Weil in der Au, im oberen Isartal um Scharnitz, der Germane Kérwentil einen Hof besaß, bekam das Gebiet den Namen Kerwéndelau. Die vom Hof aus befahrbare Alpe erhielt in Folge den Namen Karwéndl. Während die fachwissenschaftliche Rechtfertigung darunter nur das Karwendeltal bei Scharnitz verstand, wurde dieser Name von der damaligen Bevölkerung auf das gesamte Gebirge zwischen Seefeld und Achensee angewandt. Tiroler Bauern verwendeten 1774 Karwéndel erstmals als offiziellen Namen auf ihren regionalen Karten.
Servus aus Tirol und dem Karwendel. Für mich gibt es Läufe, die ich wegen bestimmter Umstände wie tolle Strecke, Schlechtwetter oder Verletzung unbedingt wiederholen muss. Dazu zählt auch der Lauf durch das Karwendelgebirge, wo im Vorjahr bei mir gleich alle drei Umstände zutrafen. Bei einem Wetter, an welchem man nicht einmal einen Hund vor die Türe jagen würde, konnte ich mich nach Dauerregen, Schnee, Blitz und Donner, dazu noch mit Adduktorenproblemen und halb erfroren gerade noch ins Ziel schleppen. Klar, dass ich das heuer gerade rücken muss. Hinzu kommt noch, dass uns die Schönheiten der Landschaft, wetterbedingt doch größtenteils verborgen blieben.
Den früheren Grenzübergang Mittenwald/Scharnitz werden ja viele aus Urlaubsfahrten in den Süden kennen. Nach zwei Stunden Anfahrt im Dauerregen treffe ich kurz nach 5 Uhr im Startort Scharnitz ein und hab so noch ein knappes Stündchen Zeit, um alle Vorbereitungen zum Start am Karwendelmarsch zu treffen. Wer an eine Übernachtung hier in der Region denkt, dem sei angeraten, dies rechtzeitig zu erledigen, ansonsten muss er es so machen wie ich. Urlaubszeit und Karwendelmarsch sorgen für belegte Gästezimmer, kurzfristig ist nur schwer noch was zu bekommen.
Ich kann es fast gar nicht glauben, hier ist es tatsächlich trocken und die Temperaturen sind recht angenehm. Aber die Wettervorhersage spricht von 99% Regenwahrscheinlichkeit. Was beim Karwendelmarsch seit der Neuauflage 2009 aber nicht wirklich ungewöhnlich ist. Alle drei vorherigen Auflagen waren reichlich mit Regen gesegnet. Die Sonne hat sich noch nicht ein einziges Mal, auch wenigstens abschnittsweise, blicken lassen. Wie die Prognose aussieht, wird die Serie halten. Daher ist bei mir Vollaustattung im Rucksack angesagt. Es ist alles drin, um einen mehrstündigen Regenlauf einigermaßen erträglich über die Bühne zu bringen und sogar zwischendrin einen kompletten Wechsel auf trockene Klamotten vornehmen zu können.
Vor dem Scharnitzer Gemeindehaus herrscht reger Betrieb, die längste Schlange hat sich naturgemäß vor der Startnummernabholung gebildet. Viele scheinen wie ich erst am Morgen angereist zu sein oder kommen jetzt mit dem Bustransfer vom Zielort Pertisau hier an. Neben der langen Warteschlange gibt es noch eine kurze, die ist für Besitzer eines eigenen Zeitmesschips, so ist das für mich schnell erledigt. Falls es sich noch nicht rumgesprochen hat, natürlich gibt es auch für unsereins, einen, mit ChampionChip gemessenen Karwendellauf. Rund 450 der über 1.300 angemeldeten Personen entfallen auf den Laufbewerb.
Zwanzig Minuten vor dem Start überkommt mich noch ein menschliches Bedürfnis. Dixis kann ich nirgendwo entdecken, auf Nachfrage schickt man mich ins Gebäude. Oh Schreck lass nach, bereits der Vorraum ist gerammelt voll, jetzt wird’s eng, um mein Geschäft pünktlich bis zum Start erledigen zu können. Zwei, wirklich nur 2 Toiletten je Männlein und Weiblein stehen für die ganze Ansammlung zur Verfügung. Minute um Minute verrinnt. Nur ganz langsam werden die Vordermänner weniger. Fünf Minuten vor 6 Uhr bin ich erst in den eigentlichen Toilettenraum vorgedrungen. Plötzlich wird‘s laut. Der Start ist das aber noch nicht, es kommt ein richtig kräftiger Duscher vom Himmel. Das macht es mir leichter, mich mit der Startverzögerung abzufinden. Irgendwann geht’s draußen dann richtig los. Zum ersten Mal in meiner Laufkarriere verbringe den Startschuss auf dem Locus. Die Schlange hinter mir hat sich beim Verlassen der Kabine aufgelöst, ob das mal bei einigen nicht in die Hose geht.
Erleichtert aber auch deutlich verspätet mache ich mich auf dem Weg zum Startbogen. Immerhin das Wasser-Intermezzo ist bereits wieder beendet. Die Läufer dürfen hier immer vor den Wanderern starten, sind natürlich längst über alle Berge. Hinter den letzten Nachzüglern der Marschierer kann ich meinen Lauf beginnen. Matten für eine Nettozeitmessung kann ich nicht entdecken, stelle mal meine Uhr auf Start. Aber mir ist es im Prinzip auch wurscht, die paar Minuten Verspätung sind mir nicht so wichtig. Hauptsache ich fühle mich jetzt wohl.
52 Kilometer mit knapp 2.300 Höhenmetern liegen vor uns. Dabei hält das Profil drei kräftige Auf- und Abstiege bereit. Das Ziel in Pertisau am Achensee muss man um spätestens 20 Uhr erreichen. Die Wanderklasse beschert auch uns Läufer das großzügige Zeitlimit. Mir bescheren die Wanderer aber heute auch einen Schlangenlinienlauf über diverse Kilometer. Viele sind mit Stöcken ausgerüstet, was es nicht einfacher macht. Diese dürfen offiziell auch wir Läufer benutzen, ich habe meine auch dabei, aber vorerst noch auf meinem Rucksack befestigt. Zwei Aufstiege möchte ich aber mit ihnen in Angriff nehmen.
Nach kurzem Ortsdurchlauf, dann vorbei am großen Parkplatz geht‘s rein ins Karwendeltal wo auch gleich ein erster kleiner Anstieg wartet. Der Vorteil, wenn man das Feld von hinten aufrollen muss: man trifft viele Leute. „Du bist der Bernie“, spricht mich Birgit Feller an. Sie ist auch hin und wieder Autorin auf m4y. Mit ihrem Mann Norbert hat sie eigentlich alles: Vier Kinder, ein schönes Haus und sie sind auch sonst zufrieden. Nur eines fehlt den beiden noch zum Glück: 100 Marathons und die sollen innerhalb 10 Jahren gelaufen werden. Ich wünsche dazu viel Erfolg und Gelingen. Die nächsten, auf die ich aufschließe, sind Biggi und Sascha. Die hab ich auch schon länger nicht mehr in südlichen Regionen getroffen. Immer gibt’s ein nettes Schwätzchen.
Trotz bedrohlicher Wolken gelange ich trockenen Fußes bis zur ersten Labestelle an der Larchetalm (km 9). Bis hier verläuft die Strecke auf einer Schotterstraße immer mäßig aufwärts, aber durchaus spürbar. Nach einem Becher warmen Kräutertee genehmige ich mir noch ein ganz besonderes Erfrischungsgetränk. In Handarbeit wird Hollundersirup von Bio-Bäuerinnen produziert und mit der richtigen Verdünnung als Hollersaft beim Karwendelmarsch serviert. Schmeckt wirklich vorzüglich, solltet ihr mal probieren.
Rechts über uns thront die Pleisenspitze (2.569 m), umgeben von dicken Wolken. Im Oktober 1951 machte Toni Gaugg in der Vorderkarhöhle mit einem ca. 8000 Jahre alten, noch sehr gut erhaltenem Skelett eines Elchkalbes einen bedeutenden Fund: Zwei Jahre später erfüllte er sich mit der Pleisenhütte einen Lebenstraum. Es gab seinerzeit noch keinen befestigten Weg hinauf und das Schlagen von Holz war aus Naturschutzgründen untersagt. So brachte der „Pleisen-Toni“ alle Baustoffe, die er nicht vor Ort fand, in Eigenregie zu Fuß hinauf. 1954 wurde sie fertig und gilt seit dieser Zeit als beliebtes Einkehrziel für Bergsteiger und Wanderer.
Immer dichter werden die Wolken und es kommt, wie‘s kommen muss, der Himmel öffnet seine Schleusen. Ohne Regenjacke macht das keinen Sinn. Ich bin ja voll ausgestattet und packe aus und mich ein. Plötzlich kommen mir Wolfram und Marita entgegen. Er hat die Schnauze voll und kehrt wieder um, möchte nicht das gleiche wie im Vorjahr erleben, wo wir viele Kilometer gemeinsam durch Blitz und Donner absolvierten. Für mich ist das nichts, schlimmer als das Wetter ist ein DNF.
Mit Günter erreiche ich den nächsten Wegbgleiter vom Vorjahr ein paar Kilometer weiter. Wir wollten ja eigentlich gemeinsam starten, aber da hat ja wie erwähnt mein Timing nicht gepasst. Wir sind beide positiv gestimmt und glauben heute noch an Sonne. Mit mal mehr, mal weniger Niederschlägen erreichen wir die nächste Verpflegungsstelle (km 19) unterhalb des Karwendelhauses. Hier gibt’s leckere warme Kartoffelsuppe, wie alles beim Karwendellauf vom Partner „Bio vom Berg“. Darunter verstehen sich rund 500 Tiroler Bio-Bauern, welche die Marke beliefern.