Manche Lauferlebnisse entfalten ihre ganz eigene Magie. Eine Magie, die die Erinnerung prägt. Und einem das Gefühl vermittelt, unbedingt an jenen Ort des Erlebens zurückkehren zu müssen. Solch magische Aura umweht auch den Lavaredo Ultra Trail (LUT). Mein Kopf weiß zwar noch zu gut: Die 120 km durch die Bergwelt der Dolomiten waren 2015 für mich so etwas wie eine Grenzerfahrung. Doch primär bleibt das Gefühl: Läuferisch war das ein Traum. Allein schon der Sonnenaufgang hoch oben, am Fuße der Drei Zinnen …..
Das Manko solch langer Läufe (und natürlich ihr Reiz zugleich): Sie führen zwangsläufig durch die Nacht, in der die optischen Eindrücke ebenso zwangsläufig eingeschränkt sind. Große Teile der Nachtpassagen des LUT kann man aber auch bei Tag erleben, allerdings bei einem anderen Rennen: dem Cortina Trail. Auf 48 km mit 2.650 Höhenmetern bildet dieser Trail letztlich die ersten acht und die letzten 37 Kilometer des LUT ab. Und eben dieses Erlebnis will ich mir nicht entgehen lassen. 12 Stunden habe ich dafür Zeit.
Nicht glauben darf man, der Cortina Trail sei lediglich ein kleines „Anhängsel“ des großen LUT. Beide Läufe haben ein für einen Berglauf stolzes Teilnehmerlimit von mittlerweile 1.500. Innerhalb der gerade einmal zehntägigen „Pre-Registration“-Phase Anfang Dezember 2016 lagen für den Cortina-Trail 2.400 (!) Anmeldungen vor. Danach wurde gelost. Ihr seht schon: Erwähnter Magie erliege nicht nur ich.
Beim Vorstartspektakel sind beide Läufe vereint. In Cortina d'Ampezzos Stadio Olimpico del Ghiaccio, anno 1956 olympisches Eislaufstadion, treffen sich die Läufer zur Ausgabe der Startunterlagen. Der Check des Pflichtgepäcks ist auch beim Cortina Trail obligatorisch, ehe man zur Kür, dem Bummel durch die angeschlossene Trail-Messe schreiten darf. Beim Pasta-Fassen am Freitag ab 19 Uhr, wenn die Messe schließt, heißt es allerdings: „LUT-runners only“. Kulinarisch verpasst man bei der Pasta zwar nicht viel, aber schade ist es trotzdem, dass die „Trail-Runner“ hier außen vor bleiben, allein schon wegen der emotionalen Einstimmung, die der verlockende Blick durch die riesigen Glasfenster des Stadions in die umgebende, abendsonnenerleuchtete Bergwelt bietet. Selbst um diese Zeit zeigt das Thermometer noch stolze 28 Grad Cersius – zur Vorfreude gesellt sich da ein gewisses Gefühl der Mulmigkeit.
Vieles kommt mir bekannt vor und doch ist das Feeling ein anderes. Während es für die LUT-Starter schon wenige Stunden später, konkret um 23 Uhr in der Freitagnacht, ernst wird, startet der Cortina Trail als Dayrace erst um 8 Uhr am folgenden Morgen. Allerdings vom gleichen Ort aus. Und der ist etwa 800 Meter Fußweg vom Stadion entfernt, auf dem autofreien Corso Italia im Herzen Cortinas.
Auch wenn ich selbst (noch) nicht starte, so lasse ich mir den Nachtstart der LUTeraner nicht entgehen. Erinnerungen an 2015 werden wach. In gleißendes Scheinwerferlicht getaucht ist der Corso zu Füßen der trutzigen Parrocchiale SS. Filippo e Giacomo, Cortinas zentralem Kirchenbau. Wie damals jagt ein nicht enden wollender Wortschwall eines Startmoderatoren-Duos durch den Äther, nur ab und an unterbrochen von Musik, drängen sich die Läufer schon eine Dreiviertelstunde, bevor er los geht, dicht an dicht im Startkanal. Und natürlich, wie damals, gibt Ennio Morricones Western-Hymne „Ecstasy of Gold“ das finale Signal zum Start.
Mucksmäuschenstill ist es auf einmal. Wer dieses Startprozedere erlebt hat, vergisst das nie. Das ist Emotion pur. Kollektiv werden die letzten zehn Sekunden herunter gebrüllt, ehe sich der aufgeputschte Pulk der Laufabenteurer über den Corso ergießt und hinaus in die Einsamkeit der Nacht entschwindet. Eine Minute später ist der Spuk vorbei: Die Läufer sind weg, die Musik verebbt, es bleibt nur das gleißende Licht. Die Ruhe der Nacht senkt sich auch über das Stadtzentrum Cortinas. Ich nehme noch einen entspannten „Absacker“ in einer der Bars am Corso. Das hat auch was.
Mit der Nachtruhe ist es schon früh morgens wieder vorbei. Nun sind es die „Trailer“, die im Morgenlicht den Corso in Beschlag nehmen. Längst nicht so pathetisch-aufgeladen ist die Atmosphäre, auch wenn die Abläufe praktisch dieselben wie in der vergangenen Nacht sind. Schon eine halbe Stunde vor dem Start fühle ich mich, mittendrin im Startkanal, wie in einer Sardinenbüchse. 1.500 Starter, das hat schon City-Marathon-Dimensionen. Und man fragt sich, wie das auf einem bergtraildominierten Kurs funktionieren soll. Aber so viel vorweg: Es funktioniert. Zumindest weitestgehend.
Auch für uns gibt Morricone musikalisch das finale Signal, lässt uns für Momente in uns ruhen, bis uns der Countdown Beine macht. Marathonklassisch verzögert schiebt sich der Pulk dichtgedrängt gen Startlinie, um dann, wie von Zauberhand, spontan in Trab zu verfallen. Schnurgeradeaus geht es den Corso dahin, vorbei am uns klatschend und johlend verabschiedenden Zuschauerspalier.
Ehe ich mich versehe, haben wir das Stadtzentrum verlassen. Zunächst noch flach geht es weiter auf breitem Asphalt durch die nördlichen Außenbezirke Cortinas im Tal der Boite. Das Tempo ist hoch, das Feld noch dicht. Zur Linken türmt sich mächtig das Dreigestirn des Tofana-Massivs. Bis in 3.244 m Höhe streben die Tofanen, einer der bekanntesten Gebirgsstöcke der Dolomiten und sozusagen „Hausberg“ Cortinas, gen Himmel. Für unseren Lauf ist die Tofana das prägende Element schlechthin und wird von uns letztlich komplett, zunächst sozusagen hautnah, im weiteren Verlauf weiträumig umrundet.
Die ersten Steigungen fordern die Puste – und den Schweiß hält nichts mehr. So herrlich die Sonne vom blauen Himmel blitzt, so unerbittlich rasant steigt schon am Morgen die Hitze an. Mit dem Panorama ist es schnell vorbei, zumindest zugunsten von Schatten. Denn jenseits des Weilers Cadin wechseln wir vom Sträßlein aufs Weglein und tauchen ein in blickdichten Bergwald. Zwar nicht Stau, aber doch „stockenden Verkehr“ würde wohl ein Verkehrsfunk melden. Aber: So richtig eilig haben es die wenigsten. Denn die steilen Naturwege lassen uns von einem Moment zum anderen kollektiv zu Power-Walkern werden. Sie führen uns hinaus aus dem Valle de Boite, hinauf zu den kleinen Ghedina Seen, romantisch verträumt mitten im Wald gelegen.
Und weiter geht aufwärts. In langen Serpentinen schlängelt sich der Weg durch den Nadelwald höher und höher hinauf. Dicht an dicht schnaufen die Läufer, geben sich mit im Gestein klackernden Stöcken zusätzlich Schub. Wie heißt es so schön? Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Das muss als Motivation genügen.
Die Serpentinen laufen aus in einer langen abflachenden Geraden, die sich den bewaldeten Hang entlang windet. Jetzt darf ich erleben, was mir beim Nachtstart vor zwei Jahren entgangen ist: Einen herrlichen Blick hinab ins morgendunstige Tal, über Cortina hinweg auf den Sorapiss. In Laufrichtung reckt sich der Zacken des Col Rosa aus dem Wald. Immer näher rücken wir dem Fels. Direkt an seinem Fuß, nach etwa 8 km ist mit dem Posporcora Pass (1.750 m üNN) die erste, wenn auch niedrigste und leichteste Höhenhürde unseres Streckenkurses bewältigt. Bis hier her liefen durch die Nacht vor einigen Stunden auch die Starter des LUT und setzten ihren Weg ostwärts gen Tre Croci Pass, Misurinasee und Drei Zinnen fort.
Für uns geht es jenseits der Passhöhe in der Gegenrichtung, also westwärts weiter. Damit bleiben wir im Dunstkreis der Tofana, auch wenn man das auf dem nun steil über Wurzeln und Fels hinabführenden Pfad nicht so recht merkt. Konzentrieren muss man sich, damit nicht eine der Wurzeln zur Stolperfalle wird. Und aufpassen, dass einem nicht die Kamera aus der Tasche hüpft. So wie mir. Als ich es endlich bemerke, denke ich nur : Sch ….! Was tun? Als M4Y-Reporter ohne Kamera fühle ich mich praktisch nackt und so mache ich mich, den verwunderten bis belustigten Blicken der hinab galoppierenden Läufer ausgesetzt, auf die Suche. Ob ich sie überhaupt wiederfinde? Und wenn ja, in welchem Zustand? Mehr als konsterniert stapfe ich wieder hinauf, weiter und weiter. Fast will ich mich schon frustriert dem Schicksal ergeben, da sehe ich sie: Mitten im Schotter liegend, unbeschädigt. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Erleichtert reihe ich mich wieder ein in die Kolonne der Down-hill-runner. Die Kamera fest in der Hand haltend.
Letztlich ist dieses Wegstück das Einzige, das wir nicht mit den LUT-Startern teilen, sondern exklusiv belaufen. Bis auf 1.500 m üNN hinab führt uns der Weg, über einen kleinen Bergbach hinweg und hinein ins Tal der Travenanzes, dorthin, wo sich unser Kurs wieder mit dem der LUT-Läufer vereint. Nur haben die schon 83 km in den Knochen, wenn sie hier ankommen.
Sozusagen der Prolog ist geschafft, 10 km liegen hinter uns. Gut 800 Höhenmeter stehen auf dem Laufprogramm und in der Höhe folgt dann ein Zacken nach dem anderen. Die Entschädigung: Eine Dolomiten-Kulisse wie aus dem Bilderbuch.
Der Einstieg und unser Wegbegleiter für die nächsten Kilometer: Das Tal der Travenanzes. Mächtig eingegraben hat sich der Bergbach in die Felsenlandschaft. Eingekesselt ist das Tal durch die Cime di Furcia Rossa zur Rechten und den mächtigen Gebirgsstock der Tofane zur Linken. Nur wenige Kilometer Luftlinie trennen mich hier von Cortina. Doch dazwischen türmt sich der brachiale Riegel der Tofane bis auf über 3.200 Meter.
Unberührt, wild, wundervoll ist der Eindruck, den die Landschaft vermittelt. Bis weit in die Ferne lässt sich der Verlauf des Tals, unser Pfad und das Band der Läufer verfolgen, die sich am Horizont als kleine bunte Punkte verlieren. Im noch vielfach morgendlichen Schatten der mächtigen Felswände fällt das Laufen etwas leichter, zumal der Anstieg zumeist moderat ist. Wären da nicht die Läufer. Auf dem Singletrail stockt die Läuferkette an ausgesetzten Wegstellen immer wieder. Umso mehr Gelegenheit habe ich, meine wiedergewonnene Kamera zum Einsatz zu bringen.
Immer mehr verengt sich das Tal, höher und höher kommen wir hinauf. Kleine Wasserfälle überspülen eine finstere, höhlenübersähte Wand der Tofane. Direkt darunter laufen wir vorbei. Es ist kurz nach 10 Uhr, als ich die fast zu einem Rinnsal verkümmerte Travenanzes quere und in ein weites Hochtal trete. Ein kurviger Weg schlängelt sich zunächst durch ein Wäldchen niedriger Latschenkiefern, durchbrochen von sattgrünen Almmatten.
Doch damit ist ganz plötzlich Schluss. Vor mir liegt eine fast blendend weiße Steinwüste, durch die erneut ein Gebirgsbach mäandert. Ein Weg ist kaum erkennbar. Aber suchen muss man ihn nicht, sondern einfach nur dem Band der Läufer auf dem sich schier endlos hinziehenden weißen Steinestrom folgen. Ein geradezu weltentrücktes Bild bietet die Kulisse inmitten der unnahbaren Bergriesen. Das Belaufen des Gerölls ist alles andere als kommod. Zur Herausforderung wird, an mehreren Stellen den nicht ganz so schmalen Gebirgsbach queren zu müssen. Eine Furt gibt es nicht. So mancher rennt entschlossen einfach durch das Wasser. Die Mehrzahl sucht aber mit einem oder mehreren Sprüngen die fußbadfreie Lösung. Nicht jeder ist erfolgreich.
Kurz darauf verlassen wir das Geröllfeld und folgen dem sich durch die Hochgebirgsflora nun wieder stärker in die Höhe windenden Weg. Vor einer kleinen Schutzhütte inmitten der Bergeinsamkeit tummeln sich auffällig viele Läufer. Malga Travenanzes nennt sich der Punkt, den wir nach 16 km erreichen. Wasser können wir hier „nachtanken“, aber das ist auch alles, was es gibt. Vorausgesetzt, man schafft es, den einzigen vorhandenen Wasserschlauch in die Finger zu bekommen. Von der ersten richtigen Verpflegungsstation trennen uns noch immer sieben lange Kilometer. Trotzdem oder eher gerade deswegen gönnen sich die meisten eine kurze Auszeit.
Und weiter geht es in die Höhe. Immer felsiger und karger wird der Untergrund. Weit geöffnet war die Himmelsdusche auf dieser Passage vor zwei Jahren, heute bleibt uns das erspart. Dafür werden wir gegart, gegrillt, gebraten …. je nachdem, wie man das empfinden will. Ein kleiner Gebirgsbach mit kaltem, klarem Wasser bietet nicht nur mir willkommene Abkühlung. Aber dass der Schweiß in Strömen rinnt und die Energie raubt, kann auch er nicht verhindern.
Bis zuletzt bleibt die Passhöhe verborgen. Hinter jeder Steigung wartet verborgen schon die nächste. Als ich über mir aber dann ein leuchtend gelbes Kuppelzelt erspähe, weiß ich: Es ist geschafft. Zumindest für den Moment. Mitglieder der Bergrettung harren am Pass der Ankömmlinge und trotzen jedem Wetter. 2.331 m üNN hoch auf dem Pass Forcella Col de Bos stehend genieße ich die wundervolle Aussicht auf die magischen Bergzacken dies- wie jenseits des Passes.
Jenseits des Passes wird es leichter, nicht nur, weil es hinunter geht. Ein holpriger Pfad schlängelt sich durch die karge Felslandschaft. Im dunstigen Gegenlicht wirken die gestaffelt vor mir aufragenden, schroffen Bergstöcke noch unnahbarer als sie es ohnehin sind. Eine Gruppe besonders spitzer Felsnadeln gar nicht so weit weg fällt besonders ins Auge. Es sind die bis auf 2.361 m üNN aufragenden Cinque Torre, ein weiterer Touristenmagnet der Region. Die Erosion hat aus einem einst einzigen Felsblock dieses fast schon filigran wirkende Felsenkunstwerk gemeißelt. Nach seinen fünf Haupttürmen ist die gesamte Formation benannt. Und wie von einem gigantischen Balkon aus genieße ich aus luftiger Höhe einen überwältigen Blick darauf.
Der Pfad mündet in eine alte, schotterige Militärstraße, die sich in weiten Schwüngen in die Tiefe schraubt. Nicht nur mich motiviert die relativ sanft abfallende Piste, wieder einmal in längeren Trab zu verfallen. Aber ich weiß schon: Der Weg führt keineswegs gemütlich weiter bis zum ersten Läuferbuffet. Unvermittelt schwenkt der Kurs ab und lotst uns in Serpentinen zu Füßen einer Felswand wieder in die Höhe. In der Bruthitze ist das zu viel mich und ich fühle mich, als hätte jemand „den Stecker gezogen“. Im Schneckentempo schleppe ich mich unmotiviert dahin. Erst als ich tief unten im Tal mein Etappenziel erspähe, stimmt mich das zunehmend hoffnungsfroh.
Es ist 12:45 Uhr, als ich nach einem finalen steilen Zickzack-Pfad nach 24 km mit dem Rifugio Col Galina (2.064 m üNN) unweit des Falzarego-Passes die erste richtige Verpflegungsstelle erreiche. Sieben Stunden später war es, als ich 2015 hier war – da war ich aber besser drauf. Mit Lust stürmen die Läufer das Buffet: Suppe, Salami, Käse, Kuchen, Obst sind nur ein Ausschnitt des Gebotenen. Nicht wenige lassen sich erschöpft einfach in die Wiese fallen. Ich versuche mich mit einer Cola-Kur physisch wie psychisch wieder aufzupäppeln, unterlegt mit etwas Handfestem. Es hilft, zumindest für den Moment. Und ich weiß auch: Der Weg zur nächsten Versorgungsstation ist ein steiniger, im zweifachen Sinne.
Den Rucksack umgeschnallt stelle ich mich gedanklich darauf ein, dass die nächsten 400 Höhenmeter kein Pappenstiel sein werden. Der Streckenplan spricht eine deutliche Sprache. Noch recht harmlos beginnt die Etappe über einen wellig-morastigen Waldweg, doch der mündet schon bald in einen sich unerbittlich durch den Bergwald nach oben schlängelnden Pfad. Wohl dem, der mit Stockeinsatz für ein wenig mehr Vortrieb sorgen kann. Der zunächst noch dichte Wald lichtet sich und gibt den Blick frei auf die Bergattraktionen der Umgebung, vor allem die Cinque Torre zu unserer Linken, denen wir immer mehr auf Augenhöhe rücken. Direkt vor unserer Nase schiebt sich der Averau 2.649 m hoch in den Himmel. Ein ausgesetzter Pfad scheint über steile Felsstufen direkt bis zum Gipfelfuß zu führen. Aber die Passhöhe ist noch längst nicht erreicht und noch nicht einmal sichtbar. Einmal mehr ist ein gewisser Fatalismus gefragt, um angesichts der sich in immer neuen Varianten auftuenden Pfade und Klippen durch die Hochgebirgswelt nicht ständig zu fragen. Wann bin ich endlich oben?
Der Weg mündet schließlich in ein breites Schotterfeld, auch wegen des sommerruhenden Sessellifts unschwer als Skipiste erkennbar. 14:15 Uhr ist es, als ich nach 27 km mit dem exponiert liegenden Rifugio Averau (2.413 m üNN) den gleichnamigen Pass und damit den höchsten Punkt unseres heutigen Streckenkurses erreiche. Vor zwei Jahren war es nach 21 Uhr und damit kurz vor Einbruch der Nacht. Gespannt bin ich daher auf das, was mich optisch nun erwartet.
Ein herrlich kühler Wind fegt über die Passhöhe. Was allerdings keineswegs an der Tageszeit liegt, als an den finsteren Wolkenbänken, die sich von Süden her über den Bergen zusammen brauen und einen Wetterumschwung verheißen. Mir ist alles recht – Hauptsache, die Hitze lässt nach. Vor dem Rifugio wird außerplanmäßig süßer Tee ausgeschenkt. Herrlich. Eine gute Gelegenheit, sich Zeit für einen kleinen Break zu nehmen, bevor ich mich jenseits des Passes auf die durch die jetzt schneefreien Skipisten in die Tiefe führende Schotterpiste wage.
Harmlos wirken die kleinen Zacken, die laut Plan zwischen mir und dem nächsten Rifugio liegen. Die Realität ist jedoch eine andere. Schon die Schotterpiste ist eine echte Herausforderung, denn der erodierte Boden bietet kaum Grip. Etwas mehr Entspannung verheißt im Auslauf eine Naturstraße. Aber nur kurzzeitig: Schon werden wir auf einen Bergpfad gelotst. Ein Wegweiser weist das Ziel: Passo di Giau. Der Pfad hat es in sich. Den Anfang macht eine mal wieder grobe Steigung durch die Bergflanke des 2.574 m hohen Nuvolau. Aus der Ferne nett anzuschauen ist das lange, durch die Bergeinsamkeit dahin schleichende Läuferband. Und – dem Wind sei Dank - ist die Passage trotz Sonne weniger belastend als befürchtet. Im Auf und Ab setzt sich der Single Trail fort, um schließlich in eine wilde, wirre Felslandschaft zu münden. In der Nacht war der Streckenverlauf im Gesteinslabyrinth oft kaum auszumachen. Da tue ich mir jetzt am Tag sehr viel leichter, den Idealweg und -tritt durch den Fels zu finden. Und es macht eindeutig mehr Spaß, von Fels zu Fels zu springen.
Schließlich senkt sich der Weg ab in ein weites grünes Hochtal und mittendrin kann ich, nach 31 km, das Albergo und die Pavillons am Passo di Giau (2.236 m üNN) ausmachen. Um 14:45 Uhr laufe ich ein, gerade noch recht, um ein bequemes Polster für das Zeitlimit, das hier mit 15:30 Uhr gesetzt ist, zu haben. Eine gute Viertelstunde lasse ich Seele und Beine baumeln, das muss einfach sein. Natürlich helfe ich währenddessen eifrig beim Plündern des Buffets. Der Andrang ist weiterhin groß und die emsigen Helfer kommen kaum nach.
Die Bergkette hinter dem Pass erregt meine besondere Aufmerksamkeit. Denn ich weiß: Da muss ich nun durch bzw. hinüber. Beim besten Willen nicht erkennen kann ich allerdings, wie. In mäßigem Auf und Ab schlängelt sich der Pfad zunächst, ständig die Richtung wechselnd, über felsdurchsetzte Almen, sich langsam, aber sicher den unzugänglichen, fast senkrecht abfallenden Felswänden annähernd. Noch immer ist nicht auszumachen, wie der Durchstieg zu schaffen sein soll. Dann, auf einmal, sehe ich es. Es sind die stecknadelkopfwinzigen, bunten Punkte der Läufer, die am Horizont genau abstecken, welcher Kurs zu nehmen ist. Oje, denke ich nur. Denn dramatisch wirkt der Anstieg, zunächst in Serpentinen, dann schräg den Hang immer steiler hinauf bis zu dessen Oberkante, der Passhöhe Forcella Giau (2.360 m üNN) führend, die eingekeilt ist von den den Pass nochmals 300 m überragenden Wänden der Punta Giau und des Monte Cernera. Spannend war die Szenerie auch in der Nacht anno 2015. Ich erinnere mich noch gut: Zwar sah ich damals nicht, wo und wohin ich lief, wohl aber die imposante Kette der Stirnlampen im Hang, wie sie hoch über mir im nächtlichen Nirwana entschwand.
Auch wenn der Anstieg einmal mehr die Kräfte überaus strapaziert, so komme ich mit der kalkulierbaren Situation sehr viel besser zurecht als bei den früheren Pässen. Stoisch schiebe ich mich immer weiter nach oben. Über schräge Felsplatten führt das finale Stück, dann setzt das untrügliche Zeichen der nahenden Passhöhe ein: Der Wind. Der ist hier noch ein wenig intensiver und kühler als zuvor. Die Wolken haben uns mittlerweile erreicht, doch der Regen verschont uns einstweilen noch.
Ein ganz neues Laufgefühl erwartet uns jenseits des Passes: Überraschend moorig weiche und sanfte Wege führen uns, am Fuße der Bergkette des Lastoi de Formin entlang, in einer Hochebene durch grün triefende Wiesen. Nun ja, so ganz ohne Felseinlagen kommen wir auch hier nicht aus, aber die Wege laden zum entspannten Traben geradezu ein, auch wenn die Wegspur bisweilen tief ins Erdreich eingegraben ist. Der Abstieg in eine Senke hinab bereitet uns auf den nächsten Passanstieg vor. Aber ich weiß: Es ist für heute der letzte. Und auch keineswegs der schwerste.
Einem markanten Bergzacken entgegen führt der Weg gleichmäßig ansteigend hinauf zur Forcella Ambrizzola (2.277 m üNN). Gegenüber der Forcella Giau ist das ein Klacks. Ein herrliches Gefühl ist es, hier nach 36 km anzukommen. Nicht nur wegen der Gewissheit, das Kapitel Berganschnaufen für heute beenden zu können – immerhin 12 km liegen ja noch vor uns. Vor allem aber auch wegen des fantastischen Panoramas von der Passhöhe. Vor uns türmen sich zur Linken dolomiten-klassisch die Felsentürme des Croda da Lago (2.701 m üNN) vor dem schon hier sichtbaren Lago di Fedèra, unserem nächsten Zwischenziel. Zur Rechten blicken wir über tausend Meter tief hinab, ins Tal von Cortina, in dem die Ortsumrisse im Dunst verschwimmen, und auf die mächtigen 3000er-Riesen, den Monte Cristallo und den Sorapis, die es im Hintergrund überragen. Und wieder erinnere ich mich an 2005, als die Lichter der Stadt nach 108 km um 0:30 Uhr in meiner zweiten Nacht auf Tour mehr als nur ein Lichtblick für mich waren.
Einen scharfen Knick gen Norden macht der Kurs hier. Der Panoramablick auf Berg und Tal begleitet uns auf dem relativ bequemen Naturweg, der ohne große Abschweife geradewegs dem See entgegen führt. Hier, direkt beim Rifugio Croda da Lago (2.066 m üNN), idyllisch am Lago di Fedèra im dichten Bergwald gelegen, lockt ein drittes Mal üppige Verpflegung. Bar jeder Zeitambition lasse ich es mir erneut gut gehen. So lange, bis ich doch tatsächlich zu frösteln anfange. Denn die dunklen Wolken, kühler Wind und dumpfes Donnergrollen machen nun mehr als deutlich, dass das Schlechtwetter gedenkt, das Zepter zu übernehmen.
Und tatsächlich: Es fängt zu regnen an. Aber nur leicht. Und im Bergwald, der fast vollständig unser Laufrevier auf den finalen zehn Kilometern bildet, ist davon ohnehin wenig zu spüren. 850 Meter downhill hält die finale Etappe für uns bereit. Das klingt nach easy going, aber auch diese Etappe hat es zumindest partiell in sich.
Gleich das erste Wegstück, am Ufer des Lago di Fedèra entlang, ist das vielleicht schönste. Ansonsten sind optische Genüsse eher eine Rarität. Es passt der Spruch: Man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht. Der Weg: Ausgesetzt, wurzelig, aber da (noch) nicht nass, gut machbar. Deutlich einfacher wird es noch auf den Forstwegen. Ein besonderes Schmankerl hält jedoch eine Passage bereit, die uns auf einem versteckten, schmalen, moorig schwarzen Pfad durch den Wald lotst, dies allerdings teilweise dermaßen steil, dass ich wild rudernd um mein Gleichgewicht ringen muss. Wäre der Weg auch noch morastig gewesen, hätte ich gleich auf dem Hosenboden herunter rutschen können.
Die Kilometer ziehen sich und der Wald will kein Ende nehmen. Als ich endlich die Häuser Cortinas durch die Bäume spitzen sehen, sind wir schon nahe am Ort. Eine letzte Wiese ist zu queren, dann geht es auch schon auf Asphalt durch die südlichen Außenbezirke und schließlich über die rauschende Boite hinweg dem Stadtzentrum entgegen, direkt auf die finale Gerade entlang des Corso Italia.
So ruhig es zuvor war, so viel los ist nun hier. Die im Tal trotz Wolken noch lauen Temperaturen jenseits der 25 Grad C und das in zahlreichen Lokalen und Bars im Stadtzentrum gefeierte „Festa della Nazioni“ mögen dazu beigetragen haben, noch mehr Menschen als sonst auf die Straßen und damit auch an die Laufstrecke zu treiben. Jedenfalls darf ich mich über eine für einen Berglauf ungewöhnlich stimmungsvolle Zuschauerkulisse im Ziel freuen, die jeden der eintröpfelnden Finalisten noch mehr in seinem persönlichen Siegergefühl bestärkt.
Glücklich bin ich, es trotz der Hitze wohlbehalten ins Ziel geschafft zu haben. Glücklich aber auch, ein weiteres Mal einen der attraktivsten Bergläufe, die die Alpen zu bieten haben, erlebt haben zu dürfen. Ich denke, die Bilder (Kamera sei Dank!) sprechen für sich. Dass ausrechnet die Deutschen bei diesem Lauf, neben den Hongkong-Chinesen, eine absolute Minderheit bilden, kann ich eigentlich gar nicht nachvollziehen. Jedem, der die Berge und das Laufen liebt, sei gesagt: Lasse Dir diese Veranstaltung nicht entgehen. Schöner geht`s eigentlich nimmer.