Das Zauberwort der Motivation für ein regelmäßiges Lauftraining heißt „Abwechslung“. Deshalb breche ich immer mal wieder zu einem Abenteuerlauf auf, bei dem ich nicht so recht weiß, was auf mich zukommt.
Heute ist mein Ziel der Lusengipfel im Bayerischen Wald. Der Nationalpark Bayerischer Wald liegt quasi vor meiner Haustüre. Mit seiner urtümlichen, weil weitgehend sich selbst überlassenen Landschaft und den unzähligen Wanderwegen ist er ein ideales Trainingsgebiet für einen Trailrunner.
Bereits kurz nach sieben Uhr morgens parke ich in der Nähe des verschlafenen Örtchens Waldhäuser auf dem Waldrastplatz Fredenbrücke. Als ich aus dem Wagen steige, lässt mich die nur 11° Celsius kalte Bergluft leicht frösteln. Der Himmel zeigt sich wolkenverhangen und ich beschließe, meinen kleinen Laufrucksack auch noch mit einer Regenjacke zu bestücken.
Der Parkplatz liegt auf einer Höhe von 846 Metern über Normalnull. Bis zum Gipfel sind exakt 527 Höhenmeter zu überwinden. Aber ich weiß, die haben es in sich. Schließlich ist der Anstieg nur 4,7 Kilometer lang.
Da mir die für diese Jahreszeit ungewöhnliche Kälte zunehmend in die Glieder kriecht, schnalle ich schnell den Tornister um, starte den Laufcomputer und renne los.
Gleich neben dem Rastplatz führt mich eine kleine Holzbrücke über einen rauschenden Wildbach, die kleine Ohe, und schon bin ich auf dem Trail. Die nächsten zwei Kilometer führt ein schmaler Pfad über Felsen und Wurzeln beständig nach oben. Ich merke schnell die Anstrengung, nehme mir aber vor, so lange als nur irgend möglich im Laufschritt zu bleiben. Ich laufe betont langsam, will mir meine Kräfte einteilen. Wie eine Gämse springe ich oft von einem Stein zum nächsten, überquere Wurzeln und versuche Schlammlöchern auszuweichen.
Gestern hatte es den ganzen Tag geregnet, die Strecke ist nass und glitschig. Ich muss voll konzentriert laufen und kann es nicht einmal wagen, den Kopf zu heben, um nachzusehen, wo es lang geht. Das muss auch nicht sein, denn es gibt nur den einen Steig, der mich unweigerlich zum Ziel führen wird.
Neben mir fließt tosend das Wasser des romantischen Bergbaches ins Tal. Mein Atem geht heftig, die Lunge beginnt zu brennen. In den Unterschenkeln stellt sich ein leichtes Ziehen ein.
Dann erreiche ich das Trinkwasserreservoir, einen kleinen See mitten im Wald. Hier biegt meine Laufstrecke links ab, weg vom Wildbach, hin zu einer Schutzhütte. Der Anstieg zur Hütte ist so steil, dass ich zum ersten Mal in den Gehschritt verfalle. Nun wechseln sich Steilstücke und mäßig steile Abschnitte ab, so dass der Lauf nun zum Wechselspiel der Geschwindigkeiten gerät.
Als nächsten markanten Punkt passiere ich das Teufelsloch, eine tiefe enge Schlucht, die am Grund mit wilden Felstrümmern und Geröll übersät ist. Hier rauscht es oft ganz unheimlich, wie von einem Bergbach. Es ist aber weit und breit kein Wasser zu finden. In dem düsteren Wald, der es umgibt, wohnt, so heißt es, ein grässliches Ungeheuer. Angeblich ist es der Satan selber, so der Volksglaube.
Von hier geht es wieder extrem steil und glitschig durch den Wald hinauf zum ersten Aussichtspunkt. In diesem Bereich verläuft die Strecke durch ein Hochmoor und zeigt sich immer wieder durch Holzplanken befestigt. Es folgen sogar gut 500 Meter, auf denen ich nur auf einem Holzsteig laufe.
Ab dem Aussichtspunkt, den ich links liegen lasse, wird es flacher, so dass ich mich endlich während des Laufens etwas erholen kann. Der harte Anstieg macht mir sehr zu schaffen, mittlerweile schmerzen auch die Oberschenkel.
Ich komme an der „Glasarche“ vorbei, einer überdimensionalen Hand aus Holz, die ein fünf Meter langes Schiff aus grünem Glas hält. Sie wurde 2004 im Rahmen eines Kunstprojektes aus 480 Glasscheiben zusammengefügt und in einer riesigen Hand aus Eichenholz mitten im Nationalpark an der Wegkreuzung Böhmweg - Lusensommerweg platziert. Die Arche symbolisiert einen Rückzugsort der Natur, indem deren Eigenwert respektiert wird.
Ich widme diesem imposanten Kunstwerk im Vorbeilaufen nur einen kurzen Blick, da die Strecke hier einigermaßen eben verläuft und ich weiß, was noch kommt. Die „Himmelsleiter“ steht an!
Auf den letzten 100 Höhenmetern beginnt sie. Die Himmelsleiter mutet an wie eine von Riesenhand erschaffene Treppe, die über gewaltige übereinander gestapelte Felsen senkrecht nach oben zum Gipfel führt.
Ich kann das Gipfelkreuz schon von weitem sehen. Es thront inmitten eines Felsenmeeres, das den oberen Teil des Lusen bedeckt. Der Gipfel sieht aus wie die Glatze eines Mönches. Der mit Granit-Felsblöcken vollständig bedeckte Gipfelbereich wurde einer Sage nach vom Teufel über einem Goldschatz aufgetürmt. Tatsächlich ist der Felsgipfel eine geologische Sehenswürdigkeit, die den Lusen unverwechselbar macht.
Ab Beginn der Himmelsleiter ist an Laufen nicht mehr zu denken. Ich verfalle wieder in einen schnellen Gehschritt, wobei ich die Oberschenkel kräftig mit den Händen unterstütze. Dieser finale Abschnitt ist äußerst steil und die Höhenabstände der Felsenstufen wechseln unregelmäßig von 10 Zentimetern bis zu einem halben Meter. Ich gebe jedoch nicht auf, biete meine letzten Reserven auf und gelange unter größter Kraftanstrengung nach knapp 47 Minuten endlich am Gipfelkreuz an.
In den Wanderführern ist die Strecke mit einer Wanderdauer von 2,5 Stunden aufgeführt. Das macht mich direkt ein bisschen stolz. Ich lehne mich erschöpft aber überglücklich an das Holzkreuz auf dem 1373 Meter hoch gelegenen Gipfel und genieße die herrliche Aussicht.
Die Täler ringsum sind durchzogen von wabernden Wolkenseen, hier und dort brechen ein paar Sonnestrahlen durch die milchige Decke und werfen erfrischende Leuchtstreifen auf das satte Grün der Fichten. Ich drehe mich um und blicke hinunter auf den Weg, den ich gelaufen bin. Er zeichnet sich als schnurgerades Band zwischen einem Meer aus Überresten abgestorbener Nadelbäume ab, welches sich am Horizont im Nebelschaum verliert. Ich finde den Anblick sehr beeindruckend, zumal ich es eigentlich gar nicht fassen kann, dass ich diesen anspruchsvollen Weg so problemlos bewältigt habe.
Nachdem ich mich etwas gestärkt und ausreichend Fotos geschossen habe, mache ich mich auf den Rückweg. Ich laufe auf der anderen Seite den Berg hinunter, vorbei am Lusenschutzhaus, welches um diese Uhrzeit noch geschlossen ist, eine breite Fahrstraße hinunter, die mich nach zwei Kilometern zu einem Busparkplatz führt. Hier beginnt eine geteerte Straße, der ich jetzt folge.
Ich habe mich längst wieder erholt und das Bergablaufen geht mir leicht von den Beinen. Ich merke zwar, dass mir diese Belastung stark in die Oberschenkel fährt, aber ich fühle mich gut und lasse es einfach laufen.
Nach weiteren 6,8 Kilometern gelange ich wieder bei meinem Wagen an. Mittlerweile sind die Temperaturen auf etwa 14° angestiegen und ich beschließe, mir den Schweiß in der kleinen Ohe abzuwaschen. Da ich mich noch immer allein auf weiter Flur befinde, wage ich es und lege mich nackt wie Gott mich schuf in den Wildbach. Das ist nicht nur herrlich erfrischend, sondern eisig kalt. Hinterher wird mir jedoch wohlig warm.
Als ich mich auf den Heimweg mache, fühle ich mich zutiefst zufrieden. Ich bin stolz auf das Geleistete, wenngleich ich für 12 Kilometer Strecke auch geschlagene 1,5 Stunden unterwegs war. Aber es war ein tolles Erlebnis.