Ja, aber was will ich mich eigentlich beklagen, vor mir sehe ich so einen jungen Burschen, in dessen Haut ich noch viel weniger stecken möchte. Nur mit Shirt und kurzer Hose ist er unterwegs und er ist beileibe kein Ausnahmefall. Ich unterhalte mich mit Wolfram darüber. Es scheint, als sind die traurigen Vorfälle vom Zugspitz-Extremberglauf schon wieder von vielen vergessen. Meiner Meinung nach hätte jemand in diesem Aufzug nicht mehr die Bergüberquerung antreten dürfen. Heute erweist es sich wieder als richtig, die Berge nicht zu unterschätzen. Je höher wir klettern, umso kälter und ungemütlicher wird unser Unterfangen, die Landschaft gibt schon lange nichts mehr von ihrer Schönheit preis. Für uns geht es nur mehr darum, endlich oben anzukommen um abwärts wieder in schnellere Bewegungen zu geraten, um etwas aufzuwärmen. Dazu spüre ich heute meine Adduktoren beim Aufstieg immer intensiver.
Meine Hände sind trotz natürlich fast triefender Handschuhe nur noch ein Fremdkörper. Die Kamera habe ich längst in Plastikfolie fest verstaut, um sie vor dem Absaufen zu schützen. Als purer Glücksfall hat sich heute ein alter Filz-Trachtenhut von meinem Vater erwiesen. Ich habe ihn eigentlich nur gewählt, weil er so gut zu meinem Alpen-Outfit passt. Er ist vollkommen wasserdicht und hält meinen Kopf unglaublich warm, was ich mir von keiner anderen Kopfbedeckung heute hätte besser wünschen könnte. Da habe ich wieder was dazu gelernt, jetzt weiß ich, wieso die Bergler nicht ohne aus dem Haus gehen.
Plötzlich reißt mich ein Blitz und unmittelbar danach ein gewaltiger Donnerschlag aus der Lethargie. Das kann nicht mehr allzu weit von uns entfernt gewesen sein. Wir sind auf der Karte am Kopf des Adlers und der beißt heute zurück. Der Regen weicht Hagel- und Graupelschauern, wir müssen weiter, weiter und höher, immer unwirtlicher werden die Bedingungen. Aber es wird noch besser - kurz vor Überquerung unseres höchsten Punktes am Binssattel liegt Schnee, noch nicht hoch, aber nix wie weg von hier. Halt stopp, das muss ich dokumentieren. Trotz nicht mehr vorhandenem Fingergefühl packe ich noch die Kamera für zwei Beweisfotos aus.
Auch der Abstieg ist gefährlich und wirklich laufen lassen kann man’s nicht. Etwas besser wird’s trotzdem. Einige haben sich die goldene Rettungsdecke oder einen Müllbeutel um den Körper gewickelt und versuchen so ihr Glück. An der Gramaialm-Hochleger genehmige ich mir schnell eine warme Suppe und zwei Becher heißen Tee und weiter geht’s. Ich muss in Bewegung bleiben, mich fröstelts gewaltig, die feuchte Kleidung bereitet kein Vergnügen mehr. Und auch meine linken Adduktoren schmerzen immer mehr, ich kann kaum mehr meinen Oberschenkel anheben. Wenigstens geht es immer abwärts. Eine Wahrnehmung der Landschaft ist kaum mehr möglich, ich möchte einfach nur noch ins Ziel kommen.
Die nächste Aufwärmmöglichkeit bietet uns einige Kilometer später die Station an der Gramaialm. Je heißer, je besser das Getränk. Mich fröstelt, hab ich das schon erwähnt? Von Feuerwasser bin ich eigentlich kein Fan. Warum mir trotzdem „gibt’s an Schnaps?“ rausrutscht, muss wohl an dem zu erwartenden Brennen durch den Körper liegen. „Joa, moagst oan? Kommt wie aus der Pistole geschossen von der freundlichen Helferin und zaubert sofort eine Flasche hervor. Tut gut heute und weiter, in Bewegung bleiben. Günter und Wolfram sind mir jetzt beim Schnapseln enteilt. Aber der Regen bleibt mein Begleiter. Über Feldwege und Wiesen mit leichtem Gefälle führt der weitere Weg abwärts.
An der letzten Getränkestation Falzturnalm erfahre ich, dass die Veranstaltung abgebrochen wurde. Als der Regen zu Hagel und später sogar zu Schnee wurde, reagierten die Veranstalter und verlegten um gegen 14:00 Uhr das Ziel in die Eng. Hilft mir nix, ich hab noch 4 km. Schnell einen heißen Tee und weiter, mich friiiiiert’s. Der Schlussabschnitt führt fast kerzengerade auf einer Teerstraße nach Pertisau.
Kurz nach der Teepause sind meine Adduktorenprobleme zu groß, ich werde vom Karwendelläufer zum -marschierer. Laufen geht einfach nicht mehr und selbst gehen bereitet mir im langsamen Tempo ärgste Qualen. Aber stehenbleiben ist auch nicht drin, ich zittere wie ein Schlosshund. Meine Arme muss ich mit Gewalt steif halten um dem etwas Einhalt zu gebieten. Und das bei meinem 50. Langen Kanten. Bestünde jetzt irgendwo eine Ausstiegsmöglichkeit, dann wäre es vermutlich um mich geschehen. Dann gäbe es eine DNF. Die Schmerzen würden wahrscheinlich nach einer Pause wieder nachlassen, aber ich habe keine Chance, die vollkommen ausgefroren einzuhalten. So muss ich durchhalten bis Pertisau. Nach unendlich langen drei Kilometern komme ich nach 8 1/2 Std. ins Ziel. Über eine halbe Stunde nach Zielankunft zittere ich in trockenen Klamotten immer noch wie ein Parkinson Kranker. Mein 50. Marathon/Ultra wird mir wohl immer in Erinnerung bleiben.
Lange aufhalten will ich im Zielort nicht. Leider, so bekomme ich wenig vom Achensee zu sehen. Aber im Dauerregen ist es einfach kein gemütlicher Aufenthaltsort, ich bin froh als ich im warmen Bus sitze. Eine Stunde soll der Rücktransport nach Scharnitz dauern, daraus werden heute auf der überfüllten Inntalautobahn fast zwei. Ich habe aber nichts mehr mitbekommen, mir sind die Augen zugeklappt. Bei der Ankunft am Startort um 17 Uhr wache ich auf und die Sonne strahlt mir aus einem blauen Himmel über dem Karwendel entgegen …als ob nichts gewesen wäre. Sauerei!
Mit dem Karwendellauf habe ich noch ein Hühnchen zu rupfen, den Kampf werde ich sicher noch einmal ausfechten, dann aber bitte bei schönem Wetter. Trotz der erschwerten Bedingungen habe ich den Lauf nur in allerbester Erinnerung. Kurs, Landschaft und Verpflegung waren hervorragend. Auch wenn die Organisation von anderen einiges an Kritik einstecken musste. Nach dem für mich absolut gerechtfertigten Abbruch mussten viele Teilnehmer 3 – 4 Stunden warten, ehe sie aus der Eng zurücktransportiert werden konnten. Ich denke dennoch dass der Veranstalter auch hierfür das Beste gegeben hat, die geografisch schwierige Lage in der Eng und dazu der viele Urlaubsverkehr auf den Straßen machten es bestimmt nicht einfach, auf die Schnelle die Busse bereit zu stellen.