Für einen kurzen Moment stockt das Herz. Denn in der vorgetäuschten Mittelgebirgsidylle oder in der tiefsten Provinz der Eifel wird auch schon mal ein Landstreicher erschlagen.
Die Eifelregion muss ein düsterer Landstrich sein. Oder langweilig. Am Ende gar beides? Warum wohl wird von dort der Stoff für viele Mord-Geschichten geliefert? Vielleicht, weil sie sich in die schaurige Landschaft des Moores gut ansiedeln lassen? „Nichts ist so spannend wie ein Mord am schönsten Arsch der Welt“, meinte der bekannteste Autor von Eifel-Krimis, Jacques Berndorf. Jedenfalls sind die Regale der Buchhandlungen über und über gefüllt mit Regionalkrimis und Erfahrungsberichten über das „Wilde Deutschland“. Wolfgang Niedecken glaubt gar: „Die Eifel ist der Wilde Westen Deutschlands!“ Wenn man den Krimischreibern Glauben schenkt, müsste es doch unheimlich sein, in diesem Landstrich zu leben, geschweige denn zu laufen.
Und wirklich, bereits am Freitag bei dem gemeinsamen „Fun Run“, der vom Laufteam des TV Konzen am Sportpark, sozusagen als „warm up“ geboten wird, erfahre ich die erste Kriminalgeschichte. Gerade noch rechtzeitig angekommen, geht es um 18:30 Uhr auf kurzweiligen sechs Kilometern im ständigen auf- und ab durch das beeindruckende Heckenland und vorbei an der schaurigen Höckerlinie – wie man die Panzersperren am Westwall auch im Volksmund nennt. Wie Grabmale mahnen die moosüberwachsenen Steine. Für die meisten der kleinen Fun-Läufer-Gruppe ein gewohntes Bild. Auswärtige wie ich staunen bei der Story, die sich einige erzählen: Es handelt sich um einen Banküberfall, der sich heute in Höfen ereignet haben soll.
Fast hat es den Anschein, als sei was dran an den Eifel-Krimis, oder warum ziehen sie immer mehr Leser an? Vielleicht kann ich dieser Frage ja beim Monschau Ultramarathon etwas näher kommen. Immerhin führt dieser über sechsundfünfzig hügelige Kilometer im deutsch-belgischen Grenzland durch das Gebiet um den Naturpark Hohes Venn sowie durch das Gebiet rund um den Nationalpark Eifel. Die Strecke ist ein Rundkurs mitten durch Deutsche Puppenstubenromantik in Monschau, durch das Jagdrevier und der Bettstatt Kaiser Karls, auf Schmugglerpfaden über sumpfige Moorlandschaften und zurück zum Start/Ziel auf dem Konzener Dorfplatz, übrigens der ältesten Siedlung der Region. Mehr, denke ich, braucht es auch nicht für eine gute Geschichte.
Während man bei Marathonläufen wie beispielsweise in Frankfurt oder Berlin die Anonymität der Großstadt schätzt, genießt man hier fast schon die Intimität unter Gleichgesinnten. Dabei spielt auch das bunte Rahmenprogramm neben dem Laufen eine große Rolle. Die Veranstaltung ist DAS Sportevent der Region. Seit 38 Jahren, einmal im Jahr von Freitag bis Sonntag, wird Konzen künstlich beatmet. In den Gassen spürt man es nicht unbedingt, der Dorfplatz hat sich jedoch komplett sportlich herausgeputzt. Neben einer kleinen Marathonverkaufsmesse erhält man hier die Startnummern, einen Starterbeutel mit diversen Flyern und ein schönes passendes (!) Funktions-Shirt, auf dem netterweise jeder durch den Aufdruck bereits als Finisher erkennbar ist.
In dem geräumigen, bunt geschmückten Festzelt beginnt heute am Freitag ab 20 Uhr eine 80er Jahre Rockfete. Ich habe mir sagen lassen, dass die hier Kult sei. Dank leistungsstarker Lautsprecher entgeht mir aber auch auf dem Sportplatz nichts, denn dort habe ich mein Zelt aufgeschlagen. Die Musik wird schnell leiser, umso lauter und stürmischer fegen in der Nacht der Regen und die berühmten Eifelwinde über den Platz. Generalprobe für mich und mein Zelt in Leichtbauweise und ideale Trainingsbedingungen für kommende Abenteuerreisen.
Der Samstagvormittag beginnt trübe, aber trocken. Sightseeing steht auf meinem Programm und als erste Krimi-Station habe ich mir das kleine Nest Mützenich, direkt an der Belgischen Grenze gelegen, vorgenommen. Galt der Ort, den wir beim Ultra Marathon streifen werden, doch als Hochburg des Kaffeeschmuggels. Er wirkt am Samstagsvormittag wie ausgestorben, vereinzelt wird die Straße gekehrt, eine Dame kommt gerade vom Blumengießen vom Friedhof. Ein ganz normaler Vormittag in einem ganz normalen Dorf.
Jäh wird die Ruhe unterbrochen, ich springe erschrocken zur Seite, als plötzlich ein belgischer Autofahrer sich mit Vollgas eine Verfolgungsjagd mit einer Streife der belgischen Polizei liefert. So schnell wie die beiden Fahrzeuge auftauchen, so schnell sind sie auch wieder weg. Wenn ich das erzähle, das glaubt mir keiner, denke ich – ich schwöre, es ist wirklich passiert.
Sportlich fair geht es dagegen am Dorfplatz in Konzen zu. Gerade wird der „Eifel Panorama Nordic/ Walking“ über 12,3 km und 4,2 km und der sogenannte Mini-Marathon über 4,2 km ausgetragen. Zwischenzeitlich wird nach und nach aus der Wiese und dem Parkplatz am Sportplatz ein gut belegter Campingplatz. Es ist 19:00 Uhr, als der letzte Pasta-Teller die Theke verlässt und die Helfer und Läufer sich in ihr jeweiliges Domizil zurückziehen.
Dann wird es schnell still auf dem Platz. Ich stöbere im Taschenlampenschein noch ein wenig in der Welt der Eifelkrimis. In „Eifel-Wasser“ wurden Camper auch schon mal von einer Steinlawine erschlagen, lese ich. Und im Krimi „Eifel-Sturm“ wurde schon mal ein Bundestagsabgeordneter im romantischen Touristenort Monschau erschossen. "In dieser Landschaft am Abend und bei Nebel", schreibt der Krimiautor Venn, „da kann man sich leicht vorstellen, dass eine Hand aus dem Nichts kommt und sich einem auf die Schulter legt."
Die kurze Zeltnacht habe ich ohne nennenswerte Zwischenfälle überlebt. Es ist 4:30 Uhr. Ein früher, kalter aber trockener Morgen am Sportpark. Nebel klammert sich an die Baumspitzen. Jeder Atemstoß dampft. Die ersten Reisverschlüsse ratschen an den Campingzelten, die ersten Frühaufsteher pellen sich aus ihrem warmen Schlafsack.
"Moin, und fit?", ruft ein sportlicher Mittvierziger bereits in kurzer Shorts. Meint er mich? Ich schüttle den Kopf und richte den Blick gen Himmel, um das Wetter abzuschätzen. Mit Zahnbürste und Handtuch bewaffnet schlürfe ich verschlafen in den Waschraum. Eine Läuferin steckt sich die krausen Haare eilig zu einem Schopf hoch. Sie habe ich doch schon mal irgendwo gesehen? Ja klar, sie war wie ich heute Nacht auch mit der Taschenlampe unterwegs zur Toilette. „Warum können wir nicht ein Durchschnittshobby haben wie Fußballgucken oder Wettgrillen am Webergrill?“, fragt sie mich unverhofft. Wie aber könnte man unsere Facette nennen? Wir überlegen gemeinsam. Ein Steckenpferd? Eine Marotte? Eine Obsession? „Das ist doch total bescheuert, so früh am Morgen…“, sind wir uns dann beide einig. Wer entschlüsselt schon die Läufer-DNA?
Christine aus dem Mobilschloss von nebenan bringt mir eine Tasse dampfenden Kaffees ans Zelt, auch für mich nun ein Hauch von Luxus. Von der Müdigkeit keine Spur, als wir uns die ca. 500 Meter gemeinsam zum Start begeben. Die ersten Autos parken die Dorfstraße entlang. Von irgendwo kräht der erste Hahn und eine Zeitungsausträgerin wirft das frisch gedruckte regionale Geschehen in die Briefkästen an den Häusern. Eine Überschrift lautet: „Ein Unbekannter hat am Freitagvormittag die Bank in Höfen bei Monschau überfallen und ist auf einem Motorrad mit der Beute geflüchtet“.
Walker und Ultraläufer vermischen sich im Gewimmel. Optisch getrennt sind die meisten nur durch das am Rücken befestigte Schild „Walker“ bzw. „Ultra“ zu erkennen. Christine läuft heute ihren ersten Ultramarathon. Wir nehmen uns vor, solange zusammen zu laufen, wie es eben passt. Dabei ist die Ausgangssituation denkbar schlecht: Nichts fühlt sich besser an, als gut vorbereitet zu sein. Und nichts fühlt sich schlechter an, als frühmorgens untrainiert zwischen guttrainierten Läufern am Start eines Ultramarathon zu stehen. Eine Grippe hat mich trainingstechnisch einige Wochen zurückgeworfen. Positiv denken! Hat man das erst verinnerlicht, kann man sich auch wieder wie vor jedem Start der Faszination und des Prickelns hingeben.
Es ist noch dämmerig, als wir kurz nach 6:00 Uhr wie in einer Prozession durch den Ort ziehen. Die über hundert Jahre alte Kirche schweigt: Nur die Schritte und das Stimmengewirr der Läufer stören die verschlafene Dorf-Idylle und die Seelenruhe der Toten auf dem angrenzenden Friedhof. Irgendwo wird ein Rollladen hochgezogen. Ein Hund kläfft. Ich schäme mich fast, hier hektisch durchzurennen. Auf den 14 zusätzlichen Kilometern laufen wir durch den Deutsch-Belgischen Naturpark über das Hohe Venn, bevor wir dann in Monschau auf die traditionelle Marathonstrecke und auf die Marathonläufer treffen werden.
Das feuchte Gras und der glitschige Matsch glucksen unter jedem Schritt. Wie ein braunes Leichentuch liegt der nasse Nadelboden in der Dämmerung des Morgens. Man sollte auf das Unerwartete gefasst sein. Für einen guten Krimi gilt: Je schlechter das Wetter, desto besser. Jetzt gerade ist kein Krimiwetter. Am höchsten Punkt angekommen, trifft die frühe Sonne auf die ersten Tannenspitzen – was für ein Bild.
Schon kurz darauf höre ich es Fluchen in allen Sprachen. Ein Stimmengewirr aus Niederländisch, Deutsch, Französisch und auch Englisch. Wirklich keiner kommt aus dieser Matschpassage ohne verschlammte oder nasse Schuhe heraus -tausche Laufschuhe gegen Gummistiefel. Ein großer Sprung über oder in das große Wasserloch lockert nicht nur die Muskulatur, sondern auch die Stimmung. Christine ist bereits auf und davon, so rasend schnell, als hätte sie in Venn´s viertem Fall "Den Letzten beißen die Werwölfe“ gelesen.
Aber auch bei mir läuft es im wahrsten Sinne des Wortes nun endlich wie geschmiert. Die sumpfigen Wiesen hinterlassen keine Abdrücke flüchtiger Borstenviecher. Apropos Borstenvieh. Der muskelbepackte Zweibeiner mit den grauen Bartstoppeln, der mich gerade überholt, wirkt auf mich, als trüge er ein Killer-Gen in sich. Auf der Spur, die er hinterlässt, könnte man ausrutschen – wenn ihr wisst was ich meine. Reicht das schon als Mordmotiv? Mittendrin endet die Spur, ohne dass der Läufer irgendwo zu sehen ist. Nur ein Trick, um mich zu verwirren? Hier verläuft die deutsch-belgische Grenze und unbemerkt könnte ich von einem ins andere Land hinübergleiten, ohne eine Veränderung wahrzunehmen. Da plötzlich, es kracht und knarzt im Gebüsch – ich mach, dass ich wegkomme.