Die Feststellung meines Sohnes lautete: „In der Ultralaufszene gibt es anscheinend keine Emanzen; die würden doch sonst einen Aufstand gegen die Bezeichnung dieses Anlasses machen.“
Emanzen nicht, aber emanzipierte Läuferinnen, denen der Inhalt sowieso wichtiger ist als die verbale Verpackung. Ganz im Ernst: Mountainman tönt melodischer als Mountainwoman und an irgendein politisch korrektes Mountainpeople wollen wir mal gar keinen Gedanken verschwenden. Zahlreiche Damen sind eingeschrieben und ich zweifle keinen Moment, dass viele von uns Männern viele von ihnen nur beim Start zu Gesicht bekommen. Oder nicht mal das. Dazu komme ich aber später.
Es ist meine zweite Teilnahme an diesem Ultratrail im Herzen der Schweiz. Bei der Premiere vor zwei Jahren liefen wir in umgekehrter Richtung, letztes Jahr wurde die Laufrichtung gedreht, das Ziel auf den Pilatus gesetzt und für dieses Jahr die Streckenführung zwischen Langis und Lütoldsmatt geändert und das Zeitfenster auf 23.00 ausgedehnt. Letzteres bringt auch für mich Entspannung. Lieber laufe ich mit einer Stirnlampe am Kopf als mit dem Cut-Off-Schwert im Nacken wie vor zwei Jahren.
Am Freitag eile bei Arbeitsschluss gerade ich zum fertig gepackten Auto und hoffe, dass der Verkehr um diese Wochenzeit nicht noch dichter ist als üblich und ich es schaffe, um 18.00 beim Briefing auf dem Bahnhofareal in Alpnachstad dabei zu sein. Die Straßen sind nicht nur mir gnädig gesinnt. Im Zelt der Startnummernausgabe steht man nämlich gerade dicht gedrängt an. Wo, ist nicht ganz klar. Wie wäre es mit gesonderten, ausgeschilderten Ausgabestellen für Angemeldete, Nachmelder und einem Informationsstand für die Beantwortung von Fragen? Auch das Unterzeichnen der Ehrenerklärung ginge schneller, wenn man sie schon beim Anstehen ausfüllen könnte. Das OK reagiert auf den Trubel, indem das auf 18.00 Uhr angesetzte Briefing verschoben wird.
Mit der Startnummer in der Tasche stelle ich mich beim Pastastand an und stelle mir die nächste Frage: Warum muss man die Penne ohne Sauce essen, wenn man nicht zur Gattung der Karnivoren gehört? Dabei habe ich doch schon vor meinen fleischlosen Zeiten immer wieder gestaunt, wie viele Ultraläufer sich vegetarisch oder sogar vegan ernähren. Oder bin ich einfach zu verwöhnt und anspruchsvoll geworden?
Warum ist das Durchschnittsalter bei Ultra-Bergläufen relativ hoch? Es muss daran liegen, dass erste Anflüge seniler Bettflucht ideale Voraussetzungen dafür sind. Mein Wecker schellt mich nämlich elend früh aus dem Schlaf, dabei bin ich nicht einmal zur Unterkunft in der Zivilschutzanlage gefahren, sondern habe gleich im Auto übernachtet. Um 05.00 Uhr fährt der Extrabus in Alpnachstad.
Die Zentralbahn als Sponsor des Anlasses ist für kostenlose Beförderung besorgt. Ganz nett wäre es, wenn sie am Bahnhof das Klo nicht abgeschlossen ließen…
Beim Umsteigen auf den Zug treffe ich in Stans Beat. Mit ihm zusammen hüte ich gute Erinnerungen an den gemeinsamen Napf Marathon. Wir hätten mehr auszutauschen als die Fahrt nach Engelberg zulässt. Ein Thema ist das Ozon, das schon in der vergangenen Woche spürbar erhöht in der Luft lag und bei den heute zu erwartenden Temperaturen für zusätzliche Leistungsreduktion sorgen wird. Das andere ist der Zeitplan für den Start. Ankunft des Zuges in Engelberg ist 05.53 Uhr. Laut Fahrplan der SBB sind für den Transfer zur Talstation der Gondelbahn 15 Minuten zu veranschlagen, die Fahrt nach Trübsee dauert dann nochmals 35 Minuten. Wie ich mit meinen bescheidenen Mathematikkenntnissen feststellen kann, wäre ein frühestmöglicher Start um 06.43 Uhr möglich – sofern alle Läufer in einer Sechser-Gondel Platz haben, Windeln tragen und kein Gepäck für den Transport ins Ziel abzugeben haben.
Statt einer Entspannung dieser zeitlich angespannten Situation ist leider eine Verschärfung angesagt. Gleich beim Betreten der Talstation werden wir informiert, dass beim Start auf Trübsee keine Toiletten zur Verfügung stehen (weil geschlossen) und solche Bedürfnisse in den fünf Kabinchen vor Ort abgewickelt werden müssen. Durchschnittliche Verweildauer mal weit über 200 Teilnehmer. Das auszurechnen erspare ich mir. Doch, ich könnte es, aber schon ein einfaches Überschlagen reicht, um die Inkompatibilität des Toilettenangebots mit der Startzeit deutlich zu machen.
An den noch Anstehenden vorbei mache ich mich auf den Weg zur Gondel und lasse mich im schnell wechselnden Licht des Tagesanbruchs hochfahren und ein paar Minuten nach der offiziellen Startzeit oben auskippen. Beim Verlassen der Bergstation gibt es einen Riesenknall. Was ist das wohl? Wie ich um die nächste Gebäudeecke komme, wird mein Verdacht bestätigt: Das war der Startschuss für die, welche schon da waren. Und es kommen noch einige nach mir.
Ich zurre die Riemchen meines Laufgepäcks fest und deponiere meinen Frust beim Boss, damit es sich leichter laufen lässt.
Die Morgenstimmung am Trübsee ist postkartentauglich und einen Vorteil hat es, dass ich bereits zu Beginn des Laufs als einsamer Mohikaner unterwegs bin. Ich sehe, dass es weiter oben in den Serpentinen zum Jochpass an einem Einzeldurchlass für Wanderer bei einem Weidezaun zu einem Stau kommt.
Während die Berge auf der rechten Seite nach und nach im warmen Morgenlicht erstrahlen, bleiben wir bis zum Jochpass im Schatten. Mir ist trotzdem ganz warm. Schon auf Trübsee ist mir aufgefallen, dass es dort oben wärmer war als unten im Tal in Engelberg. Die sternenklare Nacht hat zu dieser Inversionslage geführt. Die kältere und damit schwerere Luft hat sich in den Tälern gesammelt, die warme Luft aus Afrika machte sich auf einen Ausflug zu den Alpen.