Bendern. Die fürstliche Krone auf dem großen weißen und mit Luft gefüllten Startbogen bildet sozusagen das Tor in die alpine Welt. Eine Welt, die über Jahrhunderte als wild, unberechenbar und gefährlich galt.
Drohend waren die Naturgewalten - Nährboden für Geschichten und Sagen. Wer auf oder über die Berge musste, setzte sich erheblichen Gefahren aus - freiwillig ging keiner. Wer konnte damals schon ahnen, dass nur wenige Jahrzehnte später ein Phänomen seinen unabsehbaren Anfang nahm – nicht aus Mangel oder Not, sondern aus purer Laune.
Röbi, der weißhaarige Moderator, heißt alle sportlich Aktiven aus 23 Nationen zum 15. Jubiläums-Marathon in Liechtenstein herzlich willkommen. Wenn ich der Ausschreibung für den 15. LGT Alpin Marathon glauben schenken kann, in welcher mir „Fürstliche Lauferlebnisse“ versprochen werden und ein Bergmarathon, bei dem ich (fast) das ganze Land durchlaufen soll, dann habe ich doch wohl alles richtig gemacht.
Klingt im ersten Moment verrückt, ist es aber nicht, wenn man sich einmal eine Karte betrachtet. Liechtenstein ist das sechskleinste Land der Erde, die direkten Nachbarn sind Österreich und die Schweiz. Gerade einmal hundertsechzig Quadratkilometer misst das größtenteils von Bergen bedeckte Fürstenland. 24,6 Kilometer in der Länge und 12,4 Kilometer in der Breite. Alles in allem angenehme Ausmaße und Eigenschaften für eine Liechtensteinquerung. Aber leicht wird es mir nicht gemacht, denn die meiste Fläche des kleinen Landes ist ja wie gesagt von Bergen bedeckt.
Unter den 932 Läufern stehen acht heute bereits zum 15. Mal an der Startlinie. Auch der 1935 geborene und mindestens zehn Jahre jünger wirkende Roland Thommen ist wieder auf der Marathonstrecke dabei.
Mit einem Liechtensteiner Dialekt interviewt der Moderator die kleine Gruppe. Leider kann ich fast nichts verstehen. Warum sie noch nicht hier war, fragt er im Anschluss, und nun in einem für mich verständlichen hochdeutsch, die königliche Hoheit Erbprinzessin Sophie von und zu Liechtenstein. Und die schlanke sympathische Monarchin antwortet kurz und trocken: „Bislang hatte mich noch keiner gefragt.“ Otto Biedermann, CEO der LGT Bank erklärt, dass Ausdauer auch im Bankgeschäft wichtig sei. Die Läufer sind bereit, warten nur noch auf den Startschuss. Kurzerhand übernimmt ihre königliche Hoheit, Sophie, die Waffe.
Peng! Die Spitze, das sind die in den meist ganz extrem kurzen Hosen, liefert sich sofort ihr Wettrennen, als lägen nur fünf Kilometer vor ihnen. Ich, inmitten einer Karawane gemütlicher Läufer, mit längeren Hosenbeinen, folge ihr.
Noch sind es knapp zehn Kilometer bis ich zum ersten Anstieg gelange. Was soll mich schrecken? Ich denke an die Älpler, Bauern, Gämsenjäger. Da brauche ich schon einiges an Fantasie, um mir heute vorstellen zu können, welche Beschwernisse und Nöte einstmals die Menschen auf oder über die Berge trieb. Flach wie eine Flunder führt die Strecke erst auf der für den Verkehr gesperrten Schanner Landstraße und im Anschluss auf dem Rhein-Damm entlang. Der Alpenrhein wirkt, als hätte man darin Wäsche mit zu viel Kernseife gewaschen. Wie war das wohl, frage ich mich, als der Rhein hier noch nicht gebändigt war und zum reißenden Fluss wurde? Wenn nach Unwettern oder nach der großen Schneeschmelze im Frühjahr das Wasser und der Schlamm überquollen?
Mein Anfangstempo ist hoch, es ist schwül und schweißtreibend. Es pendelt bei 5:10 Minuten pro Kilometer. Das ist in Ordnung. Ich fühle mich gut und genau so hatte ich mir das vorgenommen. Auf den ersten Kilometern versuchen einen Zeitpuffer rauszulaufen, um dann gelassen in den ersten Anstieg zu gehen. Vor mir tragen Läufer die Shirts von „Hürtzler Bike“, „Finisher Zermatt Marathon“, gefolgt von Superman oder Zoro, aber wer weiß schon so genau wer darin steckt?
Ein weiterer Zermatt-Finisher überholt das Shirt, „kämpfa, kämpfa, chum“ und der Träger des gelben Speed-Bird-Shirts wehrt sich, überholt zu werden. Nun folge ich lange nur noch langweiligen einfarbigen Shirts. Ah da: „Röntgenlauf 2013“. Ich bin abgelenkt. Ein läuferisches Leichtgewicht in knapper Hose rast an mir vorbei. Der darf das, denke ich mir, denn der hatte wohl bloß den Startschuss verpasst. Jetzt will mich so ein Kerl in knielanger Schlapperhose und tätowiertem Arm, Motiv Herz und Krönchen, ebenfalls überholen. Ich wehre mich (kurz). Dann bemerke ich, dass es Marco Büchel ist. Unglaublich, er war bis eben hinter mir!
Genial, dass ich den ehemaligen Liechtensteiner Superstar des Skilaufes hier erleben kann. Er hat den Kopf gesenkt, dann schaut er rauf zum Berg. Was wohl gerade in ihm vorgeht, frage ich mich. In seinem Blog schrieb er erst kürzlich: „Warum habe ich mir in den Kopf gesetzt, diesen Alpin-Marathon zu laufen? Dabei hatte ich mir beim Zieleinlauf des New York-Marathons vor bald drei Jahren doch geschworen: Einmal und nie wieder“ und „Wettkämpfe habe ich in meinem Leben jedenfalls genügend absolviert“.
Da hat er recht. Neunzig Top-Ten-Platzierungen bei Weltcups, Weltmeisterschaften und bei Olympia. Dann erinnert er sich an seine Teilnahme im vergangenen Jahr beim LGT-Alpin-Halbmarathon Plus und dem guten Gefühl. Er schreibt von Anfängerfehlern in der Vorbereitung, von Schmerzen, Leistungsabfall und von mangelnder Freude. Nun läuft unbeirrt fort.
Liechtenstein muss wohl fußballbegeistert oder größenwahnsinnig sein, denke ich mir, als ich am Stadion von Vaduz vorbeilaufe. 5500 Einwohner hat die Landeshauptstadt, gönnen sich aber ein Stadion mit 6500 Plätzen. Selbstverständlich, dass es jetzt zur Fußballweltmeisterschaft im Stadtzentrum auch eine Großbildleinwand gibt. Am Ortseingang zeigt mir ein elektronisches Schild am Straßenrand, dass ich gerade 11 km/Std. laufe. Eigentlich zu schnell, aber für einen Strafzettel, Gott sei Dank, langsam genug. Rasch im Vorbeilaufen mein Tuch in den Brunnen getaucht.