Statt auf die imposante Bergkulisse schauen wir in eine graue Nebelwand. Es ist still. Man hört den Regen und das Rauschen des Baches, das Geklapper von Stöcken und seine Schritte, sonst nichts. Schnell wird es heller und vor uns zeichnet sich tatsächlich so etwas wie eine Bergsilhouette ab. Knapp 10 Kilometer sind wir unterwegs, dann wird die erste Labestation bei der Larchetalm (1173 m) erreicht. Auch die weckt Erinnerungen. Ich sehe dampfende Kessel auf offenem Feuer vor mir, in denen zwei urige, bärtige Typen die hausgemachte Suppe zubereiten. Heute ist es nicht viel anders, nur dass die Töpfe auf einem Herd stehen. Aber die Kartoffelsuppe schmeckt wie sie heißt und verdankt das nicht irgendwelchen Geschmacksverstärkern, sondern ausgewählten Zutaten aus der Region. Das gehört zur Philosophie des Marsches. Deshalb gibt es auch keinen Pulver-, sondern Kräutertee, wie man ihn bestenfalls in der Bioecke der Drogerie bekommt. Gel oder Isogetränke sind verpönt.
Wir laufen noch ein ganzes Stück fast eben Tal einwärts, bevor es in lang gezogenen Serpentinen mit mäßiger Steigung hinauf zur Hochalm und dem Karwendelhaus (km 18, 1780 m) geht. Das Schutzhaus ist schon von weitem zu sehen. Früher begrüßte ein Trompeter die Läufer und Marschierer. Die Hütte ist schon über 100 Jahre alt und gehört dem Deutschen Alpenverein. Sie ist ein wichtiger Stützpunkt für Touren im Sommer und Winter. Vor ein paar Jahren hat man deshalb ein Winterhaus mit 24 Schlafplätzen errichtet.
Unterhalb der Hütte ist unsere zweite Verpflegungsstelle. Bergkäs‘, frisches Brot und Kräutertee. Ich könnte mich daran gewöhnen. Wasser gibt es natürlich auch, Apfelsaft und Gespritzten (Schorle) ebenso. Es regnet immer noch, ist jetzt aber egal. Kennt Ihr das? Solange man dagegen ankämpft und versucht, wenigstens ein Stückchen trocken zu halten, ist man am Hadern. Ist man dann nass bis auf die Haut, ist es gut. Ich stelle mich nicht einmal unter das Zeltdach.
Der weitere Weg führt uns durchs Untere Filztal und ist gut zu laufen. Fast 400 Höhenmeter verlieren bis zum Kleinen Ahornboden (1399 m). Dieses herrliche Fleckchen Erde ist weit über die Grenzen Tirols bekannt, obwohl (oder weil) keine Buslinie und keine Bergbahn es erschließt. Die uralten Ahornbäume geben der Alm den Namen.
Ohne die im Nebel verborgenen Berge ist es heute allerdings nur ein eingeschränkter Genuss. Zwangsläufig schaut man auf andere Dinge. Das Denkmal für Hermann von Barth zum Beispiel ist mir noch nie aufgefallen, obwohl es nicht sehr versteckt direkt am Weg steht. Von Barth gilt als Erschließer des Karwendel und hat 1870 im Alleingang 88 Gipfel erstiegen, darunter waren 12 Erstbesteigungen (Bikkarspitze, Lalidererspitze). Viele Wege, Hütten und Steige sind nach ihm benannt und sogar ein Berg: die Barthspitze, 2454 m, natürlich im Karwendel.
Auf unserem Weiterweg ist ein Bachbett zu überqueren. Es ist sehr breit, führt aber bestimmt nur im Frühjahr bei der Schneeschmelze nennenswert Wasser. Oder wenn es ein paar Tage regnet, wie jetzt. Ein Kunststück, hier mit trockenen Füßen rüber zu kommen. Aber wer hat heute trockene Füße? Also: Augen zu und durch.
Der Weg steigt an. Fast gespenstisch mutet die Szenerie an. Eine halbverfallene Almhütte im Nebel, Kuhglockengeläut, aber niemand zu sehen, kein Mensch, kein Tier. Der Weg wird steiler, macht eine Kurve, dann kommt die nächste Hütte. Es ist die Ladiz-Alpe (27 km, 1571 m). Der Himmel öffnet seine Schleusen noch ein wenig mehr. Der Tee tut gut, die Biokekse sind lecker, etwas Obst zum Dessert und weiter geht’s. Der Weg zur Falkenhütte (1846 m) ist steil und beschwerlich. 270 Höhenmeter verteilt auf 2 Kilometer. Auch die Falkenhütte gehört dem DAV und ist mit ihrer Lage an den senkrechten Lalidererwänden eine der schönsten im ganzen Karwendel.
Ich sagte ja bereits, es gibt Naturkost aus der Region. Bei der Falkenhütte wird nun schon zum wiederholten Mal ein spezielles Gebäck mit geheimnisvollen Zutaten angeboten. Es sieht unheimlich gesund aus, schmeckt aber trotzdem gut. Nüsse sind drin, mehr schmecke ich nicht raus und mehr verraten mir die Mädels auch nicht. Leider kann ich keine einstecken – wegen der Nässe.
Zunächst geht es auf einer wüsten Schotterpiste steil abwärts. Der weitere Weg unterhalb von Laliderer- und Dreizinkenspitze hinüber zum Hohljoch (1794 m) ist zwar schmal, aber bis auf den Schlussanstieg gut zu laufen. Mit fällt auf, dass trotz des schlechten Wetters viele Wanderer und Tourengeher unterwegs sind. Klaglos schleppen sie ihre Riesenrucksäcke. „Was macht ihr bei dem Sauwetter hier?“, will ich von einem Zweierteam wissen. „Siehst Du doch, Schwimmen!“ Ein Landsmann sagt’s, einer mit Humor.
Der kann einem auf dem Weg hinunter zur Engalm vergehen. Schon bei trockenem Wetter ist der nicht Jedermanns Sache. Heute sind die Steine rutschig, die Wege matschig und oft für das Wasser der einzige Abfluss. Der Bach ist der Weg. Die Rinnsale und kleinen Bäche, die den Weg queren, sind zu Sturzbächen geworden, die nur mit mutigen Sprüngen zu überwinden sind, immer darauf vertrauend, dass man auf dem für die Landung ausgewählte Stein nicht ausrutscht. Wer hier unsicher ist und kein gutes Schuhwerk (Trailschuhe) hat, verliert im günstigsten Fall sehr viel Zeit.