Es geht zurück nach Deutschland, wir laufen aber noch auf belgischem Boden, auf der Trasse, die durch Deutschland führt. Bei km 12,5 biegen wir ab. Vor uns das 100 x 50 Meter große Feld gehört zu Deutschland, wird aber vom 6 Meter breiten belgischen Bahnhofsgebäude von Deutschland abgetrennt. Alles kein Problem, wären da nicht diese höhnisch grinsenden Grenzsteine mit dem fetten „B“.
Die Wiese hoch zur Kirche von Konzen, dann sind wir im Startgebiet, wo uns die wartenden Marathonläufer mit überschwenglichem Jubel begrüßen. Na gut, ich habe auch nichts gehört, die sind wohl zu aufgeregt.
Bei km 16 wird´s wieder skuril: Zum Bahnhof gehören zwei Parkplätze, Belgien ist hier 100 Meter breit. Wir laufen auf Kölner Gebiet, die Gebühren für die belgischen Parkplätze, die über Aachener Gebiet erreichbar sind, gehen nach Liege, Bezirk Eupen, mitten hindurch geht der Loscherbroch.
Wir biegen ab, zum Laufenbach, keine Grenzen mehr, sieht man mal vom Westwall ab. Hier machten amerikanischen Truppen am 14.09.44 das erste Mal Bekanntschaft mit der Verteidigungsanlage. Es dauerte 6 Monate, ehe die Amis hier durchbrechen konnten. Die Panzersperren sind entfernt, die Bunker und Stellungen jedoch liegen wie auf einer Perlenschnur auf 630 km Länge.
Peter Borsdorff, der Kindern ihr Leben zurückgibt, macht Fotos der Läufer. Der Schlesier mit dem auffallenden Hut, der Marathons unter 3 Stunden gelaufen ist, fing 1995 an, für behinderte Kinder zu sammeln (runningforkids.de), erhielt zahlreich Ehrungen, auch das Bundesverdienstkreuz am Bande. Er hat in 20 Jahren knapp 2 Mios gesammelt. Es lohnt sich, seinen Projekten auf FB zu folgen.
Monschau ist romantisch. Die Senfmühle ist scharf, dort macht man aus Senf sogar Schnaps. Wir laufen passenderweise die Laufenstrasse hinunter, die Bunker des Westwalles sind hinter Natursteinwänden verschwunden. Monschau liegt zwischen zwei Berghängen, hat prächtige Fachwerkhäuser. Berühmt ist das „Rote Haus“ eines Tuchfabrikanten. Man baute Flachs für Leinenstoffe an. Das konnte man auch rauchen. Jetzt macht man Leinöl aus der blau blühenden Pflanze.
Hinter der Kirche biegen wir in das Rurtal ab. Hier noch einmal ein Blick auf das Rote Haus. Hinter mir höre ich das Führungsfahrzeug, das die Spitzenläufer ankündigt. Auf dem Marktplatz bremse ich, dreh mich um und habe die schnellen Läufer vor der genialen Fachwerk- Häuserfront, hinter uns die Burg Monschau. Das Kontorhaus der Tuchmacher, jetzt Wohnhaus, wird passiert und die nächsten Kilometer gehören dem Rurtal. Immer mehr Marathonläufer überholen mich, geben mir das Gefühl, langssam zu sein. Man muntert mich auf, klatsch mich ab. Bei km 14 der Marastrecke nehme ich mir am VP eine Auszeit. Ich brauche ruhigere Läufer um mich rum.
Das Hälderbachtal hat nur deshalb ein Google-Ergebnis, weil es mal vor drei Jahren von einem großartigen Schreiberling erwähnt wurde, der sich aber in der Rechtsschreibung irrte. Wir laufen also nun das Holderbachtal hinauf. Es geht bis Widdau, einem Ort mit 80 Einwohnern, aus dem sich Hubert von Venn vor vielen Jahren aus der einzigen Telefonstelle live beim WDR meldete.
Bis km 40 gibt es nichts zu berichten, außer vom Perlenbach: Einst gab es riesige Bänke mit Perlmuscheln, doch Napoleon brauchte Geld und Perlen, liess alles abräubern. Nun gibt es noch 20 Muscheln, die 100 Jahre vor Napoleon geboren wurden. Sie liegen unter Stacheldraht und Felsen verborgen. Wer von der Laufstrecke in das Gebüsch schaut, der sieht direkt am Bachlauf riesige Schilder, so groß wie Autobahnschilder, mit allerlei Pest- und Morddrohungen gegen denjenigen, der hier nach 20 Muscheln sucht.
Peter Borsdorff, der Bundesverdienstkreuzträger, hat einen inoffiziellen Verpflegungsstand. Irgendwer war vor mir da, es gibt kein Bier mehr. Es regnet wie Sau, belgische Reiter, jeder mit wasserdichter Karte, kommen zwischen unsere Gruppe. Die Pferde sind wegen des Trubels und des Starkregens nervös, sind kaum zu bändigen. Es gibt ein witziges Durcheinander.
Im nächsten Ort fangen diese Riesenhecken aus Buche an. Auf einem Elektrokasten steht ein Bierstubbi mit angeklebtem Öffner. Ich reiß mich zusammen und laufe weiter, habe Glück: In einer Garage, vor dem nachlassenden Regen geschützt, erobere ich eine kleine Französische Enklave, deren Bewohner Bitburger trinken.
Wir kommen nach Kalterherberg mit der imposanten Kirche St. Lambertus, auch Eifeldom oder Kaffeedom genannt. Kaffeedom, weil die Renovierung der Kirche in den 50ern mit Geldern des Kaffeeschmuggels erfolgte. Ein Blick hinein.
Bevor wir wieder an der Grenze, genauer gesagt, auf den drei Metern Belgien sind, laufen wir auf eine weltweit einmalige Kuriosität zu: Die Dinkler´sche Exklave. Stop! Halt! Links ist Belgien, wir sind in Köln, laufen hinüber nach Monschau, Bezirk Aachen und ich pinkele jetzt erstmal nach Wallonien.
Also, Dinkler´sche Exklave: Dr. Dinkler war Chefarzt im Aachener Luisenhospital und sein Wochendgrundstück sollte an Belgien abgetreten werden. Niemand weiss, wen er in Aachen während des Krieges zusammenflickte, jedenfalls wurde sein Gutsbesitz im Versailler Vertrag verhandelt. Sämtlicher Grundbesitz wurde belgisch, bis auf die Villa. Die blieb bis 1958 deutsch.
Nach 50 Metern zerteilt Belgien wieder mal ein Stück Deutschland: Links liegt die Exklave Ruizhof, eine Ansammlung von Häusern, ehemals Pachthof des Klosters Reichenstein, das Napoleon auflöste, um daraus Geld zu machen. Der Ruizhof war damit wirtschaftlich ruiniert. Es führt eine Stichstrasse hinein, die ehemalige Kupferstrasse, nur über belgisches Gebiet ereichbar, der Bahnhof Küchelscheid war die Grenzstation. Wir laufen im Regierungsbezirk Verviers, links ist NRW, rechts hinter Belgien übrigens auch.
Was jetzt kommt, ist einmalig in der Marathonwelt: Wir untertunneln Belgien! Wir untertunneln den Versailler Vertrag. Über uns, auf dem Viadukt, ist dieses 2 Meter-Belgien, hier unten laufen wir auf einer deutschen Strasse. Wie zur Markierung von Hoheitsrechten stehen zwischen den deutschen Baken belgische, darauf der preußische Adler über dem Wappen von NRW.
Kloster Reichenstein in der Kurve war im 12. Jahrh ein Doppelkloster, also auf der einen Seite die Nonnen, auf der anderen die Mönche. Bestimmt gab es dort auch Grenzverkehr.
Es gibt wieder 2 Meter Belgien. Wir verlassen den Regierungsbezirk Eupen im Osten und laufen nach …? Richtig, nach Deutschland. Exklave Mützenich, Zentrum der Aachener Kaffeefront. Beim sogenannten Abendgeschäft wurde Tonnen von Kaffee geschmuggelt, sogar mit geklauten Schützenpanzern. Ich habe in meinem Bericht von 2012 darüber geschrieben. Die Schmuggler starteten oberhalb vom Leyloch. Das vergammelte Restaurant war früher der Treffpunkt der Zöllner, jetzt wächst Gras über die Treppe.
Wir laufen den Berg hinauf. Vor dem Vennhof, jetzt Familienhotel, wurden die Kaffeepanzer beladen. Es waren gestohlene amerikanische Spähpanzer aus belgischen Beständen. Von hier oben hatten sie genug Geschwindigkeit, um ungehindert nach Restdeutschland, Kloster Reichenstein zu gelangen.
Wir sind in der Exklave Mützenich, die1949 nach Belgien kommen sollte. Wenige Tage zuvor wurde jedoch die NATO gegründet und Belgien verzichtete zunächst, was die Mützenicher nicht gut fanden, denn der belgische Franc war besser.
Exklave Bildchen war Hauptstadt von Bollenien, ehemals Preussisch-Moresnet. Hier und in Losheim und Hemmeres setzte Belgien ein mächtiges Argument ein: Das sogenannte „Probetrinken“, bei dem sich die opferbereiten Bewohner schnell für Belgien entschieden.
Deutsche Zollbeamte plünderten während der Saufgelage die geschmuggelten Lagerbestände der Einwohner. Jeder Bewohner wurde angeklagt, 46 kamen in Haft, der Fussballclub stieg mangels Spielern ab, es gab den größten Prozess seit dem Nürnberger. Niemand wollte mehr zu Deutschland. Dann kam der wirtschaftliche Aufschwung in Deutschland. Am 28.08.1958 um 00:02 wurde deutscher Gerstensaft angeliefert, acht Minuten später floss das Bitburger. Ein schlagendes Argument. Der Grenzvertrag mit Belgien wurde geschlossen, Mützenich blieb deutsch.
In Mützenich fallen die hohen Buchenhecken rund um jedes Haus auf. Sie sind gut gegen den kalten Wind, der vom Hohen Venn kommt, es ist das erste Gebirge ab Nordsee, gute Luft, raues Wetter. Die Hausbesitzer haben spezielle Leitern, um in 4-6 Metern Höhe die Hecken zu schneiden. Es gibt Gärtner, die sich darauf spezialisiert haben, diese Monster zu pflegen. Absolut cooles Kulturgut, diese Hecken. Ich laufe dort hinein und treffe Anwohner, die immer noch „Probetrinken“. Dann kommen wir zum TV Mützennich, bei dem es Honig gibt. Lustige Leute hier.
In einer dieser Hecken, die in Jahrhunderten verknorkstes Holz gebildet haben, wurde 1783 die Leiche eines römischen Legionäres gefunden. Aber nicht nur das Skelett; der Wind hatte gute Konservierungsarbeit geleistet. Der Helm des Römers ziert das Wappens von Mützenich.
Bei Km 54 durchbrechen wir wieder das zwei Meter breite Belgien. Ein Kreuz bezeugt, dass ein Radfahrer die Unterbrechung der Vorfahrt durch die deutsche Landstrasse nicht beachtet hatte. Dann laufen wir hinauf nach Konzen. Hinauf deshalb, weil die Pankratius- Kapelle oben auf dem Berg liegt. Pankratius hat jetzt nix mit der Bauchspeisedrüse zu tun, er ist Märtyrer, wurde 304 in Rom enthauptet und half dann sehr viel später, also tot, gegen die zweite Türkenbelagerung. Sein Name bedeutet „das alles Beherrschende“. Er beherrscht jetzt den Zieleinlauf, letzte Anstrengung, muss halt sein.
Die After-Race-Party ist klasse, der Platz ist voll, jeder will bei der Siegerehrung dabei sein. Auch das Team von Erdinger Alkoholfrei gewinnt zwei Bitburger-Fäßchen. Da werden die sich aber freuen.
Sehr schöner Lauf, ich bin sehr zufrieden. Mehr Grenzerfahrungen, auch extremere, gibt es nächstes Wochenende.
Ultramarathon
Männer
1 Probst, Andreas (GER) 03:46:41
2 Francke, Sebastiaan (GER) 03:56:09
3 Mey, Markus (DEU) 04:03:53
Frauen
1 Lückert, Mara (GER) 04:47:45
2 Fätsch, Sandra (GER) 04:52:31
3 Braun, Marion (DEU) 04:54:29
304 Finisher
Marathon
Männer
1 Niessen, Christian (GER) 02:40:07
2 Werker, Markus (GER) 02:40:56
3 Theunissen, Iwan (NEL) 02:57:22
Frauen
1 Görlich, Martina (GER) 03:17:33
2 Ortmanns, Christina (GER) 03:23:44
3 Frings, Annette (GER) 03:24:59
538 Finisher