Nach der Überquerung der Zahnradgleise der Brünigbahn geht es noch ein Stück der Passstraße entlang, bevor diese immer wieder gesperrt wird, damit die Läufer zur Schwingarena abbiegen können, wo wieder alles Notwendige bereitsteht, was es zum Auf- und Nachfüllen der verschiedenen Speicher und Behälter braucht. Im Schatten des Zeltes ist es angenehm, denn ein leichtes Lüftchen durchquert dieses und sorgt auf der nassen Haut für Abkühlung. Fast 2 Stunden bleiben mir bis zur Zeitbarriere und damit kann ich mich ohne Hetze umfassend auf das folgende Teilstück vorbereiten. Schon im Vorfeld habe ich dieses – neben dem Schlussaufstieg auf den Pilatus - als den härtesten Brocken des Mountainman identifiziert.
Zum ersten und einzigen Mal schaffe ich es, ein Stück feste Nahrung zu mir zu nehmen. Außer diesem Stück Brot verweigert mir der Magen etwas anderes als Flüssignahrung. Nach dieser Pause fühle ich mich fit genug für neue Taten. Der erste Teil der 1100 Höhenmeter nach Schönbühl führt viel durch den Wald und lichtere, trotzdem Schutz vor der Sonne bietende, kleinere Baumbestände. Rustikale Häuschen, Wiesen, Nadelbäume mit teilweise sehr individuellen Wuchsformen – eine wahre Idylle. Irgendwo steht ein Brunnen, dessen kühles Quellwasser Kopf und Arme für einen Moment auf Wohlfühltemperatur bringt. Dazu gibt es ein umwerfendes Panorama mit Blick zu den Berner Alpen, dem Brienzersee, hinunter nach Interlaken und dem Thunersee. Umwerfend zum Glück nur im übertragenen Sinn. Je weiter es nach oben geht, umso steiler fällt der Hang auf der Südseite des Wilerhorns ab. Und weil es auch immer weniger Bäume gibt, wird diese Tatsache noch augenfälliger. Vor zwei Jahren war die fehlende Schwindelfreiheit mein Problem. Mit Oberkörperneigung zum Hang habe ich mich damals Schritt für Schritt nach unten getastet. Heute ist die Hitze mein Problem. Wäre es kühler, würde ich sicherlich nicht viel langsamer hochstapfen als beim Lauf in umgekehrter Richtung abwärts.
Dass meine Einschätzung im letzten Bericht, ein einziger Fehltritt könnte fatal sein, sehr nah an der Realität war, bringt eine Gedenktafel am Fels zum Ausdruck. Beim Wechsel auf ein Weidestück hoch zum Grat bin ich die Sorge und den Blick aus den Augenwinkeln in die Tiefe los, schneller werde ich deswegen nicht. Das macht auch nichts, denn auf dem Grat selber gibt es wieder einen Abschnitt, den man als ausgesetzt bezeichnen kann. Das Stahlseil gibt einerseits Sicherheit, andererseits verstärkt es den Eindruck der nicht garantierten Ungefährlichkeit.
Die letzten Meter auf dem Grat ziehen sich dahin. Endlich auf dem Weg nach dem nur einen Steinwurf entfernten Schönbüel lasse ich nun auch keine falsche Eile aufkommen. Erst einmal tüchtig durchatmen und rundum auftanken. Damit ich meine Brille nicht hervorkramen muss, wird mir als besonderer Service ein weiteres Streckenbriefing geboten. Meine Bedenken, dass ich in der mörderischen Affen-Bullen-Schweine-Gluthitze (die Steigerungsform ist mir eben entfallen, sonst käme sie zur Anwendung) zu viel Zeit verloren habe, werden zerstreut. Gut gestärkt und ermutigt mache ich mich erstaunlich lockeren Schrittes weiter auf den Weg.
Noch ein paar Höhenmeter sind bis zum Steinmandli zurückzulegen, dann geht es auf urchigem Pfad unter eindrücklichen Felsen weiter. Linkerhand gibt es eine tolle Aussicht auf den Arnihaaggen (tatsächlich nicht in Norwegen), das Brienzer Rothorn, die Schrattenfluh und den Hohgant. Der Ausblick mit Seltenheitswert wird einzig von den Starkstromleitungen über die Chringe gestört. Rossflue, Furgge und Schafnase heißen die schroffen Berge mit ihren Geröllhalden und leuchten in der Nachmittagsonne. Bauern sind am Heuen und haben ihre Trinkflasche zur Kühlung in den Brunnentrog gelegt, ich halte meinen Kopf unter die Brunnenröhre und nehme dann den letzten Kilometer bis zur Verpflegungsstation Glaubenbielen unter die Füße.
Ich fülle meinen Tank und tausche das restliche Wasser im Trinkbeutel, mit welchem man mittlerweile Teigwaren kochen könnte, gegen kühles, frisches aus. Es seien nicht mehr viele Läufer, die von Schönbüel aus noch folgen werden, so höre ich, und während die Helfer die ersten Werbebanner vom Hag entfernen, mache ich mich vom Acker. Ein kurzes Stück asphaltierte Straße ist es nur, dann geht es auf Wirtschaftswegen und Wanderwegen weiter. Die Strecke dreht sich im ganzen Tagesverlauf mit der Sonne, das bedeutet fürs Fotografieren gutes Licht von hinten, oben und von links. Auch die linke Schulter spürt es. Obwohl in der frühmorgendlichen Dunkelheit so gut mit Sonnenschutz versehen wie der Rest des Körpers, leuchtet darauf die rote Warnlampe. Immerhin gibt es wieder ausgedehntere Abschnitte im Schatten von Bäumen, zudem schiebt sich die einzige Wolke, die ich heute bisher zu Gesicht bekam, für ein, zwei kurze Momente vor die Sonne.
Einsam laufe ich diese gut sieben Kilometer bis zum Verpflegungspunkt Sattelpass. Dass es da kein Gel gibt, stand eigentlich im Verpflegungsplan. Dass ich solches aber brauche, meldet mir mein System. „Kein Problem“, denke ich, „ dazu habe ich Reserve bei mir“. In geringem Umfang stimmt das. Der Rest ist mir offensichtlich aus dem Bauchbeutel gefallen. Ich hoffe, dass diese kleine Ladung mich gut bis zum nächsten Cut-Off-Punkt nach Langis bringt. Es bleiben mir noch über eineinhalb Stunden für diese gut sechs Kilometer.
Es ist ein traumhafter Weg, auf weiten Strecken führt er über Bohlenstegen durch das Moor und auf einladendem Singletrail durch märchenhafte Waldlandschaften. Jeder der 250 Höhenmeter hat eine intensive Wirkung auf mein System. Die Hitze des ganzen Tages hat mich viel Energie gekostet, dazu spüre ich das eine Gesprächsthema auf der Hinfahrt nach Engelberg nun in der Praxis. Die Ozonbelastung ist beim Atmen spürbar und ich weiß um deren potentielle Auswirkung auf unsere Gesundheit. Noch bin ich in der Zeit. Aber reichen die Reserven auch für den anspruchsvollen Stein- und Wurzelpfad mit seitlicher Neigung über den Schlierengrat, um rechtzeitig beim letzten Cut Off in Lütoldsmatt einzutreffen? Und bleibe ich in dem Rahmen, welchen ich mir beim Laufen als der Gesundheit förderlich setzen will?
Eine Begegnung hilft mir, einen schnellen Entscheid zu fällen. Ich sehe einen entkräfteten Läufer am Boden sitzen und frage, ob er Hilfe brauche. Er meint, dass er zwar im Moment ziemlich kaputt sei, doch fest entschlossen, weiterzulaufen. Ich entschließe mich, vorerst bei ihm zu bleiben, und merke, dass er immer wieder mit zügigem Schritt einen neuen Versuch startet, doch nach kurzer Zeit wieder innehalten muss. Ich versuche ihn zu einem langsameren Vorwärtsgehen anzuhalten, doch anschließend hat sich sein Denkmodus noch nicht dem Körpermodus angepasst.
Es gibt keinen Zweifel: Ich befinde mich in einer der Situationen, wie sie im Reglement festgehalten ist und zu deren Einhaltung ich mich mit der Unterzeichnung der Ehrenerklärung verpflichtet habe. Ich werde diesen Läufer begleiten bis ich ihn in sicherer Obhut der Betreuer weiß. Je mehr wir uns Langis nähern, umso mehr zeigt sich, dass ein anderer Entscheid unverantwortlich gewesen wäre. Zwischendurch fürchte ich, dass mein jetziger Begleiter kollabieren würde, und kann ihn immerhin dazu bewegen, sich hinzusetzen und mindestens die Salztabletten einzunehmen, die ich bei mir habe.
Bis wir in kurzen Etappen zur Zeitmessung kommen, ist meine Zeitreserve praktisch aufgebraucht. Während er im Bus der Zeitnehmer wartet bis er abgeholt wird, spaziere ich mit dem mittlerweile zu uns gestoßenen Otto zum Verpflegungsposten Langis. In der Annahme, dass wir weiter möchten, wird uns mit Bedauern mitgeteilt, dass wir das Zeitlimit um zehn Minuten überschritten haben. Ich habe fast den Eindruck, dass die Helfer überrascht sind, wie locker wir mit dieser Nachricht umgehen.
Mit dem Schild kurz vor dem Verpflegungsposten, welches die verbleibenden 20 Kilometer ankündigt, ist mein Bildbericht zum Mountainman beendet. Bilder des Schlussaufstiegs könnte ich – abgesehen von Stirnlampen und reflektierenden Applikationen auf Laufkleidern - sowieso keine liefern. Dafür kann ich berichten, dass wir drei Gestrandeten, verschwitzt und stinkend wie wir sind, mit dem Privatauto einer Helferin nach Alpnachstad zurückgefahren werden und dort nach kurzer Zeit auch schon das vom Pilatus heruntergeschickte Gepäck in Empfang nehmen können.
Ich weiß, mit meinem Ausstieg fehlt mir die Kompetenz, abschließend zu beurteilen, was für ein Typ dieser Mountainman nun eigentlich ist. Ich glaube aber nicht, dass er auf dem letzten Viertel seine Art und seinen Charakter noch ändert. Er ist sicher ein strammer Bursche und macht auf mich auf der erlebten Strecke einen rundum sehr guten Eindruck. Die übereifrige Begleitung der Sonne war nicht seine Absicht, deswegen wäre es unfair, ihn als Fiesling zu bezeichnen. Er ist heute als Schönling in Erscheinung getreten und hat das Glück, auf eine tolle, freundliche und motivierende Familie zählen zu können, die ihn auf der ganzen Strecke hervorragend unterstützt.
Noch ist er kein Prachtkerl – dorthin muss er noch ein Stückchen gehen. Dazu hat er noch falsche Freunde und muss noch ein paar Hausaufgaben machen. Des einen falschen Freundes wird er sich im Hinblick auf die kommende Schweizer Meisterschaft im Trailrunnings sicher entledigen müssen. Sein Name ist Zeitnehmer. Damit werden die Teilnehmer nicht nur von den fürs Trailrunning ungeeigneten Papierchips verschont (Abgesehen davon, dass ich mit meiner Abneigung gegen Abfallelektronik vermutlich nicht alleine bin). Im Zeitalter von Livetracking ist es schon fast eine Kunst, als Zeitnehmerfirma nicht in der Lage zu sein, 18 Stunden nach Zielschluss keine vollständige Rangliste aufschalten zu können.
Auch die Nonchalance, mit welchem Fahrplan und Zeitplan am Morgen irgendwie zurechtgebogen werden, sollte er sich abgewöhnen. Und dann ist noch die leidige Sache mit der Kommunikation bezüglich Finishergeschenk. Flapsige Kommentare auf entsprechende Rückmeldungen von diesbezüglich Enttäuschten sind unangebracht. Wenn er sich das zu Herzen nimmt, dann wird er das, wozu er das Zeug hat: Ein Prachtkerl. Wenn ihn sein Ziehvater Florian zur Brust nimmt, dann schafft er das.
Noch etwas: der Mountainman hat ein Herz für Heißduscher. Das rechne ich ihm hoch an.