Ich gestehe: zum Ultraläufer fehlt mir die Gelassenheit. Meinen jährlichen Marathon versuche ich als bekennender Narr volle Kanne zu rennen; etwas anderes als ein M70-Podestplatz fühlt sich bei der geringen Zahl der Mitkombattanten wie eine Niederlage an. Ohne Wettkampfstress kann ich jedoch auch langsam laufen und liebe das entspannte Laufen in der Natur.
Durch die Pandemie-bedingte Absage des legendären Rennsteiglaufs kam das Angebot, RENNSTEIGLÄUFERatHOME zu werden, gerade recht. Vier km vor meiner Haustüre verläuft der Hessische Teil des Rennwegs von Leipzig nach Köln. Der Abschnitt von Biebertal bei Gießen nach Herborn ist 29 km lang, hat ein anspruchsvolles Höhenprofil und bietet als Pendelstrecke Raum für einen Marathon und mehr. Lauffreund Berthold, der für die 72 km von Eisenach nach Schmiedefeld gemeldet hatte, nahm die Idee, anstelle des Thüringer Rennsteigs den Hessischen Rennweg zu laufen, wohlwollend auf und bot an, bremsend und ziehend meine läuferische Hybris zu zähmen und mich in den bisher gemiedenen Ultrabereich zu begleiten.
Bertholds Ziel war es, etwa 58 km zu laufen. Meine Skepsis wischte er beiseite: „Wenn du langsam genug läufst, schaffst du das“. Ich war geneigt, ihm zu glauben. Berthold zählt noch zur arbeitenden Bevölkerung und gab den Termin am 22. Mai vor. Beim Wings for Life World Run am 3. Mai lief ich mal wieder zu schnell los. Das Catcher Car kam und kam nicht, nach 25 km zwickte die Wade und erst nachdem ich einen weiteren gehumpelten Kilometer wurde ich erlöst. Dickes Knie, keine langen Einheiten, die volle Strecke auf dem Rennweg eine Illusion. Ich würde Berthold die ersten 8 km von Biebertal zum Parkplatz auf der Hohensolmser Heide alleine laufen lassen und erst dort einsteigen und dann sehen was geht. Notfalls könnte ich bei einem der Verpflegungspunkte aussteigen und mit Rita, der Marketenderin, zurück fahren.
Die Wade zwickt nicht mehr, das Knie ist weitgehend abgeschwollen und tut nur noch beim langen Stehen ein bisschen weh, aber wir wollen ja laufen und nicht stehen. Ich finde mich kurz vor 9:00 am Treffpunkt ein. Rita ist bereits da und hat Campingtisch und Stühle aufgebaut und bereitet die erste Labestation für ihren Gatten vor. Der Parkplatz an der Landesstraße zwischen Wetzlar-Blasbach und Hohenahr-Hohensolms wurde früher als Fahrerlager eines Bergrennens für schnelle Autos und Motorräder genutzt und liegt 220 m über dem Startpunkt von Berthold, der bereits um 8:00 in Biebertal losgelaufen ist. Von hier aus hat man bei schönem Wetter eine tolle Sicht auf Hohensolms mit seiner Burg und über das Lahn-Dill-Bergland bis hin zum Siegerland.
Eine Reihe von Wanderwegen kreuzen hier die Straße. Der Rennweg ist mit einem gelben X markiert. Daneben kennzeichnet das gleiche grüne R, das auf dem thüringischen Rennsteig die Richtung vorgibt, den Thüringen-Rhein-Wanderweg. Einer grüne Welle auf weißem Grund folgt der 2-Burgen-Weg, eine Prämium Wanderschleife des Lahn-Dill-Bergland-Wegs. Das ist mein Revier, hier kenne ich mich aus, kenne tolle Single Trails, die ich Berthold gerne bei anderer Gelegenheit zeigen möchte.
Berthold bricht pünktlich aus dem Wald. Kurze Begrüßung, Auftanken, Rita macht Fotos von uns. Vor dem Lauf sehen Läufer vorzeigbar aus, hinterher nicht immer. Berthold ist Präsident des Lauftreffs Wetzlar. Er trägt sein rotes Dienstshirt. Ich bin Mitglied beim team-naunheim, einem anderen Wetzlarer Ausdauersportclub. Keine Konkurrenz, man mag sich und verträgt sich!
Wir laufen los. Von jetzt ab geht es fast ständig durch einen (noch) gesunden Mischwald. Wir durchqueren einen kleinen Windpark. Ich bin Genosse einer Genossenschaft, die die Dinger zum Teil betreibt und freue mich, wenn sie ihre Arbeit tun. Nach wenigen hundert Metern verläuft der Weg steil bergab und wir kommen auf die Großaltenstädter Heide. Die Trockenrasen stehen unter Naturschutz und werden extensiv weidewirtschaftlich genutzt. Der Blick nach Norden geht zur Burg Hohensolms, die heute eine Jugendburg der evangelischen Landeskirche ist. In östlicher Richtung schauen wir auf die Windräder zurück. An einer Schutzhütte steht eine jener Ruhebänke in Wellenform, wie sie so häufig am Lahn-Dill-Bergland an zu treffen sind.
Von der Schutzhütte aus biegt der Weg zunächst links ab in Richtung Oberlemp und nach 100 m wieder nach rechts nach Bermoll. Hier wird die Markierung lückenhaft und wir sind froh, dass wir uns auf die GPS-Info der Wanderseite „ich-geh-wandern.de“ verlassen können. Waldbaden soll gesund sein, also baden wir im Wald, der sich dazu hier ganz besonders eignet. Auf den Lichtungen blüht noch der Ginster. Weißdorn und gelegentliche riesige Rosskastanien setzen dem Ginstergelb ihre weiße Blütenpracht entgegen. Leicht bergauf streben wir dem Dörfchen Bermoll zu, wo der Rennweg, die Kreisstraße von Großaltenstädten nach Bermoll kreuzt. Wir verlassen für eine kurze Strecke den Rennweg und laufen auf der Straße bis zum Abzweig, der kurz vor dem Ort zum Naturdenkmal Bermoller Linde führt, um den hunderte Jahre alten Baumriesen zu besuchen.
In Bermoll geht der Weg am alten Baubestand vorbei durch eine eher fantasielose Wohnbebauung. Was bewegt Menschen dazu, ihre Vorgärten in unbegehbare Schotterwüsten zu verwandeln? Nach Überquerung der Straße die von Ehringshausen durch das Lemptal zum Aartelsee führt, tauchen wir wieder in die Wälder des Hörre genannten Vorgebirges des Westerwalds ein. Dass wir jetzt längere Zeit bergab laufen können, schmeckt Berthold so gar nicht. Schließlich müssen wir auf dem Rückweg wieder nach oben. Im Tal treffen wir mitten im Wald auf eine mehrere ha große Viehweide. Wenn es mein Karma einrichtet, dass ich als Rindvieh wieder geboren werden sollte, dann bitte hier! Der Berg ist gerecht, der Weg führt jetzt steil nach oben, aber steil bergab laufen möchte mein Laufkamerad nachher auch nicht so gerne.
Wir kommen ins Dörfchen Bellersdorf. Zwei Gaststätten, Pferdezucht, ein paar landwirtschaftliche Nebenerwerbsbetriebe, günstiges Bauland. Im schmucken Herrenhof in der Dorfmitte waren wir früher im Restaurant „Chez Bernard“ französisch essen. Bernard, von dem gemunkelt wurde, er sei ein Neffe von Beaucuse, war ein liebenswerter Gastgeber, der hervorragend kochte. Bedauerlicherweise musste er wegen Gästemangels aufgeben. Bei Schuppi ist nach dem Coronakoma der Biergarten wieder geöffnet. Das hat sich aber wohl noch nicht herum gesprochen. Die Bellersdorfer Gastronomie ist uns im Moment ohnehin egal, denn hinter dem Ort wartet Rita mit der Läuferverpflegung auf uns.
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Infos zum gelaufenen Abschnitt des Hessischen Rennwegs
Start und Ziel: Hallenbad Biebertal bei Gießen bzw. Bahnhof Herborn
Wendepunktstrecke
Streckenlänge markiert: 29 km einfache Strecke
gelaufene gesamte Strecke: 55 km, pos. Höhenuntersch. 1058 m,
Laufzeit: ca.6:40 mit Pausen
gelaufene verkürzte Strecke: 46,5 km, pos. Höhenuntersch. 854 m,
Laufzeit: 5:40 mit Pausen
Untergrund: überwiegend Waldwege teilweise geschottert, Asphalt ca 2 km
beim Durchlaufen von Ortschaften
Markierung: gelbes X , gute GPS-Info bei ich-geh-wandern.de
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Wir kommen an einem Hinweisschild vorbei, das ausweist, dass der Rennweg entlang der Landesgrenze zwischen Hessen Nassau und dem Königreich Preussen führt. Ein Teil der ehemaligen Landhege ist noch erhalten. Ganz in der Nähe der Verpflegungsstelle war zu Zeiten des kalten Krieges ein Munitionsdepot der US-Armee. Es hieß, dass auch Atomwaffen dort gelagert würden und es fanden regelmäßig Demonstrationen von Pazifisten statt, die auch von der Landbevölkerung unterstützt wurden. Dass Rita bei unserem Eintreffen strahlt, liegt aber wohl nicht an den nie von offizieller Seite bestätigten Kernwaffen, sondern daran, dass sie sich gerade mit zwei Freundinnen, die ihr bei ihrem Job helfen wollen, zum Frühstück niedergelassen hat. Würste, Käse und Brötchen sind für die Damen. Wir Läufer sind mit Bananen, Datteln, Salzgebäck und Rüblikuchen zufrieden. Ist wohl auch besser für den Läufermagen.
Beim Verlassen der Verpflegungsstation stellen wir fest, dass hier der Wanderweg Mittenaar 2010 Anschluss hat. Der soll eins meiner nächsten Laufprojekte werden. Der 30 km lange Rundwanderweg hat 2010 Höhenmeter und verbindet alle Ortsteile der Großgemeinde Mittenaar miteinander. Man kann in Mittelhessen durchaus Höhenmeter sammeln! Eine Holztafel gibt Auskunft zum Rennweg. Die Handels- und Heerstraße von Leipzig nach Köln wird in Herborn auf die Hohe Straße von Frankfurt nach Köln stoßen. Die Handelsstraßen machten nicht nur die Städte durch die sie führten wohlhabend, sondern auch den Adel, der von seinen Burgen aus seinen Anteil am Handelsgewinn der Kaufleute abgriff.
Unser Weg ist ab Bellersdorf vorbildlich markiert, was hier gar nicht so notwendig wäre, denn in diesem Teil der Hörre führt die Strecke kerzengerade durch den Wald. Drei km hinter Bellersdorf kommen wir an eine Wegkreuzung, wo der Weg von Ballersbach auf dem Höhenrücken zur Koppe führt. Der Berg bei Kölschhausen galt als der Hexentanzplatz, an dem sich die Hexen des Greifensteiner Landes mit Belzebub an den einschlägigen Hexenfeiertagen vergnügten. Die Bevölkerung mied die unheimliche Stätte bei Dunkelheit.
Mächtige Säulenbasaltformationen treten hier am Gipfel des kleinen Berges aus. Etwas weiter kommen wir am Drachenkreuz zu einem Hinweis auf den Westerwaldblick. Wäre er nicht völlig verwachsen, könnte man von hier aus die Burg Greifenstein mit ihren Doppeltürmen auf der anderen Seite der Dill erkennen. Mitte Mai findet hier der Greifenstein Berglauf statt, ein Lauf mit Kultcharakter für die mittelhessische Laufszene! Nach einer 2,5 km langen Einrollphase zwischen dem Start in Katzenfurt und Edingen folgt ein 2,8 km langer Anstieg zur Burg mit einer Höhendifferenz von 260 knackigen Metern. Der Zieleinlauf in die Höhenburg ist so spektakulär wie die Aussicht weit über das mittelhessische Bergland. Ein Besuch des im Bollwerk angesiedelten Glockenmuseums und der einzigartigen Doppelkirche der Burg lohnen sich.
Ein nicht enden wollender bergab führender Streckenabschnitt bringt uns schließlich an den Stadtrand von Herborn. Der Rennweg endet offiziell am Bahnhof. Berthold hat aber Rita an den Stadtrand bestellt und wir ersparen uns die knapp zwei km Pflastertreterei. Für Ortsfremde lohnt sich ein Besuch des Städtchens mit seinem mittelalterlichen Ortskern allemal. Hessisches Fachwerk vom Feinsten, verwinkelte Gässchen und viel Schieferfassaden kann man bewundern. Herborn war seit dem Ende des 16. Jahrhunderts Sitz einer Hohen Schule, die auf Drängen Wilhelms von Oranien von dessen Bruder dem Fürsten von Nassau Dillenburg gegründet wurde. Sie verfügte über hervorragende Gelehrte, erhielt aber nie das Promotionsrecht, wohl weil hier die calvinistische Theologie gelehrt wurde. Einer der bedeutendsten Schüler war Johann Amos Comenius. Der Landesherr gewährte seinen Studenten zwei warme Mahlzeiten und vier Liter Dünnbier am Tag.
Heute beherbergen die Gebäude ein Hotel mit Restaurant und jeder muss sein Bier selbst bezahlen. Die akademische Tradition wird mit einem protestantischen theologischen Seminar, das im Schloss, das über die Stadt wacht, untergebracht ist, fortgeführt.
Der Rückweg erfolgt auf dem gleichen Weg wie der Hinweg. Obwohl wir die Strecke schon kennen, entdecken wir Dinge neu, die uns vorher nicht aufgefallen sind, so dass keine Langeweile aufkommt. Die sich lange ziehenden Anstiege werden gegangen, wobei der Zweimetermann Berthold mit seinen langen Beinen im Vorteil ist und ich auf den Strecken, die ich laufen kann, seinen Vorsprung wieder einholen muss. Dass wir uns auf geschichtsträchtigem Boden befinden, verrät uns eine Tafel am Wegrand vor Bellersdorf, die auf Gräberfunde aus der Bandkeramikzeit hinweist. Darauf, dass wir uns in einer Gegend mit langer Bergbautradition befinden, weisen Relikte von Rennöfen aus der Zeit von 1000 a D hin.
Unseren vorletzten Versorgungspunkt erreichen wir in der geplanten Zeit. Auf unsere Damen ist Verlass! Die Ruhepause hier fällt länger aus als die vorherigen. In Schuppis Biergarten in Bellersdorf haben sich zwei Radlerinnen eingefunden und trinken wahrscheinlich Radler. In Bermoll versuchen wir das Neubauviertel zu umgehen. Das alte Dorf mit seinem Kirchlein und den Fachwerkhofreiten hat durchaus Charme. Es gibt sogar Ecken mit Brennnesseln und Wegerich. Ein Augentrost im Vergleich zu den Geröllwüstenvorgärten.
Der Weg von der Großaltenstädter Heide zur letzten Labestation auf der Hohensolmser Heide mit seinen steilen 100 m verbrennt die letzten Energiereserven. Die Damen vermeiden rücksichtsvoll Kommentare zu unserem physischen Zustand. Erst im Ziel berichten sie, wie alt wir hier ausgesehen haben. Obwohl die Speicher leer sind, fällt die Nahrungsaufnahme schwer. Wir wissen es zu schätzen, dass die Zeit bei unserem Lauf keine Rolle spielt. Nach 10 Minuten Pause sind wir soweit regeneriert, dass wir die letzten 8 km in Angriff nehmen können.
Wir laufen zunächst auf einem ebenen Grasweg unterhalb des Altenbergs. Am Altenberg sind noch Ringwallanlagen der Vorgängerburg von Hohensolms. Der Legende nach soll es einen unterirdischen Verbindungsgang zwischen den beiden 2 km entfernt liegenden Burgen geben. Nachgewiesen wurde der jedoch nie. Stollen, Gruben und Verhüttungsstätten gibt es dagegen reichlich.
Weiter geht es bergab. Linker Hand liegt der malerische Ort Königsberg mit einem Schlösschen und einem hübschen Dorfkirchlein. Etwas weiter kommt der 498 m hohe Dünsberg, der Hausberg des Gleiberger Landes, ins Blickfeld. Der erloschene Vulkankegel war einst ein bedeutendes keltisches Opidum. Muss man erwähnen, dass auch am Dünsberg in jedem seuchenfreien Jahr ein toller Berglauf ausgetragen wird?
Wir kommen zum Bleidenberg und durchlaufen leicht ansteigend eine zu Königsberg gehörende, permanent bewohnte, „Wochenendsiedlung“. Wieder geht es in den Wald und wieder könnte man es bergab rollen lassen, wenn nicht ein Magenzwicken zu einer letzten kurzen Rast auf einer Ruhebank zwingen würde. Berthold, der 8 km mehr als ich in den Beinen hat und der bei dem letzten VP nicht wirklich frisch aussah, hat sich dagegen wieder gut erholt.
Auf dem gesamten Lauf sind wir fast keinen Menschen begegnet. Ausgerechnet etwa einen km vor unserem Ziel hätte uns ein von hinten heranrasender Mountainbiker fast umgenietet. Wir laufen in den Biebertaler Ortsteil Bieber ein. Das Ziel am Hallenbad ist zum Greifen nahe. Berthold besteht darauf, dass wir den Rennweg auf der markierten Strecke zu Ende bringen. Und wieder geht es ein letztes Mal bergan. Der Wanderer wird auf der letzten Höhe mit einem tollen Blick auf die Schwesterburgen Vetzberg und Gleiberg belohnt, der kaputte Dauerläufer nimmt das letzte Foto auf.
In weitem Bogen laufen wir bergab auf das Ziel zu. Unsere drei treuen Fans nehmen uns jubelnd in Empfang. Eine Ehrenrunde um den Parkplatz, dann gibt es Dickmänner zur Belohnung. Die Wasservorräte werden in und über die Köpfe geschüttet. Endlich dürfen wir sitzen. Mit erheblichem zeitlichen Abstand werden noch Finisherfotos gemacht. Auf den Bildern vor dem Start gefalle ich mir trotzdem besser.