Dank einem Tag Sonderurlaub können wir Donnerstagabend direkt vom Büro aus unseren Kurztrip starten. Gegen 23:00 Uhr Ankunft im Boderhof in Leutasch. Hier empfängt uns herzlichst Hausherr Pietro und reißt mir gleich eine der Taschen aus der Hand, um sie in unser Zimmer zu wuchten. Ein urgemütlich hübsches Stübchen - genau was wir brauchen! Also noch kurz "Ankommen" in unserem Heim für dieses Wochenende und dann fix in die Federn.
Freitag erst mal Aufwachen ohne Wecker - welch ein Luxus! Dann ein Frühstück, das all unsere Erwartungen übertrifft und keine Wünsche offen lässt. Im Anschluss geht's noch mal zu einem kurzen, knackigen Weckruf auf die Haustür-Trails. Wir tanken sogar ein paar Sonnenstrahlen und -vielleicht viel wichtiger- haben einfach Spaß hoch und runter. Es läuft!
Nach einer schönen Dusche machen wir uns auf den Weg nach Scharnitz, um die Nachmeldung zu erledigen und die Startunterlagen einzusammeln. Geht alles schnell und unkompliziert. Auch die „Expo“ kostet nicht viel Zeit, da sie nur aus drei Ständen besteht. Dann also fix wieder zurück ... Auf die Couch. Herrlich! Nach dem Mischla werden die Lebensgeister mit einer Yoga-Session auf der grünen Wiese wieder geweckt und damit dem Körper noch mal etwas Stabilität und Kraft eingehaucht.
Aber bald meldet sich der Hunger - unser Carboloadingziel hatte ich schon am Donnerstagabend bei der Ankunft ausgespäht: Cavallino, der Italiener um die Ecke. Wir lassen uns Spaghetti und Gnocchi, Apfelstrudel und Tiramisu und zum krönenden Abschluss einen Aperol-Prosecco schmecken. Mit vollen Speichern geht's zurück in den Boderhof. Nebenbei verfolgen wir die ganze Zeit über "unsere UTMB-Jungs" und fiebern mit, sind gespannt. In Frankreich regnet es in Strömen ... Die Laufwetterprognose für uns sieht genauso aus. Also noch alle Sachen startklar machen, Ranzen packen und RacePlan schmieden:
1. Häppchen bis km 24:
Ein reichlicher Halbmarathon zum Warmwerden bis über den ersten Berg.
heißt: erst mal warmwackeln auf den ersten 10 km / die nächsten 8 km möglichst schonend rauf(laufen?) zum Karwendelhaus=TANKSTELLE / Downhillform checken auf den folgenden 6 km
2. Häppchen bis km 41:
Die Berge stürmen auf den nächsten 17 km …
heißt: Jetzt 7 km richtig rauf / gefolgt von 4 km Downhillaction >Heidelbeerschleim tanken auf der Engalm / und schließlich 5 km Finale RAUF bis zur Scharte
3. Häppchen bis km 52:
Jetzt nur noch 11 km heimlaufen (-rennen…?)
heißt: noch mal 3 Downhill-km genießen / auf den letzten 8 km geben, was noch irgendwie geht …
So der Plan, so weit so gut .
Nicht vergessen: Wecker stellen - um vier. Wir sind bereit, gut Nacht!
Er klingelt tatsächlich Punkt vier. Mitten im Traum. Ich stand grad auf einem Berg … glaub ich. Aber da wollen wir ja heute erst noch rauf. Also raus aus den Federn, fix ins Bad, rein in die Rennklamotte, ab zum Frühstück. Wir bekommen tatsächlich um halb fünf von Pietro noch mal alles serviert, was das Herz begehrt! Freue mich schon auf Sonntag, wenn wir das noch mal RICHTIG genießen können. Jetzt sind wir gedanklich abwechselnd in Frankreich oder schon beim Lauf... Also mit Kaffee in der Hand und Honigsemmel im Mund noch mal RacePlan studieren und dann aufi. In Scharnitz parken wir unser Auto an eine Scheunenwand. Mein Holger wählt die Schlange an der Gepäckabgabe, ich die am Damen-WC-Container. Es wird ernst:
5:43 Uhr: Regenjacke auspacken, anziehen - es regnet Bindfäden
5:53 Uhr: Treffen am vereinbarten Garagentor
5:54 Uhr: Startblock stürmen
5:56 Uhr: Vorstartprosecco
6:00 Uhr: STARTSCHUSS - Los geht's!
Erst mal ein Stück durch den Ort, aber bald schon auf Wirtschaftswegen den ersten Hang rauf, ca. 3km - gefühlt 10. "Ich denk, es geht flach los!?".
Dann wird es wirklich seichter. Morgendämmerung, die Wolken ziehen an den felsigen Bergwänden links und rechts von uns hinauf. Schön! Wir traben in einem flotten Tempo Richtung VP1, einige Herren fühlen sich von der Gegenwart einer Dame in ihrer Nähe sichtlich gestört. Ich lächele, freue mich über eine urige Alm und Kühe am Wegesrand. VP1 nach knapp 10km - gefühlt 5. "Holger, jetzt sind‘s nur noch 30 bis zu den letzten 12!" ...ein Grinsen von meiner Linken.
Jetzt wird‘s steiler. "Flach" steiler. Also laufbar – theoretisch:
Holger saust, ich schnaufe...
Holger saust weiter, ich kämpfe...
Holger saust weiter, ich keuche ...
Holger: Schulterblick ins Tal, ich … wandere.
… ich: „LAUF !!“
VP 2 nach 18 km – gefühlt 30. Perfekt positioniert kurz vor der Bergkuppe! Heißt: Tanken (lecker Tee, noch leckerere Nuss-Frucht-Kuchen Riegel), Kauen, Downhill-Turbo zünden. Yipieh, jetzt geht’s los! DownhillFormCheck bestanden! Noch keine Ahnung, wo im Rennen wir uns derzeit befinden, aber die beiden Ladies, die auf dem ekligen Anstieg vorhin vorbeigetrabt sind, haben wir eben wiedergetroffen… Schon laufen wir an VP3 bei km 24 ein – gefühlt km 5. Das erste Häppchen hat nach kurzer, zwischenzeitlicher Geschmacksverirrung geschmeckt. Ich freue mich auf die weiteren Gänge!
Wir traben also flott gemeinsam weiter – Waldwege, Forststraßen – nach Ulf Kühne „wellig bergab“, die ganze Zeit abwechselnd je durch starken Nieselregen oder leichte Schauer. Die traumhafte Berglandschaft ringsum lässt sich erahnen. Dann endlich „ein Berg“. Jetzt kommt mein Revier, ich freu mich: Kampfwandern hinauf in den Nebel bis zur Falkenhütte. VP 4 nach 30 km – gefühlt 15, Tee tanken und die Taschen voll TurboRiegel laden. Holger ist auch da – und weiter geht’s – bergab!
Am Wegesrand immer wieder Wanderer oder Zuschauer und schon mal ein kurzer Zuruf: „Platz 95, 96, … oder so. Und sechste Frau!“ Sechste Frau!? Geht das? Holla! Weiter! Wir lassen uns bergab trudeln: zuerst noch auf einem breiteren Forstweg, weiter unten auf netten, pitschnassen Trails. Das klappt spitze heut! Die Bergab-PS funktionieren! … Und: die Engalm lockt mit Heidelbeerschleim, darauf freue ich mich schon die ganze Zeit!
VP 5 bei km 36 - gefühlt 18. Ich sause über die Zwischenzeitmatte und schnappe mir eine herrlich warme Gemüsebrühe und zwei, drei Becher Heidelbeeren und … Holger? Im Downhill hatte ich die ganze Zeit über jemand hinter mir gehört und war felsenfest überzeugt und begeistert, dass dies mein Holger ist. Nun bin ich erschrocken und auf der Suche, schaue … und warte. Dann sehe ich die blaue Jacke! Gut. Naja – nicht ganz: Ausgerutscht, Krämpfe. Ok – was zu Essen/ Trinken schnappen, dann erst mal weiter, kurz wandern, dann gemütlich bis zum nächsten Berg traben – reinlaufen, so lang es geht und irgendwann wieder in den Kampfwandermodus wechseln und „ruffzu uff’n Barg!“
Ich bin in meinem Element und Ruckzuck an der Binsalm angekommen: VP 6 bei km 39 – gefühlt km 25 (Kopf und Beine sind sich nicht mehr einig!). Hier wartet eine unterhaltsame Horde Zuschauer, um die Läufer zu begrüßen und belustigen. Ich warte auf meinen Holger, um mir noch ein Küsschen abzuholen und dann Richtung Scharte weiter zu fegen.
In einer Gruppe in Sichtweite erspähe ich eine Gestalt mit schönen Beinen und Pferdeschwanz. Bei näherer Betrachtung und genauer Inspektion während des Überholvorgangs kann ich diese jedoch in die Kategorie „Ambitionierter österreichischer Bergsportathlet mit mir nicht bekannter Teamzugehörigkeit“ einordnen. Die Jungs hängen sich an mich dran, wir stiefeln den Berg rauf. Jetzt geht’s noch mal zur Sache! Hier oben weht ein frisches Lüftchen. Aber davon lasse ich mich nun nicht mehr ärgern, denn das Ziel ist schon in Sicht: Das Ziel von Häppchen zwei: Die Scharte. Der Hauptgang hat gemundet! Oben ein lauter Jubel-Jauchzer . Jetzt geht’s „heim“…
Die ersten Bergab-Meter nach der Kuppe laufen eher holprig. Naja, 800 HM waren es doch von der Engalm bis zur Scharte! Aber das letzte Häppchen beginnt ja gleich mit einer Tankstelle: VP 7 bei km 41 – gefühlt in den Beinen km 42, gefühlt im Kopf km 28. Riegel, Tee, Holundersaft – ab geht die Luzie … bzw. die Nolle. Ein kurzer Blick auf die Uhr: ca. 4:50h. OK – Sub6 wäre ein Traum – soll das echt gehen?
Ich saus‘ los. Das erste Stück ist noch recht technisch. Der „Andrea-Wechselschritt“ hat sich bisher gut bewährt, tut es auch jetzt. Die Trails münden schließlich erst auf sumpfig, schlammigen Wiesen (ich hab‘ Angst um meine Speedcross!), dann auf Forstwegen – hier, kurz vor der Gramaialm, sammle ich meinen neuen blauen Mitläufer ein. In diesem Moment ahne ich noch nicht, dass damit der Zielsprint beginnt! Dann das Schild: noch 9 km. Blick auf die Uhr: 5:05. OK – Sub6 wäre echt machbar!?
VP 8 bei km 44 – gefühlt 40 - wird zur Nebensache, nur fix ein Holundersaft. Wir rennen. Zwischendurch versuchen wir uns mit Smalltalk über Ultraläufe und Trailschuhe bei Laune zu halten. Jetzt wird jeder km am Wegesrand runtergezählt. Ich frage mich bei jedem Schild, was ich gerade tue, versuche einfach mitzuziehen, solange es geht.
VP 9 bei km 48 lassen wir links und rechts liegen - keine Zeit mehr mich zu fragen, wie ich mich gerade fühle… Kurz darauf machen wir unser Zielsprintduo zum –trio. Jetzt ist Jeder mal dran mit Ziehen, inzwischen auf der Straße. Und das funktioniert: die letzten 9 km in –für mich unglaublichen- 39 Minuten! Nach 5:44:58 springe ich als 5. Frau fassungslos begeistert über die Ziellinie in Pertisau am Aachensee. Ich bin überwältigt! Das letzte, dritte Häppchen war zunächst bitter – aber im Nachgang ein Genuss und unverzichtbar!
In eine Aludecke gewickelt (da pitschnass bis auf die Haut) und mit After-Race-Hefeweizen empfange ich kurz darauf meinen Holger und bin froh: auch bei ihm Sub6!
Nach kurzem CoolDown und Plündern des Zielbuffets schnappen wir uns unsere Taschen und wandern zum Duschen. Die sind herrlich warm und der Andrang überschaubar. Danach schauen wir noch mal am Zielbuffet vorbei, gönnen uns eine Massage (Autschm, aber im Startgeld enthalten) und holen unsere Finisher-Tüte (Flyer, Tiroler Steinöl Massage- und Fußbalsam, Dynafit-Stirnband). Hier und da noch ein Plausch mit bekannten Gesichtern oder neuen Bekanntschaften, ein paar Erinnerungsfotos, … so vergeht die Zeit bis zur Siegerehrung im Flug.
Ja, ich darf auf’s Treppchen: 2. AK! Das heißt, ich kann neben einem neuen, tollen Lauferlebnis in der Erinnerungsdatenbank und einer Finishermedaille mit Strasssteinchen, noch einen schicken Glaspokal, eine super praktische Dynafit Tasche (aus LKW-Plane, also wasserdicht … wie passend!!) und einen Karwendel Wanderführer mit nach Hause nehmen. Dankeschön!
Mit all unseren Utensilien bepackt schlendern wir nun zu den Shuttle-Bussen, die uns für 15EUR p. Pers. entspannt zurück nach Scharnitz bringen. Den zähen Verkehr (Stau?) auf der Autobahn verschlafen wir…
FAZIT:
Der Karwendelmarsch ist ein absolut empfehlenswertes Laufevent für Sportler, die Strecken mit recht hohem Anteil an laufbaren Passagen bevorzugen. Die Organisation ist familiär und liebevoll, ebenso die Verpflegungsstellen. Davon gibt es unterwegs absolut ausreichend, die Auswahl dort ist groß, es ist für jeden etwas dabei. Auf Eigenverpflegung könnte man ebenso verzichten, wie auf einen Rucksack (Regensachen!?).
„Geschmackssache“ sind die Stöcke: in den beiden Steilstücken können diese definitiv eine große Hilfe darstellen, in anderen Passagen eher hinderlich sein. Landschaftlich führt die Route durch eine absolut reizvolle Gegend. Selbst bei den diesjährigen, verregneten Bedingungen boten sich tolle Eindrücke und schöne Bilder. Ein echtes „Panoramaurteil“ kann ich mir leider nicht erlauben … Ein Grund wieder zu kommen.
Von Klaus Sobirey gibt es hier einen weiteren
Laufbericht mit vielen Bildern vom Karwendelmarsch