Als Getränk gibt es wieder Hollundersaft, Wasser und Tee. Während ich mich gemütlich stärke, habe ich ständig „Vitamine, Vitamine, Vitamine“ im Ohr. Ich suche nach der Ursache dieser Stimme. Ganz rechts unter dem letzten Schirm steht ein Helfer und bietet lautstark, mit einem übergroßen Messer bewaffnet, Apfel- und Bananenstücke an. Aufgrund der anderen Leckereien findet er nur wenig Abnehmer.
Mit einem Stück Apfel und einem Becher Hollundersaft setzte ich mich langsam wieder in Bewegung bis zum letzten Mülleimer. Hier nutze ich die Ruhe, trinke und esse gemütlich, während ich nochmals den Blick schweifen lasse. Das Fahrzeug der Bergwacht mit vier Helfern steht an der höchsten Stelle. Sie haben augenscheinlich nichts zu tun. Gut so! Es geht bergab. Ein grob geschotterter Wanderweg führt zu Tal.
Durch die großen Steine ist es sehr holprig und so versuchen alle eher am Rand zu laufen. Ich kann sowieso nicht so schnell – zu viel gegessen! Mit Erreichen der Baumgrenze wird es deutlich unwegsamer. Einmal knicke ich sogar um. Es ist nicht weiter schlimm, mahnt mich aber zur Vorsicht. Noch langsamer suche ich nach dem besten Weg. Ich überhole eine humpelnde Läuferin, die ebenfalls umgeknickt ist.
Eigentlich ist die Landschaft viel zu schön, um zu rennen. Der Nadelwald ist so licht, dass sich immer neue Aussichten bieten. Es lohnt sich aber auch einmal kurz stehen zu bleiben und zurück zu blicken. Das Massiv von Hochalmkreuz, Schlauchkarkopf und Hochjöchel ist zum Greifen nah. Liegt da nicht Schnee oberhalb des riesigen Geröllfeldes, an dessen Fuß wir entlang laufen? Über allem hängt das Gebimmel von Kuhglocken.
Immer weiter geht es hinunter. Ich halte Ausschau nach den ersten Ahornbäumen, die unser nächstes Ziel, den kleinen Ahornboden, anzeigen. Aber erst als schon die Almwiese in Sicht kommt, kann ich die Ahornriesen eindeutig erkennen. Hier stehen auch schon die Verpflegungszelte.
Ich kann unmöglich schon wieder etwas essen. Aber Trinken ist notwendig; mittlerweile ist es ganz schön warm geworden. Der Name „kleiner Ahornboden" dürfte von den alten Ahornbäumen herrühren, die hier wachsen. Es gibt noch den flächenmäßig größeren „Großen Ahornboden“ kurz vor der Eng. Die Schönheit des „kleinen“ steht dem „großen“ aber in nichts nach. Im Gegenteil: hierher kommen nur Besucher, die sich vorher auf den Berg hinauf „gekämpft" haben.
Warum sich auf dem jahrhundertelang als Weidefläche genutzten Gebiet dieser ausgedehnte Baumbestand entwickeln konnte, ist unklar. Möglicherweise führten Viehseuchen oder der Dreißigjährige Krieg dazu, dass der Talboden längere Zeit nicht beweidet wurde. Bergahorne werden rund 500 Jahre alt; viele der Bäume haben daher ihre naturgemäße Altersgrenze erreicht. Da die natürliche Verjüngung aufgrund veränderter Boden- und Wasserverhältnisse und durch die Beweidung durch Vieh und Wild nicht funktioniert, werden heute abgestorbene Bäume durch Neupflanzungen ersetzt. So pflanzt z.B. seit 2011 der Sieger des Karwendellaufs einen jungen Ahornbaum.
Am Denkmal des Karwendel-Entdeckers, Hermann von Barth, vorbei und über einen Steg geht es auf einem romantischen Singletrail weiter. Wir überqueren ein riesiges ausgetrocknetes Flussbett und setzen unseren Weg am gegenüberliegenden Ufer fort. Jetzt geht es wieder bergauf. Während der nächsten Kilometer haben wir ausgiebig Gelegenheit die Natur zu bewundern, die sich rechts und links des Weges ausbreitet. Obwohl wir uns im Wald befinden, grünt und blüht es. Je höher wir kommen, umso lichter stehen die Bäume. Großartige Ausblicke wechseln mit scheinbar nahen imposanten Felswänden.
Unser Trail biegt auf einen breiten Wanderweg ein.
Die Baumgrenze wird überschritten, die Ladizalm liegt vor uns. Glockengeläut liegt in der Luft und jetzt habe ich auch wieder Hunger. Aber hier ist keine Labestation vorgesehen. Ein Schild kündigt die Falkenhütte in 30 Minuten an. Also „labe“ ich mich vorerst an der schönen Landschaft. Vor mir im steilen Hang liegen Hütten, fast wie ein kleines Dorf. Einige sind bewohnt. Hier ist ein Paradies für Mensch und Kuh. Vor allem, wenn zu den Naturschönheiten heute noch sportliche Höchstleistungen geboten werden. Und so haben sich Bewohner und Kühe versammelt, um die Vorbeikommenden neugierig zu beäugen.
Der steile Weg hat den Vorteil, dass man schnell an Höhe gewinnt. Wobei Geschwindigkeit hier relativ ist. Aber es geht Schritt für Schritt hinauf. Vor uns türmt sich eine Wand aus Kühkarlspitze, nördlicher Sonnenspitze, Bockkarspitze und Laliderer Spitze, allesamt Zweieinhalbtausender. Wir biegen auf den Singletrail zur Falkenhütte ab. Noch kann man sie nur erahnen, aber die Richtung ist klar: nach oben. Hier ist Radfahren nicht erlaubt und ein Schild weist eindeutig darauf hin, dass der Wanderer auf dem Weg bleiben muss. Der Weg ist dafür professionell angelegt. Holzbohlen, als Treppen verbaut, erleichtern den steilen Anstieg. Irgendwann endet der Weg und man muss das letzte Stück kletternd zurücklegen. Das ist aber nicht weiter schlimm. Es macht sogar mehr Spaß, als das dauernde Steigen.
Und dann liegt sie tatsächlich vor uns: die Falkenhütte. Noch ein letzter steiler Anstieg und wir sind oben (1848 m). Das stattliche Schutzhaus des Alpenvereins ist für Bergsteiger ein ausgezeichneter Stützpunkt für mehrtägige Touren, beispielsweise längeren Karwendel-Durchquerungen. Darüber hinaus können auch Tagesgäste die Wegstrecke von der Eng zur Hütte bewältigen und nach einer Rast wieder am selben Tag absteigen. Vorrangig ist die Falkenhütte jedoch ein wichtiger Stützpunkt am Fernwanderweg Via Alpina, welcher im Karwendel von Scharnitz zum Achensee führt. Fritz Kostenzer und seine Familie betreuen im Sommer nun schon in zweiter Generation die 1922 erbaute Hütte. Mit seinen 28 Betten und 120 Lagern bietet es auch ausreichend Platz. Im Winter steht ein unverschlossener, beheizbarer Raum für Skitourengeher im Nebengebäude zur Verfügung. Ein Reparatur-Service für Fahrräder komplettiert das Angebot. Neuerdings gibt es sogar eine Akkuwechsel-Station für E-Bikes.
Die Verpflegungszelte sind auf der anderen Seite Richtung Laliderer Tal aufgebaut. Zu Füßen der bekannten Laliderer Kletterwände zu speisen hat etwas. Man kann hier nur von speisen reden: als Vorspeise gibt es eine Hafersuppe mit Gemüseeinlage. Als Hauptgang werden Schinken und Salami auf Tiroler Bauernbrot gereicht. Als Dessert kann eine Banane gewählt werden. Zum Abschluss noch Käse - kein Problem. Die bewährten Getränke gibt es selbstverständlich dazu.
Wir lassen es uns gut gehen. Die Bergwacht hält ein wachsames Auge auf die Schlemmerrunde. Sogar der Bergrettungshundenachwuchs ist schon dabei. Wobei der „Kleine“ wohl auch gerne eine Wurst hätte.
Weiter geht es jetzt bergab. Zunächst laufen wir direkt auf die imposante Laliderer Felswand zu. Am Spielissjoch verlassen wir die Hauptstrecke und gehen durch ein Weidegatter nach links. Der Trail könnte genauso das ausgetrocknete Bett eines Gebirgsbachs sein. Genauso steinig und zufällig verläuft der Weg. Dann führt die Strecke rechts am Hang entlang. Wir steigen über große Felsbrocken; hier haben die Wanderer mit ihrer Ausrüstung eindeutig Vorteile. Diese Felsbrocken sind Zeugen von Felsstürzen, die sich weiter oben ereignet haben. In dem hier vorherrschenden Kalksteingebirge gab es solche Felsstürze selbst in der Neuzeit.