Irrungen und Wirrungen. Ich vertraue darauf, dass Eric weiß, wo es Flatterbänder braucht. Solche gibt es auch ganz zahlreich, was nötig ist. Einziger Anhaltspunkt, der sich mir im Moment zur ungefähren Orientierung ergibt, ist der steile Weg bergab im Steinernen Meer, einer Ansammlung von riesigen, bemoosten Steinblöcken – Verwitterungsmaterial von den darüber liegenden Felsen.
Links, rechts, rauf, runter, so geht es, manchmal auch in geänderter Reihenfolge. Die Wolkendecke des frühen Morgens hat der Sonne Platz gemacht, was insofern eine kleine Hilfe ist, dass ich orientierungsmäßig wenigstens in Sachen Himmelsrichtung nicht völlig verloren bin. Die Brücke hoch über meinem Kopf gibt mir dann ebenfalls einen Referenzpunkt. Wir winden uns den Hang entlang in diese Höhe, unter Baumstämmen hindurch und vor allem nicht geradeaus. 150 Meter wären es direkt auf die ehemalige Bahnlinie und den Beginn der Brücke. Die Flatterbänder und meine bisherige Einschätzung Erics machen aber deutlich, dass ein kurviger Umweg dorthin führt, und ich habe den Verdacht, dass die Abkürzung zu offensichtlich ist, um in Versuchung zu kommen, sie zu nehmen. Richtig getippt: Wenige Meter vor der Eisernen Brücke und der Einmündung der Abkürzung ist ein Kontrollposten…
Mit wechselnder Begleitung geht es weiter. Nach etwa 17 Kilometern sind unsere Blicke auf eine kleine Furt gerichtet. Wer will bei diesem trockenen Wetter wegen einer kleinen Unachtsamkeit auf zwei Streckenmetern schon einen Schuh voll Schlamm herausziehen? Wir meistern diese Stelle trockenen Fußes und übersehen, dass wir uns diese Mühe nicht hätten machen müssen. Die Flatterbänder hätten uns unmittelbar vor dieser Stelle rechts hoch gewiesen. Als weiter vorne Läufer von rechts auftauchen, wird uns der Fehler bewusst und wir haben die Mühe, wieder auf den richtigen Weg zu finden. Pech, dass keine Frau dabei war, dann wäre uns das erspart geblieben. Männer sind eben nicht zu Multitasking fähig. Auf die Markierung und die Bodenbeschaffenheit gleichzeitig Acht zu geben, liegt nicht drin.
Schilder wie „Ehemaliger Bahnhof Grügelborn“, „Weiselberg-Gipfeltour“ und „Saarland Rundwanderweg“ sind für mich die einzigen Indizien, wo auf der Landkarte mein jeweiliger Standort zu suchen wäre. „Steinerner Schrank“ und „Eulental“ sind Hinweise, dass die erste Verpflegungsstelle unmittelbar bevorsteht. Nach 24 Kilometern besteht die Möglichkeit, die Wasservorräte aufzufüllen, alles andere ist mitzuführen. Der Durst hält sich in Grenzen, Hunger verspüre ich noch keinen, also kann ich die Zeit dazu einsetzten, Fremdkörper aus den Schuhen zu angeln. Ein Traillauf ist eben kein städtischer Verwöhnmarathon, bei dem man alles hinterhergeworfen bekommt. Wenn man einen Teil der Ausrüstung vergisst, muss man sehen, wie man zurechtkommt. Bei mir ist es ein kleines, aber umso wichtigeres Accessoire: die Gamaschen. Diese Erfahrung prägt sich ein und wird mich vor meinen kommenden Trails daran denken lassen.
Wald, Wiesen, sanfte Hügel, mit diesem Wechsel der Szenerie geht es weiter. Bei Haupersweiler mit seiner Rundbogenbrücke der Ostertalbahn wird sogar die Zivilisation gestreift, allerdings nur in Form von Häusern. Deren Bewohner haben Wichtigeres zu tun, als ein paar Verrückten zuzuschauen oder sie gar noch in ihrem Tun zu unterstützen.
Am Rand mit bunten Blumen besetzte Getreidefelder vor der Wand eines ehemaligen Steinbruchs, mit Windrädern bestückte Hügelkuppen, Waldstücke mit morschen Holzbrücken und ein vermooster Grenzstein; die Abfolge der unterschiedlichen Eindrücke in der Landschaft ist rasant, dabei bin ich in gemäßigtem Tempo unterwegs. Der Uhr nach zu schließen sogar gemächlicher als gefühlt. Die Idylle eines weiteren Steinbruchs mit seinen Weihern trägt noch mehr zur Verlangsamung bei. Der Weg aus ihm heraus nochmals mehr, denn es ist einer, den vermutlich Eric erfunden hat. Anspruchsvoll und knackig.
Später sind die von der Trockenheit pickelhart gewordenen Grasnarben eine Herausforderung, die in ihrer Form unter der Vegetation nicht zu sehen, dafür umso deutlicher zu spüren sind. Bei Regenwetter hätten wir an dieser Stelle dafür eine matschige Grasrutschbahn. Was ist die bessere Alternative? Das frage ich mich auch beim Hochkraxeln auf die ehemalige Bahntrasse. Ein Seil bietet zwar Hilfe, ein Kampf ist es trotzdem. Die Aussicht, dass die erste, etwas kürzere, Schlaufe bald hinter mir liegt, macht es erträglicher.
Die Ankunft beim Sportheim ist unspektakulär, denn die Beachtung der Zuschauer gilt den Teilnehmenden der kürzeren Distanz. Schließlich sind die Ultras noch nicht mal in der Hälfte, während der Minitrail schon daran ist, Finisher hervorzubringen.
Zweite Schleife
Mit der Behauptung, dass ich mich frisch und munter auf die zweite Schlaufe aufmache, würde ich maßlos übertreiben. Das unrhythmische Laufen hat schon nach 41,5km Spuren in den Oberschenkeln hinterlassen. Meine Verpflegungsplanung war auch etwas oberflächlich. Während ich in der Sonne die Höhenmeter zum Wald über Reichweiler sammle, kämpfe ich gegen die unbändige Lust nach Cola, egal welcher Marke. Hauptsache braun, süß und mit Cola-Geschmack.
Die beiden Schilder am Wegrand kann ich voll unterschreiben: „Jeder Idiot kann einen Marathon laufen“ – „aber man muss ein besonderer Idiot sein, um einen Ultramarathon zu laufen“. Richtig, und so komme ich mir vor. Aber da muss ich durch. Jetzt schwächeln und im August den UTMB ins Ziel bringen zu wollen, das ist wie Feuer und Eis oder Säure und Base.
Mit den Höhenmetern geht es weiter wie gehabt und wie mit so manchem Sechser im Lotto: Wie gewonnen, so zerronnen. Lucky ist das egal. Auf seinen vier Pfoten zieht er nicht nur weiterhin ungestüm nach vorne, sondern zusätzlich noch nach links und rechts. Wenn er wüsste, dass er das alles Eric zu verdanken hat, könnte sich der im Ziel nicht davor retten für den Rest des Abends aus Dankbarkeit abgeschleckt zu werden. Ich bin auch „lucky“, obwohl mir die tierische Eleganz des tänzelnden Ganges abgeht. Ich treffe auf Dieter. Mit ihm war ich schon öfters gemeinsam unterwegs, und jedes Mal kamen wir beide ins Ziel, dann wird uns das heute auch gelingen!
Nach geschätzten Tausend weiteren Richtungsänderungen kommen wir zu einem geheimnisvollen Schild. „Beware of the chair“ steht da drauf. Während wir am Rätseln sind, was das zu bedeuten habe, taucht ein einsamer Gartenstuhl auf. Daneben stehen zwei Kästen Pils. Das dürfte Erics Geburtstagsüberraschung sein. Die ist ihm voll gelungen und bügelt meine unsorgfältige Verpflegungsplanung aus. Zusammen mit dem Salzgebäck aus dem Rucksack ergibt das eine rundum perfekte Diät.
Weiter geht es zwischen Reihen junger Bäume, die allesamt mit dem Maßband gepflanzt wurden. Wer diese Parade strammstehender preußischer Soldaten ohne Torkeln abnehmen kann, darf weiterlaufen…