Es tut schon weh, sich am heimischen Bildschirm die Fotos und begeisterten Berichte der Kollegen von diversen Veranstaltungen anschauen zu müssen und nicht selber dabei sein zu können: Jungfrau, Zermatt, Davos, Brixen Dolomiten, um nur einige der spektakulären Läufe im Hochgebirge zu nennen, finden ohne mich statt. Allerdings ist dieser Schmerz dank eines fetten Trostpflasters, das da Karwendelmarsch heißt, in diesem Jahr doch noch zu verarbeiten. Auch wenn die Anfahrt erneut deutlich mehr als unerheblich weit ist, bin ich nach einigen Jahren der Planung diesmal endlich mit von der Partie und freue mich auf einen phantastischen Lauf bei hoffentlich ähnlich traumhaftem Wetter wie im vergangenen Jahr. So sind Elke und ich wieder mal in freudiger Erregung auf das, was uns erwarten wird und hoffen auf eine schöne Urlaubswoche im Herz der Alpen.
Freitagabends schlagen wir in Pertisau am Achensee und damit am Ziel des morgigen Karwendellaufs auf. Alleine schon der Anblick des Sees, den wir in der kommenden Woche ausgiebig zu erkunden beabsichtigen, entschädigt für die vielen Stunden in der Blechlawine. Zeitig geht es in die Heia, um nach der Fahrt fit für morgen zu sein. Zeitig ist auch das Stichwort fürs Aufstehen, denn sehr früh müssen mein Freund Klaus, der mit seiner Barbara aus München gekommen ist, und ich aus den Federn, um den Bus zum Startort nach Scharnitz zu bekommen. Wobei früh ein sehr relativer Begriff ist: Klar ist 4 Uhr morgens eigentlich keine Zeit, samstags aktiv zu werden, aber der 4 Uhr-Bus ist tatsächlich schon der letztmögliche, andere sind schon um 2 bzw. 3 Uhr losgefahren.
Richtig Mut im Vorfeld macht einem eine Webseite mit der Adresse karwendelmarsch.at, hinter der sich glücklicherweise aber nicht die Veranstalter verbergen (die richtige hat „info“ als Top Level Domain). Auf ihrer Startseite bietet nämlich ein Bestattungsinstitut (Bestattungs“anstalt“) seine Dienste an: Man lässt uns die Wahl zwischen freier Ascheverwendung, Berg- oder Naturbestattung. Prost Mahlzeit, eigentlich wollte ich die Geschichte überleben! Nun gut, mit uns finden sich insgesamt rund zweieinhalbtausend mehr oder wenig freudig erregte Läufer und Wanderer ein, welche entweder die Bambinidistanz über 35 km oder die Erwachsenenversion über 52 km in Angriff nehmen. Bereits seit sechs Wochen ist die Veranstaltung restlos ausgebucht, wobei der Anteil der Wanderer mit knapp 1.800 deutlich über der der Läufer mit rund 700 liegt. Ursächlich hierfür ist wohl die Entstehung des Ereignisses, das schon immer vor allem eine Wanderung war, nach einer neunzehnjährigen Pause wie Phoenix aus der Asche auferstand. Seither hat der Laufen beim Karwendelmarsch mehr Bedeutung.
Eine gute Stunde dauert die Anfahrt zum „Tor ins Karwendel“ nach Scharnitz (964 m), wo vor über 3.000 Jahren die Menschen mit der Besiedlung und Nutzung des Karwendelgebirges begonnen hatten. Noch im 14. und 15. Jahrhundert galt für die Gegend von Partenkirchen bis fast Zirl die Bezeichnung „Scharnitzwald“ oder kurz „die Scharnitz“.
1.400 Seelen wohnen aktuell in der heutigen Gemeinde an der bayrisch-tiroler Grenze mit der Quelle der Isar, die später, leicht verbreitert, München passieren wird. Da werde ich sie in fünf Wochen bei meinem nächsten langen Lauf live bewundern dürfen. Klaus hatte dankenswerterweise auf seiner Anreise den Weg über Scharnitz genommen, daher haben wir unsere Startunterlagen bereits und es gibt keinen Grund, Hektik aufkommen zu lassen. Die Szenerie ist zwar noch stockdunkel, aber bereits wuselig aktiv. Wer nicht wie wir ein Lunchpaket mitbekommen hat, kann an mehreren Stationen seinen Hunger und Kaffeedurst stillen, es riecht bereits sehr lecker. Und auch für die nicht so leckeren Angelegenheiten ist bestens gesorgt, sodass wir um 6:00 Uhr völlig unbeschwert an der Startlinie stehen. Wir sind übrigens auch M4Y-Kollegen Greppi und Bernie, den die teilweise Wetterunbilden der vergangenen Jahre nicht von einem x-ten Start abgehalten haben. Irre, dass wir uns bei dieser Menge an Sportlern ohne Absprache treffen!
Los geht’s am Gemeindeplatz, 52 km mit 2.281 Höhenmetern liegen vor uns! Ich starte am Startbogen der mit roten Nummern versehenen Läufer, jedoch haben sich auch viele Marschierer mit blauen Nummern unter uns gemischt. Klaus und ich haben beschlossen, auf Gedeih und Verderb zusammenzulaufen, ganz nach dem Motto: Wir bleiben zusammen, bis dass der Berg uns scheidet. Mit von der Partie ist auch der Kufsteiner Günter, den wir auf einer Wanderwoche als begnadeten Berggeher kennengelernt haben und der als Marschierer startet. Er wird uns gnadenlos abziehen. Die Bergauf- und Bergabmeter sind für mich ein echtes Brett, wie ich zuletzt beim Trainingslauf auf dem Solinger Klingenpfad erleben durfte: 73,5 km mit 1.750 Höhenmetern standen auf dem Plan, nach der neunten von zwölf Kurzetappen war Ende im Gelände. Gut, 54,4 km und 1.400 HM waren schon ok, aber meiner Psyche hat der Abbruch nicht gutgetan. Das einzige, das mich für heute halbwegs beruhigt ist, dass der bajuwarische Klaus deutlich weniger Berge trainiert hat als ich.
Anzugsmäßig hatten wir uns jedenfalls auf alles eingestellt. Wenn heute eines klar ist, dann die Tatsache, dass mit dem Wetter im (vergleichsweise Hoch-)Gebirge nicht zu spaßen ist. Ich habe weder den Rennabbruch 2011 (mehr dazu in Bernies Bericht) noch die beiden Toten bei einem der letzten Zugspitz-Extrembergläufe vergessen, die allen Vorwarnungen zum Trotz nur mit leichter Laufbekleidung unterwegs waren, von einem brutalen Wetterumschwung überrascht wurden und starben. Daher sind wir beide erstmals aus Sicherheitsgründen mit Rucksäcken unterwegs und haben die Absicht, selbst wenn das im Gegensatz zu anderen, härteren Läufen nicht kontrolliert wird, eine Art Notfallausrüstung dabei: Laufjacke, Ärmlinge, Mütze, Handschuhe und auch ein Ganzkörperkondom, denn die hätten uns im Fall der Fälle wirklich wichtig werden können. Gerade letzteres hat mir mal beim Eisweinlauf (Ultra) gute Dienste geleistet. Sogar an Getränke und etwas zu beißen haben wir gedacht. Auch wenn das bei der angekündigten Verpflegungsdichte eigentlich nicht notwendig sein sollte, beruhigt es unsere Nerven, im Zweifelsfall jederzeit darauf zugreifen zu können. Die Wettervorhersage mit sicheren späteren 30° im Ziel und jetzt schon mindestens 15° am Start veranlasst uns in letzter Minute, die Vorsichtsmaßnahmen über Bord zu werfen und das meiste dem Gepäcktransport zum Ziel anzuvertrauen.
Los geht’s auf gut gefülltem Weg, wo man aufpassen muss, nicht von bestockten Kameraden an- oder gar aufgespießt zu werden, denn einige meinen die Gehhilfen bereits auf der ersten kleinen Steigung zu benötigen. So zieht sich das Feld auf den ersten km langsam auseinander und ich freue mich, von einigen lieben Laufkameraden bei meiner aufopferungsvollen Reportertätigkeit erkannt zu werden: Dirk ist als persönlicher Zugläufer da und auch Hansi und Jörg, regelmäßige Teilnehmer an meinem Wiedtal-Ultratrail (die fünfte Ausgabe am 01.04.2017) haben den Weg ins Karwendel gefunden. Den ersten Misserfolg ernte ich leider direkt, denn die Fotos der ersten Stunde kann ich „dank“ der Lichtverhältnisse direkt in die Tonne kloppen. Mist.