Lange vor meiner (zu kurzen) Zeit als Läufer war ich als Marschierer auf Volkswandertagen unterwegs. Aus dieser Zeit kenne ich auch den Karwendelmarsch, der auf 53 km von Scharnitz nach Pertisau führt. 1969 wurde er zum ersten Mal ausgetragen. Der Swissalpine, das nur zur Orientierung, feierte erst 17 Jahre später Premiere.
Als Rückblick anlässlich der Absage der Veranstaltung wegen Corona habe ich meinen Laufbericht von 2010 herausgekramt. Es war damals die zweite Auflage seit der Wiederbelebung des Karwendelmarsches 2009.
Die Nacht ist kurz. Start ist ja schon um 6.00 Uhr. Wer trotzdem ein Bett braucht, wird in Scharnitz nur schwer fündig. Es ist wie früher. Der Karwendelmarsch beschert der Gastronomie zum Sommerschluss noch einmal eine kleine Sonderkonjunktur. Um 4.00 Uhr in der Früh gehen in den Gasträumen und Pensionen die Lichter an, die ersten Anreisenden belegen die raren Parkplätze in der Nähe des Startplatzes, der bereits taghell erleuchtet ist. Die ersten Marschierer sieht man wenig später in der Nacht verschwinden. Inoffizieller Frühstart oder so ähnlich.
Viele Bekannte sind nicht hier. Der Karwendelmarsch ist noch ein Geheimtipp. Oder haben die Leute nicht mitgekommen, dass auch gelaufen wird? Werner Sonntag ist das erste Mal hier. Warum? „Na ja, ist doch ein Marsch!“ Für den 84jährigen jetzt das Richtige, früher eher nicht. „War doch aber immer schon auch ein Lauf.“ „Trotzdem.“
1969 fand der erste Karwendelmarsch statt. Die Distanz von mehr als 50 km war angesichts der über 2000 Höhenmeter gigantisch und es gab absolut kein Vorbild. Der Swissalpine, heute der Bergultra schlechthin, feiert erst 17 Jahre später Premiere. Markenzeichen des Marsches war die Karwendelgams, die als Hutnadel und Stoffaufnäher Jacken und Hüte zierte. Die Auszeichnung war für jeden Marschierer so was wie ein Ritterschlag. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich mir diesen „Hatscher“ zutraute. Als ich 1982 endlich das erste Mal in Pertisau einmarschierte, war ich stolz wie sonst was. Es ist kein Zufall, dass ich die Auszeichnungen bis heute in Sichtweite aufbewahre. Sogar einige Karwendelmarsch-Ausgaben der Tiroler Tageszeitung, die man jedem Finisher nach Hause schickte, habe ich noch. Ich kriege eine Gänsehaut, wenn ich die Namenslisten lese. Viele gute Kameraden aus jener Zeit leben nicht mehr.
Wie viele andere Teilnehmer habe ich dem Marsch nachgetrauert, als er plötzlich aus „Umweltschutzgründen“ aus dem Terminkalender verschwand. Dann hat Markus Tschoner, Tourismusdirektor der Olympiaregion Seefeld, den Karwendelmarsch wiederentdeckt und zusammen mit seinem Bruder Martin, Tourismusdirektor vom Achensee, 2009 neu aufgelegt.
Eine „Massenveranstaltung mit mehr als 4.000 Teilnehmern“, was der Karwendelmarsch ja mal war, soll es aber nicht mehr werden. Bei 2.500 Läufern und Marschierern soll die Obergrenze liegen, so die Vorstellungen. Dass nach 19jähriger (!!) Pause jetzt bereits 1.500 Anmeldungen zu verzeichnen sind, spricht dafür, dass das Limit schon bald erreicht sein wird.
Gerade machen sich die im Vergleich zu den Marschierern leicht bekleideten Läuferinnen und Läufer im für sie reservierten ersten Startblock bereit, da fängt der Regen an. Und wie. Der Sprecher meint dazu sinngemäß: „Wie vorhergesagt. Aber keine Angst, es bleibt nicht so. Es soll auch mal aufhören. Und in Pertisau soll sogar die Sonne scheinen.“ Wenn das so ist, dann nichts wie weg hier. Mit einem Böllerschuss werden wir in die Dunkelheit entlassen.
Es geht die gesperrte Dorfstraße entlang, links über die Isar, vorbei an den letzten Häusern und weiter fast eben durch Wiesen und schließlich durch den Wald hinauf zur Forststraße, die uns ins Karwendeltal bringt. Normalerweise ist dieser Weg ein erster Höhepunkt. Er verläuft mit einem kaum spürbaren Anstieg entlang des Karwendelbaches zwischen der Nördlichen und der Vomper Kette durch typischen Kiefern- und Lärchenwald, kleinen Lichtungen und Almwiesen. Ich erinnere mich, wie es einmal bei Vollmond fast taghell war und die Marschierer lange Schatten warfen. Der sich anschließende Sonnenaufgang bleibt ebenfalls unvergessen. Schön, dass ich diese Erinnerungen habe.
Statt auf die imposante Bergkulisse schauen wir in eine graue Nebelwand. Es ist still. Man hört den Regen und das Rauschen des Baches, das Geklapper von Stöcken und seine Schritte, sonst nichts. Schnell wird es heller und vor uns zeichnet sich tatsächlich so etwas wie eine Bergsilhouette ab. Knapp 10 Kilometer sind wir unterwegs, dann wird die erste Labestation bei der Larchetalm (1173 m) erreicht. Auch die weckt Erinnerungen. Ich sehe dampfende Kessel auf offenem Feuer vor mir, in denen zwei urige, bärtige Typen die hausgemachte Suppe zubereiten. Heute ist es nicht viel anders, nur dass die Töpfe auf einem Herd stehen. Aber die Kartoffelsuppe schmeckt wie sie heißt und verdankt das nicht irgendwelchen Geschmacksverstärkern, sondern ausgewählten Zutaten aus der Region. Das gehört zur Philosophie des Marsches. Deshalb gibt es auch keinen Pulver-, sondern Kräutertee, wie man ihn bestenfalls in der Bioecke der Drogerie bekommt. Gel oder Isogetränke sind verpönt.
Wir laufen noch ein ganzes Stück fast eben Tal einwärts, bevor es in lang gezogenen Serpentinen mit mäßiger Steigung hinauf zur Hochalm und dem Karwendelhaus (km 18, 1780 m) geht. Das Schutzhaus ist schon von weitem zu sehen. Früher begrüßte ein Trompeter die Läufer und Marschierer. Die Hütte ist schon über 100 Jahre alt und gehört dem Deutschen Alpenverein. Sie ist ein wichtiger Stützpunkt für Touren im Sommer und Winter. Vor ein paar Jahren hat man deshalb ein Winterhaus mit 24 Schlafplätzen errichtet.
Unterhalb der Hütte ist unsere zweite Verpflegungsstelle. Bergkäs‘, frisches Brot und Kräutertee. Ich könnte mich daran gewöhnen. Wasser gibt es natürlich auch, Apfelsaft und Gespritzten (Schorle) ebenso. Es regnet immer noch, ist jetzt aber egal. Kennt Ihr das? Solange man dagegen ankämpft und versucht, wenigstens ein Stückchen Stoff oder Haut trocken zu halten, ist man am Hadern. Ist man dann durch und durch nass, ist es gut. Ich stelle mich nicht einmal unter das Zeltdach.
Der weitere Weg führt uns durchs Untere Filztal und ist gut zu laufen. Fast 400 Höhenmeter verlieren bis zum Kleinen Ahornboden (1399 m). Dieses herrliche Fleckchen Erde ist weit über die Grenzen Tirols bekannt, obwohl (oder weil) keine Buslinie und keine Bergbahn es erschließt. Die uralten Ahornbäume geben der Alm den Namen.
Ohne die im Nebel verborgenen Berge ist es heute allerdings nur ein eingeschränkter Genuss. Zwangsläufig schaut man auf andere Dinge. Das Denkmal für Hermann von Barth zum Beispiel ist mir noch nie aufgefallen, obwohl es nicht sehr versteckt direkt am Weg steht. Von Barth gilt als Erschließer des Karwendel und hat 1870 im Alleingang 88 Gipfel erstiegen, darunter waren 12 Erstbesteigungen (Bikkarspitze, Lalidererspitze). Viele Wege, Hütten und Steige sind nach ihm benannt und sogar ein Berg: die Barthspitze, 2454 m, natürlich im Karwendel.
Auf unserem Weiterweg ist ein Bachbett zu überqueren. Es ist sehr breit, führt aber bestimmt nur im Frühjahr bei der Schneeschmelze nennenswert Wasser. Oder wenn es ein paar Tage regnet, wie jetzt. Ein Kunststück, hier mit trockenen Füßen rüber zu kommen. Aber wer hat heute trockene Füße? Also: Augen zu und durch.
Der Weg steigt an. Fast gespenstisch mutet die Szenerie an. Eine halbverfallene Almhütte im Nebel, Kuhglockengeläut, aber niemand zu sehen, kein Mensch, kein Tier. Der Weg wird steiler, macht eine Kurve, dann kommt die nächste Hütte. Es ist die Ladiz-Alpe (27 km, 1571 m). Der Himmel öffnet seine Schleusen noch ein wenig mehr. Der Tee tut gut, die Biokekse sind lecker, etwas Obst zum Dessert und weiter geht’s. Der Weg zur Falkenhütte (1846 m) ist steil und beschwerlich. 270 Höhenmeter verteilt auf 2 Kilometer. Auch die Falkenhütte gehört dem DAV und ist mit ihrer Lage an den senkrechten Lalidererwänden eine der schönsten im ganzen Karwendel.
Ich sagte ja bereits, es gibt Naturkost aus der Region. Bei der Falkenhütte wird nun schon zum wiederholten Mal ein spezielles Gebäck mit geheimnisvollen Zutaten angeboten. Es sieht unheimlich gesund aus, schmeckt aber trotzdem gut. Nüsse sind drin, mehr schmecke ich nicht raus und mehr verraten mir die Mädels auch nicht. Leider kann ich keine einstecken – wegen der Nässe.
Zunächst geht es auf einer wüsten Schotterpiste steil abwärts. Der weitere Weg unterhalb von Laliderer- und Dreizinkenspitze hinüber zum Hohljoch (1794 m) ist zwar schmal, aber bis auf den Schlussanstieg gut zu laufen. Mit fällt auf, dass trotz des schlechten Wetters viele Wanderer und Tourengeher unterwegs sind. Klaglos schleppen sie ihre Riesenrucksäcke. „Was macht ihr bei dem Sauwetter hier?“, will ich von einem Zweierteam wissen. „Siehst Du doch, Schwimmen!“ Ein Landsmann sagt’s, einer mit Humor.
Der kann einem auf dem Weg hinunter zur Engalm vergehen. Schon bei trockenem Wetter ist der nicht Jedermanns Sache. Heute sind die Steine rutschig, die Wege matschig und oft für das Wasser der einzige Abfluss. Der Bach ist der Weg. Die Rinnsale und kleinen Bäche, die den Weg queren, sind zu Sturzbächen geworden, die nur mit mutigen Sprüngen zu überwinden sind, immer darauf vertrauend, dass man auf dem für die Landung ausgewählte Stein nicht ausrutscht. Wer hier unsicher ist und kein gutes Schuhwerk (Trailschuhe) hat, verliert im günstigsten Fall sehr viel Zeit.
Die Eng, die Almsiedlung auf 1200 m Höhe, ist mit dem Großen Ahornboden und seinen bis zu 600 Jahre alten Ahornbäumen ein beliebtes Ausflugsziel, das man auch mit dem Auto über eine Mautstraße erreichen kann. Und jetzt ist es beim Karwendelmarsch nach 35 km wieder das Ziel der „Tourenklasse“, wie es früher hieß. „Sonderklasse“ nannte man die Strecke bis Pertisau.
Heute nutzen die Engalm auch etliche, um vorzeitig auszusteigen. Denn, habe ich es schon gesagt, es regnet noch immer. Nicht einen Gedanken verschwende ich in diese Richtung. Ich habe beim Karwendelmarsch schon ganz anderes Wetter erlebt. 1988, die Tiroler Tageszeitung titelte „Wintermarsch durch das Karwendel“, lagen auf dem Hohljoch, von dem wir gerade kommen, 20 cm Schnee. Ein Teilnehmer ließ sich vor der Falkenhütte mit einem 2 m hohen Schneemann fotografieren. Trotzdem war man damals schnell unterwegs. Tobias Hosp aus Reutte hieß der Sieger. Er war nur 4:04:50 Stunden unterwegs. (Fotos: Christoph Birbaumer/mit freundlicher Genehmigung der Tiroler Tageszeitung)
Nach Gemüsesuppe (hitverdächtig), Kräutertee und einem Gespritzten laufe ich weiter. Der Weg ist zunächst noch eben, dann ist wieder einiges Geschick bei einer Flussquerung gefordert und schließlich geht es auf einem breiten Fahrweg ziemlich steil hinauf in Richtung Binsalm (km 37, 1500 m). Als ich das erste Mal hier ankam, zündete ich mir genüsslich eine Zigarette an und meinte: „So, das war’s.“ Ich glaubte nämlich, den höchsten Punkt erreicht zu haben. Dann zeigte die freundliche Helferin mit dem Finger fast senkrecht nach oben, wo man bei genauem Hinsehen zwischen den Latschen bunte Punkte sehen konnte. „Nein,“ sagte sie, „da geht's rauf!“ Mir fiel fast der Glimmstengel aus dem Gesicht. Und unterwegs, als es immer steiler wurde, dachte ich auch ernsthaft darüber nach, vielleicht mit dem Rauchen aufzuhören. Aber das ist eine andere Geschichte.
Heute bin ich natürlich mental auf dieses brutale Finale eingestellt. Trotzdem bleibe ich nicht nur wegen eines Fotos an einigen Kehren stehen, atme durch und lasse ein paar (meist einheimische) Naturtalente passieren. Zwischendurch geschieht etwas völlig Überraschendes: auf einen Schlag hört der Regen auf und fast gleichzeitig sind am Himmel riesige blaue Flecken zu sehen. Hätte ich auf dem schmalen, steilen Steig einen sichereren Stand, würde ich mir die Regenjacke vom Leib reißen. So lasse ich sie an und stapfe weiter. Trotz meiner langsamen Schritte bin ich schneller als erwartet oben am Gramaisattel (1903 m), wo die Bergwacht tapfer die Stellung hält. Hier bläst der Wind und erstmals ist mir so richtig kalt. Sofort setzt auch wieder Regen ein. Bis ich das kurze Stück hinunter zum Gramai Hochleger (km 40, 1758 m) gegangen bin, ist es schon wieder am Schütten.
Was soll’s, weiter geht’s. „Klaaaaaus!“ ruft es plötzlich hinter mir. Ich drehe mich um und sehe Irene. Die hat mir gerade noch gefehlt. Gestern habe ich sie zufällig kennengelernt. Sie ist bei der Tiroler Tageszeitung und wie die meisten hier in den Bergen auch recht sportlich. Aber laufen? Null Ahnung. Und einen Marsch wie den hier hat sie noch nie gemacht. Und jetzt holt sie mich ein. Nicht nur das, mit Stockeinsatz und lockeren Beinen rennt sie mir davon. Es gab eine Zeit, da hätte ich das nicht auf mir sitzen lassen. Aber mit der inzwischen gewonnen Altersweisheit und einem lädierten Knie lasse ich es geschehen.
500 Höhenmeter verlieren wir hinunter zur Gramai Alm (1263 m) und der Weg ist wieder recht abenteuerlich. Besonders dort, wo sich ein Wildbach in die Tiefe stürzt, der nur über ein angedübeltes Brett zu überqueren ist. Zum Glück mache ich mir erst Gedanken über die Situation, als ich schon drüber bin. Der Weg wird besser, ist nicht mehr ganz so steil und bei der Alm dann richtig bequem. Hier treffe ich auch Irene wieder, stoße mit einer köstlichen Heidelbeersuppe an und laufe weiter.
Ganz ohne Vorsatz kann ich mich für die Schmach am Berg revanchieren. Als Läufer, noch dazu als einer, der seine Körner nicht ganz verpulvert hat, ist man auf den letzten leicht abschüssigen 9 Kilometern durch das Falzthurntal den Marschierern natürlich überlegen. Auf den asphaltierten Abschnitten nehme ich sogar richtig Fahrt auf. Es könnte mir nämlich gelingen, in 9 Stunden das Ziel zu erreichen. Das wären 2 Stunden weniger, als vor 22 (!) Jahren.
Es macht Spaß, das Tal ist trotz der manchmal und dann auch nur schemenhaft zu sehenden Berge wunderschön. Wanderer und Spaziergänger sind unterwegs, klatschen und feuern uns an. Bei der Falzthurnalm gibt es noch einmal eine kleine Stärkung, dann geht es nonstop nach Pertisau.
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Mit Bändern und Werbebannern ist der Weg durch den Ort markiert. Aber wegen des Wetters gibt es keine Zuschauer und keine Stimmung. Das ganze Dilemma wird dann im Ziel sichtbar. Liebevoll hat man eine Festwirtschaft aufgebaut. Man läuft eine kleine Runde über eine Wiese und dann durch den Zielbogen. Aber außer dem tapferen Mädel mit der Medaille ist niemand zu sehen. Es ist nass, kalt und windig. Ich lasse mir eine Wärmefolie umlegen und verschwinde im Verpflegungszelt. Dorthin hat sich auch der Anton verzogen, der seit zwei Stunden im Ziel und natürlich längst geduscht und gekämmt ist. Ausgeruht übernimmt er meine Erstversorgung.
Dann wird es doch noch ganz urig und stimmungsvoll. In einem umgebauten Heuschober gibt es für die Finisher ein Geschenk und bei zünftiger Musik und Schuhplattler kann man sich erholen. Ich würde gerne noch auf Irene warten, aber mir wird kalt. Später sagt sie mir, ich hätte recht lange warten müssen, sie wäre noch tüchtig eingebrochen. So schlimm kann es nicht gewesen sein. Denn am Sonntagmorgen lese ich ihren Beitrag bereits in der Zeitung. Ihr Kollege, der Florian Madl, wurde übrigens Dritter (4:47). Er war auch zum ersten Mal „bei so was“ dabei.
So, jetzt seid Ihr dran.