Die Nacht ist kurz. Start ist ja schon um 6.00 Uhr. Wer trotzdem ein Bett braucht, wird in Scharnitz nur schwer fündig. Es ist wie früher. Der Karwendelmarsch beschert der Gastronomie zum Sommerschluss noch einmal eine kleine Sonderkonjunktur. Um 4.00 Uhr in der Früh gehen in den Gasträumen und Pensionen die Lichter an, die ersten Anreisenden belegen die raren Parkplätze in der Nähe des Startplatzes, der bereits taghell erleuchtet ist. Die ersten Marschierer sieht man wenig später in der Nacht verschwinden. Inoffizieller Frühstart oder so ähnlich.
Viele Bekannte sind nicht hier. Der Karwendelmarsch ist noch ein Geheimtipp. Oder haben die Leute nicht mitgekommen, dass auch gelaufen wird? Werner Sonntag ist das erste Mal hier. Warum? „Na ja, ist doch ein Marsch!“ Für den 84jährigen jetzt das Richtige, früher eher nicht. „War doch aber immer schon auch ein Lauf.“ „Trotzdem.“
1969 fand der erste Karwendelmarsch statt. Die Distanz von mehr als 50 km war angesichts der über 2000 Höhenmeter gigantisch und es gab absolut kein Vorbild. Der Swissalpine, heute der Bergultra schlechthin, feiert erst 17 Jahre später Premiere. Markenzeichen des Marsches war die Karwendelgams, die als Hutnadel und Stoffaufnäher Jacken und Hüte zierte. Die Auszeichnung war für jeden Marschierer so was wie ein Ritterschlag. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich mir diesen „Hatscher“ zutraute und als ich endlich das erste Mal in Pertisau einmarschierte, war ich stolz wie sonst was. Es ist kein Zufall, dass ich die Auszeichnungen bis heute in Sichtweite aufbewahre. Sogar einige Karwendelmarsch-Ausgaben der Tiroler Tageszeitung, die man jedem Finisher nach Hause schickte, habe ich noch. Ich kriege eine Gänsehaut, wenn ich die Namenslisten lese. Viele gute Kameraden aus jener Zeit leben nicht mehr.
Wie viele andere Teilnehmer habe ich dem Marsch nachgetrauert, als er plötzlich aus „Umweltschutzgründen“ aus dem Terminkalender verschwand. Vor Jahren habe ich mit Michael Wanivenhaus, der den Tirol Speed Marathon organisierte, über eine Wiederbelebung gesprochen. Leider ist nichts daraus geworden. Dann hat Markus Tschoner, Tourismusdirektor der Olympiaregion Seefeld, den Karwendelmarsch wiederentdeckt und zusammen mit seinem Bruder Martin, Tourismusdirektor vom Achensee, im letzten Jahr neu aufgelegt.
Eine „Massenveranstaltung mit mehr als 4.000 Teilnehmern“, was der Karwendelmarsch ja mal war, soll es aber nicht mehr werden. Bei 2.500 Läufern und Marschierern soll die Obergrenze liegen, so die Vorstellungen. Dass nach 19jähriger (!!) Pause jetzt bereits 1.500 Anmeldungen zu verzeichnen sind, spricht dafür, dass das Limit schon bald erreicht sein wird.
Gerade machen sich die im Vergleich zu den Marschierern leicht bekleideten Läuferinnen und Läufer im für sie reservierten ersten Startblock bereit, da fängt der Regen an. Und wie. Der Sprecher meint dazu sinngemäß: „Wie vorhergesagt. Aber keine Angst, es bleibt nicht so. Es soll auch mal aufhören. Und in Pertisau soll sogar die Sonne scheinen.“ Wenn das so ist, dann nichts wie weg hier. Mit einem Böllerschuss werden wir in die Dunkelheit entlassen.
Es geht die gesperrte Dorfstraße entlang, links über die Isar, vorbei an den letzten Häusern und weiter fast eben durch Wiesen und schließlich durch den Wald hinauf zur Forststraße, die uns ins Karwendeltal bringt. Normalerweise ist dieser Weg ein erster Höhepunkt. Er verläuft mit einem kaum spürbaren Anstieg entlang des Karwendelbaches zwischen der Nördlichen und der Vomper Kette durch typischen Kiefern- und Lärchenwald, kleinen Lichtungen und Almwiesen. Ich erinnere mich, wie es einmal bei Vollmond fast taghell war und die Marschierer lange Schatten warfen. Der sich anschließende Sonnenaufgang bleibt ebenfalls unvergessen. Schön, dass ich diese Erinnerungen habe.