Der Dürrensee bzw. Lago di Landro (1.406 m üNN) ist ein weiterer Ort, der alle Klischees der Dolomitenromantik erfüllt. Türkisfarben schimmert das Wasser, sandig verlandet sind die Ufer, saftig grün umringen ihn Wälder und mächtig türmt sich gen Norden das Cristallo-Massiv über dem See. Und: Hier ist für uns nun nach 60 km echte Halbzeit.
Als Läufer folgen wir dem Ostufer und treten hinter dem See ein in einen luftigen Nadelwald im Talboden. Ein schöner entspannender Naturpfad führt hindurch, der jedoch alsbald in eine neu angelegte breite Schotterstraße mündet. Die auf dieser Straße folgenden Kilometer bis Cimabanche sind die Einzigen, die ich im Nachhinein als ernüchternd bezeichnen würde. Denn auf diesen langsam ansteigenden Kilometern bin ich schutzlos der mittlerweile heiß vom Himmel brennenden Sonne ausgeliefert. Ich habe mir ja Sonne gewünscht – aber doch nicht so!
Nicht nur ich bin ziemlich erledigt, als ich nach nach 66,1 km um kurz nach 11 Uhr die Verpflegung am Posten Cimabanche erreiche. Auf der Wiese rund um die Pavillons fläzen ermattet die Läufer und versuchen wieder zu Kräften zu kommen und die krampfenden Beine zu beruhigen. Ich suche mir ein Schattenplätzchen auf einer Bank und tanke Cola.
Ich gehöre zu denen, für die Cola eine wahre läuferische Wunderdroge ist. Und sie wirkt auch dieses Mal. Zumindest fühle ich mich nach einem Viertelstündchen wieder richtig fit. Vielleicht liegt das aber auch daran, dass Petrus ein Einsehen hat und auf die Schnelle ein paar kühlende Wolken mit Sprühregen vorbei geschickt hat. Jedenfalls nehme ich guten Mutes den nächsten 2.000-Meter-Hügel in Angriff.
Wenig spannend geht es los. Durch dichten Nadelwald führt eine Forststraße beständig nach oben. Viel zu sehen gibt es nicht und auch das Läuferfeld hat sich sehr verflüchtigt. Nur und erst an den Verpflegungsstellen bekommt man eine Ahnung davon, dass durchaus eine Menge Leute unterwegs sind. Die Monotonie ändert sich jedoch zusehends in der Höhe. Eine romantische hochalpine Almlandschaft ist der Lohn der Mühen. Unser Pfad windet sich vorbei an wild wurzelnden Bäumen. Zur Rechten türmt sich die Croda Rossa bis in eine Höhe von 3.146 m. Die
Forcella Larosa auf 2.020 m üNN bildet den Scheitelpunkt und leitet einmal mehr einen serpentinenreichen, steilen Abstieg ein. Tief im Tal sehe ich von einer kleinen Hütte laute Musik empor schallen. Ich ahne schon: Da muss ich hin.
Das Berghaus Malga Ra Stua nach 75,4 km ist so etwas wie eine Schlüsselstelle des Laufs. 3.700 Höhenmeter sind bis hier her bewältigt und man muss sich entscheiden: Tue ich mir den großen herausfordernden „Brocken“, der nun folgt, noch an oder reicht es einfach? Nicht wenige sehen Zweiteres und füllen einen schon bereit stehenden Bus. Ich gebe zu: Malga Ra Stua als „Exit“ zu wählen habe auch ich mir schon lange vorher überlegt. Aber in diesem Moment ist das keine Frage mehr. Wenn nicht jetzt, wann dann … ich bleibe dabei, getreu dem Motto: Einfach mal schauen, wie weit ich komme. Und eile dem Buffet entgegen. Ausgesprochen chillig geht es hier zu. Voll ist die Wiese mit Läufern und Familienangehörigen, die hier ein Wiedersehen feiern. Im Hintergrund ertönt lässige Musik. Auch ich lasse mir Zeit, greife zu Deftigem wie Nudelsuppe, Salami und Käse: Und schlürfe ein kühles Bierchen. Herrlich.
Zwanzig Minuten Auszeit genehmige ich mir. Und doch fällt es mir nicht leicht, mich von diesem heimeligen Ort zu verabschieden. Aber es ist mittlerweile 13:40 Uhr, nurmehr knapp zwei Stunden vor dem Zeitlimit um 15,30 Uhr, und auf dieses Zeitpolster will ich nicht verzichten. „Downunder“ von Men at Work begleitet mich beim Aufbruch in den härtesten Teil der Herausforderung LUT. 20 km und viiiiele Höhenmeter sind es bis zur nächsten Futterstelle.
Zunächst einmal steil abwärts, im Sinne des Wortes über Stock und Stein, setzt sich der Pfad durch dichten Bergwald fort. Wahre Wurzelungetüme lauern als Stolperfallen. Wild rauschen kristallklare Bäche durch mehrere Schluchten. Und mit ihnen rauschen auch wir gen Tal. Nach einer Stunde erreiche ich den sonnenüberfluteten, topfebenen Talboden. Momente der Entspannung sind nach 80 km angesagt. Eine rustikale Wassertränke zieht die Vorbeilaufenden geradezu magisch zum Abfrischen an. Über eine Brücke queren wir die in einem breiten Bett dahinsprudelnde Travenanzes.
Und jetzt geht es ans Eingemachte. Die letzte große Bergpassage ist gleichzeitig auch die zackigste. Und das darf man wörtlich verstehen. Denn abgesehen von den 1.000 Höhenmetern, die man im ersten Schwung nehmen muss, erwarten einen in luftigen Höhen eine ganze Kette weiterer Zacken der Kategorie „klein, aber gemein“.
Das Travenanzes Tal bestimmt über viele Kilometer unseren Weg nach oben. Kräftig ansteigend, aber vergleichsweise gemütlich und auf breitem Naturweg geht es durch das zunächst noch breite, bewaldete Tal. Nur aus diffuser Ferne dringt das Rauschen des Gebirgsbachs an meine Ohren. Umso überraschter bin ich, als ich an der Ponte Outro unvermittelt in eine unglaublich schmale wie tiefe, wild zerklüftete Klamm blicke, durch deren Grund das Wasser tobt. Sind es 80 oder 100 Meter oder gar mehr? Schwer zu schätzen ist dieser Abgrund, aber ungemein beeindruckend ist die Szenerie. Nur wenig später gibt die Klamm über der Ponte dei Cadoris einen weiteres Mal eine spektakuläre Vorstellung.
Langsam lichtet sich die Bewaldung, die Berge zu beiden Seiten des Tales rücken näher: Rechts die Cime die Furcia Rossa, zur Linken der mächtige Gebirgsstock der Tofane. Das Dreigestirn der Tofane – nun habe ich es tatsächlich und auch noch gut bei Tag bis hierher geschaft. Nur wenige Kilometer Luftlinie trennen mich hier von Cortina. Doch dazwischen türmt sich der brachiale Riegel der Tofane bis auf über 3.200 Meter.
Die Travenanzes verlässt ihre Klamm und rauscht nun als „normaler“ Wildbach durch den Talgrund. Weit reicht der Blick hinein in das langgestreckte Tal. Unberührt, wild, wundervoll ist der Eindruck. Bis weit am Horzont kann ich den Verlauf des Bergpfades beobachten und einmal mehr die einsam darauf tanzenden Läuferpunkte. Die Sonne lässt immer wieder den Fels erstrahlen, aber drückt längst nicht mehr so sehr. Ohne Zweifel: Auch dieser Streckenabschnitt ist ein wahres Highlight des Kurses. Immer mehr verengt sich das Tal, höher und höher kommen wir hinauf. Kleine Wasserfälle überspülen eine finstere, höhlenübersähte Wand der Tofane.
Es ist gegen 16 Uhr, als ich die fast zu einem Rinnzahl verkümmerte Travenanzes quere und in ein weites Hochtal trete. Ein herrlicher Weg führt zunächst durch niedrigen Latschenkiefernbestand. Doch damit ist ganz plötzlich Schluss. Und vor uns liegt eine fast blendend weiße Steinwüste, durch die erneut ein Gebirgsbach mäandert. Kleine Fähnchen markieren den Weg, denn ein solcher ist kaum erkennbar. Bei Mittagssonne mag dieser Weg eine Tortur sein. Doch düstere Wolken am Himmel bringen Kühle, verheißen aber sonst wenig Gutes. Schier endlos zieht sich der weiße Steinestrom hin. Zur Herausforderung wird, als ich den nicht gar so schmalen Gebirgsbach queren muss. Eine Furt gibt es nicht und auch sonst ist eine ideale Stelle zum Queren nicht erkennbar. So mancher rennt entschlossen einfach durch das Wasser. Andere versuchen es über größere Steine, landen aber auch dabei im Nass. Ich wage schließlich den Megasprung und komme – lange Beine sei Dank – tatsächlich trockenen Fußes hinüber.
Kurz darauf verlassen wir das Geröllfeld und folgen dem sich durch die Hochgebirgsflora noch immer weiter in die Höhe windenden Weg. Leichter Sprühregen setzt ein und verstärkt sich zusehends. Eine kleine Hütte mit Vordach verheißt Rettung. Denn kurz darauf öffnet der Himmel so richtig seine Schleusen und flutet, begleitet von bösem Donnergrollen, den Talboden. Nur noh schemenhaft heben sich die Berge aus der Regenflut ab. Viel Platz ist nicht vor der Hütte und schnell wird es richtig eng. Ausschließlich Wasser können wir hier nachtanken, aber der Hüttenwart erbarmt sich unser und bringt einen großen Topf heißen Tee. Fröstelnd ziehe ich mir schnell wärmende Unterkleidung und die Regenjacke an.
Eine Regenpause nutze ich, um weiterzukommen. Doch wie „Pause“ schon ausdrückt, peitscht kurz darauf der Regen wieder vom Himmel und durchdringt jede ungeschützte Faser inklusive meiner Schuhe. Da hätte ich vorhin auch gleich durch das Wasser laufen können. Zu Fels und Höhe kommt nun noch ein weiteres Erschwerniskriterium. Matsch. Wohin ich auf den ausgesetzten Pfaden auch trete: Um eine ordentliche Packung Morast komme ich nicht umhin. Schnell haben meine Schuhe und Beine das wahre Cross-Outfit.
Dass das Wetter in den Bergen so rasant wechselt, kann ein Problem sein. Oder auch das Gegenteil. Denn auf einmal klart es wieder auf, ja selbst blaue Streifen dringen durch die Wolken. Und sogleich breitet sich die Hochgebirgskulisse wieder in ihrer ganzen grandiosen Schönheit aus. Immer felsiger und karger wird der Untergrund. Über mir erspähe ich ein leuchtend gelbes Kuppelzelt. Da weiß ich: Es ist geschafft. Zumindest für den Moment. Wie an jedem Pass harren Bergretter der Ankömmlinge und trotzen jedem Wetter. Auf 2.331 m üNN auf dem Pass Forcella Col de Bos stehend genieße ich in tiefen Zügen die wundervolle Aussicht auf die magischen Bergzacken dies-wie jenseits des Passes. Ja, es hat sich wahrlich gelohnt durchzuhalten.
Jenseits des Passes wird es leichter, nicht nur weil es hinunter geht. Ein holpriger Pfad schlängelt sich durch die karge Felslandschaft. Immer wieder halte ich inne, um das grandiose Rundumpanorama aufzusaugen. Geradezu mystisch wirkt die Landschaft auch dadurch, dass eine unheilschwangere graue Wolkenwand über ihr lauert. Doch ein erneuter Wetterumschwung bleibt aus.
Der Pfad mündet in eine alte Militärstraße, die sich in weiten Schwüngen in die Tiefe schraubt. Nicht nur mich motiviert die relativ sanft abfallende Piste, wieder einmal ein längeres Läufchen zu wagen. Schon wähne ich mich hoffnungsfroh in der Nähe des nächsten Versorgungspostens. Aber nichts da. Da keinerlei Kilometerschilder den zurückgelegten Weg anzeigen, kann man sich kräftig verschätzen. Und anstatt uns direttissma zum Buffet zu führen, schwenkt der Kurs unvermittelt ab und lotst uns in Serpentinen zu Füßen einer Felswand wieder in die Höhe. Zumindest einen Vorteil hat dies: Wir dürfen von hier aus erleben, wie die Abendsonne von Westen durch die Wolken bricht die Bergketten im Osten erleuchten lässt.
Eine sonnenbestrahlte Gruppe besonders spitzer Felsnadeln gar nicht so weit weg fällt mir besonders ins Auge. Es sind die berühmten, bis auf 2.361 m üNN aufragenden Cinque Torri, ein weiterer Touristenmagnet der Region. Die Erosion hat aus einem einst einzigen Felsblock dieses fast schon filigran wirkende Felsenkunstwerk gemeißelt. Nach seinen fünf Haupttürmen ist die gesamte Formation benannt. Und wie von einem gigantischen Balkon aus genießen wir aus luftiger Höhe einen überwältigen Blick darauf.
Dennoch froh bin ich auch, tief unten im Tal eine Hütte zu entdecken, die nur eines bedeuten konnte: Dort ist - endlich - unsere nächste Zwischenstation. Es ist 19:30, als ich nach 95 km und 4.950 Höhenmetern das Rifugio Col Galina (2.064 m üNN) unweit des bekannten Falzarego-Pass erreiche. Ich genieße in der Abendsonne die reichhaltige Verpflegung im Wissen: Bei der nächsten Station wird alles anders sein. Vor allem finster.
Ein wenig drängt es mich dann doch, will ich noch möglichst viel bei Tageslicht erleben. Den Rucksack umgeschnallt stelle ich mich gedanklich darauf ein, dass die nächsten 400 Höhenmeter kein Pappensteil sein werden. Der Streckenplan spricht eine deutliche Sprache. Noch recht harmlos beginnt die Etappe über einen holprig-morastigen Waldweg. Aber schon bald schiebe ich mich mit hartem Stockeinsatz Schritt für Schritt in kurzen Kurven steile Felsstufen empor. Der zunächst noch dichte Wald lichtet sich immer mehr. Ich bin wider Erwarten gut drauf. Gleichmäßig schnell und ohne Japsen schaffe ich es voranzuschreiten. Erst neben, dann hinter und schließlich gar unter mir blicke ich auf die Cinque Torre, während sich direkt vor mir der Averau 2.649 m hoch in den Himmel schiebt. Der Weg mündet in ein breites Schotterfeld, unschwer als Skipiste erkennbar. Kurz nach 21 Uhr ist es, als ich mit dem exponiert liegenden Rifugio Averau (2.413 m üNN) den gleichnamigen Pass erreiche.
Nicht nur die einbrechende Nacht verdüstert den Himmel. Ein kalter Wind fegt über die Passhöhe. Umso mehr freue ich mich, dass im Rifugio außerplanmäßig heißer, süßer Tee ausgeschenkt wird. Ich schieße letzte Fotos, bevor ich mich jenseits des Passes auf die durch die Skipisten in die Tiefe führende Schotterpiste wage. Der Regen kehrt zurück, nicht allzu heftig, aber kalten Wind mit sich bringend.
Und wieder einmal verschätze ich mich entfernungsmäßig. Ein kleiner Zacken liegt laut Plan noch zwischen mir und dem nächsten Rifugio. Die Realität ist jedoch eine andere. Von der Schotterpiste gelange ich auf einen Bergpfad, der es in sich hat. Das wohl bisher technisch anspruchsvollste Wegstück durch und über eine wilde, wirre Felslandschaft erwartet mich, ausgerechnet jetzt zur einbrechenden Nacht. Der Weg ist im Gesteinslabyrinth oft kaum auszumachen. Mit der Stirnlampe suche ich die reflektierenden Wegemarkierungen und muss gleichzeitig darauf achten, nicht einen Fehltritt zu tun. Konzentration ist gefragt. Und Ausdauer und Geduld.
Es ist schon etwa 22 Uhr, als ich ein fernes Licht in der Finsternis entdecke, das ausnahmsweise einmal nicht von einem umher irrenden Läufer stammt. Es sind die erleuchteten Pavillons am Passo di Giau (2.236 m üNN). 102,5 km und 5.550 Höhenmeter weist die Bilanz aus. Ein letztes Mal ist für diesen Punkt ein Zeitlimit gesetzt. Bis 24 Uhr muss man es bis hierher geschafft habe, wobei mir einer der freundlichen Helfer erklärt, dass man auch noch etwas länger aufhaben werde. Ich bin richtig platt, aber nicht nur ich. Matt und schlapp, oft stieren Blickes hängen die Läufer herum. Aber Aufhören, das geht jetzt gar nicht mehr. Doch die Motivation leidet erkennbar.
Die Welt der Bergzacken ist für uns noch längst nicht zu Ende. Noch immer stehen zwei Pässe, mit 2.360 m bzw. 2.300 m üNN bevor. Ich ergebe mich in mein Schicksal und stapfe in die Nacht. Mit zwei Spaniern bilde ich zeitweise ein Laufgespann und wechsele mich in der Spurensuche nach Reflektorbändern ab. Der Weg: Erneut ausgesetzt, felsig, anspruchsvoll, permanent richtungsändernd. Vor mir sehe ich eine Kette von Lichtlein einen imposanten nächtlichen Abhang empor ziehen. Oje, denke ich nur. Aber weiter denke ich nicht und schleppe mich wie alle anderen langsam nach oben. Ein kalter Wind signalisiert das Erreichen der Passhöhe Forcella Giau.
Überraschend weiche Wege durch nasstriefende Wiesen in einer Art Hochebene folgen jenseits des Passes. Weiterhin bleibt der Weg ausgesetzt und nicht einfach zu belaufen. Trotz der Nacht sind die Konturen der nahen Bergriesen auszumachen und ich kann mir zumindest vorstellen, bei Tag eine wundervolle Kulisse genießen zu dürfen. Der Lauf über Pass Nummer zwei gestaltet sich etwa moderater. Eine wahrhaft motivierendes Bild ist jedoch, als ich von der Passhöhe um 0:30 Uhr auf den Lichtersee Cortinas tief unter mir erblicke. Das Ziel – so nah und doch noch so fern.
Läuferisch fast ausgestorben ist das Rifugio Croda da Lago (2.066 m üNN) nach 110 km. Wirkliche Erleichterung, dass es vor hier nunmehr finale 9 km und 850 Meter downhill geht, ist nicht zu spüren. Ich schlürfe eine letzte Suppe und trinke einen letzten Tee. Dann packe auch ich sie an: Die letzte Etappe. Und wie sollte es anders sein: Die hat es durchaus in sich. Vor allem die ersten Kilometer. Denn die sind auf gleichermaßen steilen wie schlammig-rutschigen Wegen durch den Wald zu bewältigen. Die Stollen meiner Schuhe leisten wertvolle Hilfe, dennoch wird mein Gleichgewichtssinn nicht nur einmal ausgetestet.
Immer dicker fühlen sich meine Oberschenkel an. Fast schon eine Wohltat ist, als ich nach drei Kilometern endlich auf normale Forstwege gelange und powerwalkend meinen Weg durch den nächtlichen Wald fortsetzen kann. Aber die Kilometer ziehen und ziehen sich.
Nach 3:30 Uhr ist es, als ich endlich den Ortsrand Cortinas erreiche. Aus dem Ortszentrum sehe ich den hell erleuchteten Kirchturm empor ragen. Kein Laut dringt von dort nach außen. Um dorthin zu gelangen, muss ich erst einen weiten Bogen durch die menschen- wie autoleeren Straßen hinter mich bringen. An der nachtschlafenden Stimmung ändert sich auch nicht viel, als ich es endlich bis zum Corso Italia geschafft habe.
Zwei junge Japanerinnen beklatschen eifrig die Ankömmlinge, ein paar weitere Nachteulen warten im Ziel. Ansonsten umgibt mich einfach nur ….. Stille. So wirkt die Situation schon ein wenig irreal, als ich nach 28:49 Stunden erschöpft, aber innerlich ungemein glücklich durch den abgesperrten Zielkanal unter dem von Strahlern hell erleuchteten Zielbogen einlaufe. Mit mir kommen 750 und damit etwa zwei Drittel der 1.200 tatsächlich gestarteten LUT-Teilnehmer in diesem Jahr ins Ziel, davon allerdings nur 50 nach mir. Aber was soll es: Ich genieße die Situation, den stillen persönlichen Triumph, die tiefe innerliche Ruhe und hänge, einen warmen Zieltee schlürfend, den Erinnerungen nach, während weitere Läufer einsam eintröpfeln.
Ein wundervolles Laufabenteuer durch das Reich der Zacken liegt hinter mir. Dass dies so viele Läufer aus so vielen Ländern fasziniert und anlockt, wundert mich nicht. Und auch im nächsten Jahr zum zehnjährigen Jubiläum werden sich die Anmelder wieder um die Startplätze „schlagen“.
Eine letzte Herausforderung wartet noch. Denn will man ein vorbereitetes Nachtmahl oder seinen Kleiderbeutel haben, muss man noch einen nächtlichen Spaziergang zum Eisstadion unternehmen. Wenigstens gibt es für diesen knappen Kilometer aber kein Zeitlimit mehr.