestattet uns ein weiteres Schild, als wir uns dem beeindruckenden Wasserfall Bad Häring nähern. Im Sommer vielleicht tatsächlich denkbar, verzichte ich, selbstverständlich nur aus Zeitgründen, hier und jetzt darauf. Wieder ist Klettern angesagt, das aber noch Spaß macht. Noch.
Am Ortsrand Bad Härings erfolgt bei km 9 die erste Verpflegung durch niemand geringeren als Herbert, Günthers Feuerwehrkommandanten, und das an dessen Privathaus. Auch hier stehen genügend bereits gefüllte Pappbecher bereit, den auftragsgemäß mitgeführten eigenen Trinkbecher hätte ich nicht mitnehmen müssen. Auch die Pflichtausrüstung (Mobiltelefon mit der eingespeicherten Nummer des Rennarztes, funktionelle Laufkleidung, Krankenversicherungskarte, Notfallmullbinde, Tape, Rettungsdecke, Trillerpfeife, lange Hose – bei schlechter Witterung, die wir nicht haben – sowie Regenjacke, Mütze und Handschuhe) wurde (wie angekündigt) nicht kontrolliert. Als halbwegs erfahrener Bergläufer habe ich trotzdem das meiste davon dabei, man weiß ja nie und das Wetter kann schnell umschlagen. Ein kleines Mädchen präsentiert stolz ihre Medaille von einem der Kinderläufe, die kurz nach unserem Start in Söll stattgefunden haben.
Unser nächstes Zwischenziel ist der nur unweit entfernte Steinbruch, den ein in den Berg führendes Tor des ehemaligen Perlmooser Zementwerks ankündigt. Nach wie vor erfolgt, wie uns eine Schautafel aufklärt, der Abbau des Wettersteiner Kalks, der sich aufgrund des hohen Gehalts an Kalzium (98%) und des geringen an Magnesium optimal für die Zementherstellung eignet. Nur einmal im Jahr ist das Betriebsgelände für Nichtmitarbeiter geöffnet, und das ist exakt heute, die Schranken dürfen wir ignorieren. Optisch beeindruckend ist der über weite Strecken angenagte Berg und die ein Tal überspannende Hochbrücke ein hübsches Fotomotiv. Einen ganz besonderen Witz hat man sich an der Labe bei km 12 (Hauptbetriebsgelände) erlaubt: Zwei Muldenkipper stehen sich gegenüber, den Zwischenraum hat man mit einer großen Ladung gebrochenen Kalks gefüllt. Über diesen „Berg“ müssen, nein, dürfen wir zwischen zwei Slalomtoren des Skiclubs Bad Häring hindurchlaufen. Klasse Idee! Am VP gibt’s sogar Bier (das ich als einer der Wenigen nicht verschmähe, übrigens auch MIT Umdrehungen), unser Toni darf also ebenfalls beruhigt hier erscheinen.
Noch zehn km verkündet das nächste Hinweisschild am SPZ Steig, es würde steinig, aber schön. Schau’n mer mal. Nach ein paar weiteren hundert Metern bin ich geneigt, das zu unterschreiben. Wunderbare Wurzelwege und auch gut zu belaufende, schmale Trails – so, wie ich sie liebe – machen Appetit auf noch mehr. Im Zurückblicken erhasche ich einen tollen Blick auf den vom Kalkabbau arg dezimierten Berg. Wer vorne um Zeiten hastet, dem entgeht vieles, das wir Langsamen uns anzuschauen erlauben können, solange wir nur im Zeitlimit bleiben. Als nächstes Ziel gilt es das Juffinger Jöchl am Paisslberg zu erklimmen, mit 1.181 m Höhe der Scheitelpunkt unseres heutigen Abenteuers. Falls ich es noch nicht erwähnt haben sollte: Söll liegt auf knapp 700 m Höhe. Der Abstieg wird dann haarig. Nach insgesamt 17,5 km und (für mich) schwierig unfallfrei herabzusteigendem, steilem Wurzelpfad muss ich mir eingestehen, keine Lust mehr zu haben. Zum Abreagieren gibt’s danach einen schönen Wiesenpfad.
Es wird aber langsam absehbar. Ein weiteres, optisch nettes Zwischenziel stellt die Lengaukapelle von 1727 mit imposantem Dachreiter dar, die es sich anzusehen bestimmt gelohnt hätte. Aber die Verlockung des sanften Bergablaufs ist groß, er verheißt das sich nahende Finale der Tour de Tirol, die über drei Tage 75 km und 4.000 Höhenmeter aufzuweisen hatte. Der dritte und letzte VP erwartet uns an km 20, wieder mit Wasser, Iso, Bananen und Riegeln. Halt, die Cola hätte ich fast vergessen, der ich mich jetzt gerne hingebe. Dann ist der Hochfilzer mit seinen bereits beschriebenen tollen hölzernen Ferienhäusern erreicht, fast kommen schon heimatliche Gefühle auf. Die Brennerei Oberkoller wird passiert, bekannt von den drei Dorfrunden am Freitag, und dann geht’s letztmals auf den schönen Wanderweg oberhalb des Dorfes, bevor wir endgültig wieder in Söll einlaufen. Günther, seit einer geschlagenen Stunde im Ziel (n.b.: gestern gekniffen), begleitet mich auf dem letzten km, bevor ich unter dem Beifall meines mobilen Fanblocks zum dritten Mal und nach 3:41 Std. diesmal als einer von 431 Finishern endgültig das Zieltor erreiche.
Nach den drei Läufen geht es mir wirklich überraschend gut, die Beine sind zwar müde, ich fühle mich aber keinesfalls total erledigt. Zur Belohnung erhalte ich nach den Socken (Zehner) und dem Shirt (Marathon) eine Basecap des Pölventrails. Spät zu erscheinen hat manchmal auch Vorteile, denn ich bekomme die Gesamtsiegerehrung in voller Länge mit und kann die zweimal drei glücklichen Gesichter bildlich einfangen. Von den 245 Läufern, die alle drei Strecken bewältigen konnten, waren nur eine Handvoll älter als ich. In Anbetracht des mir verbliebenen nicht allzu großen Zeitpolsters bedeutet dies, diese Tour anzugehen, bevor die Herausforderung zu groß wird. Ich freue mich, diese Tiroler Perle gemeistert zu haben. Und quetsche ein Tränchen, dass ich, optimal trainiert, nicht vom Transvulcania (Marathon) auf La Palma werde berichten können, denn die Natur hat gegen uns und diesen Lauf entschieden. Seien wir froh, nicht vom Vulkanausbruch betroffen zu sein. Es wird an anderer Stelle weitergehen, Ihr werdet von mir lesen.
Startgebühr:
159 bis 199 €, je nach Anmeldezeitpunkt für alle drei Läufe.
Veranstaltungen:
Söller Zehner: drei Runden á 3,33 km inkl. 270 Höhenmeter. Zeitlimit 1:30 Std.
Kaisermarathon inkl. +2.471/-1.308 Höhenmeter. Zeitlimit 7:00 Std.
Pölventrail: Teils sehr anspruchsvolle 23 km inkl. +/- 1.369 Höhenmeter. Zeitlimit 4:30 Std.
Streckenversorgung:
Bei allen Läufen bestens und völlig ausreichend.
Auszeichnung:
Medaille.
Leistungen/Logistik:
Laufsocken beim Zehner, Funktionsshirt für den Marathon, Basecap beim Pölventrail, Gepäcktransfer vom Start zur Mittelstation.
Zuschauer:
In den Ortschaften und auf den Almen netter Applaus kleinerer und mittlerer Gruppen.