Kurz darauf gelangen wir an einen Punkt, von welchem man einen schönen Blick aufs Berner Oberland hat. Unten im Tal führt die Aare braunes Wasser, welches sich an der Einmündung mit dem milchigen Wasser des Brienzersees vermischt, und die Berner Alpen liegen im etwas dunstigen Gegenlicht. Gut, dass ich die Kamera dabei habe. Anders als sonst bei Trailläufen üblich, verweile ich nur kurz an diesem Aussichtspunkt und beschränke mich aufs Fotografieren. Danach ist meine ganze Konzentration wieder beim Single Trail, denn auf diesem werden auf den nächsten fünf Kilometern ganz ordentlich viel Höhenmeter abgebaut.
Eine erste Mutprobe muss ich an der Stelle bestehen, wo der Grat mit einem Stahlseil gesichert ist, weil es links und rechts nur in eine Richtung geht: ziemlich steil abwärts. Das Mitglied der Bergrettung des Schweizerischen Alpenclubs, welches mich bei der nächsten Abzweigung zur Vorsicht auf den bevorstehenden Kilometern mahnt, ist nur einer von zahlreichen Helfern in dieser Funktion, die die Strecke mit Feldstechern überwachen. Ich bin froh darum, denn mir steht eine Bewährungsprobe bevor. Die Streckenführung fasziniert mich und gefällt mir, ich darf bloß nicht rechts neben den Weg schauen. Das Gefälle des Hangs, welcher mit leichter Tendenz abwärts traversiert wird, ist rational gesehen elend stark, in meinem Empfinden fast überhängend. Automatisch nehme ich das Tempo zurück und lasse meinen Oberkörper mit seiner intuitiven Neigung hin zum Hang gewähren. Ein falscher Tritt wäre an dieser Stelle fatal.
Doch auch diese Hürde meistere ich und ich freue mich, dass ich mich mit einer halbwegs beruhigenden Zeitreservereserve dem Brünigpass nähere. Das Heulen der Motorräder auf der Passstraße kündet an, dass es nicht mehr weit ist zum Wechselpunkt der Teambewerbe und dem Start des Mountainman light. Diese, die Verpflegungsstelle und das Gepäck, welches sich man mit Wechselkleidung hierhin schicken lassen konnte, sind beim Schwingplatz. In dieser Arena wird jeweils der Sieger des Brünigschwingets erkoren, einem seit 1904 durchgeführten Anlass des Ob- und Nidwaldner Schwingerverbandes und der Schwingersektion Hasliberg. An diesem Wochenende sind die „Bösen“, wie man den Matadoren dieses Traditionssportes sagt, wie alle drei Jahre am „Eidgenössischen“, wo der einzige rechtmäßige König der Schweiz, der Schwingerkönig, erkoren wird.
Für mich geht der Kampf nicht im Sägemehlrund weiter, sondern in der BergArena. Nach der Schlammschlacht im Moorgarten, kämpfe ich einem Gladiator gleich weiter. Zu besiegen gibt es den nächsten Fixpunkt. Gibel heißt er und liegt etwa tausend Meter über mir. Auf dem Weg dorthin fordern mich noch andere Widersacher heraus. Wer Zweifel an der Kraft der Sonne und ihrer Eignung zur Beantwortung unserer Energiefragen hat, dem sei dieser Anstieg bei gleicher Sonnenintensität und entsprechenden Temperaturen ans Herz gelegt. Es muss nicht im Rahmen des Mountainman sein, eine Wanderung reicht dafür. Auch er wird sich für – vielmehr durch - diesen Energieträger erwärmen können.
Im Schatten der Waldpassagen muss ich zwischendurch kurz stehen bleiben und der Einbildung nachgeben, dass sich dadurch meine Temperatur senkt. Was ich vor meinen Augen sehe, ist entweder eine Fata Morgana oder eine Halluzination: eine große Flasche alkoholfreien Biers, übersät mit unzähligen Wasserperlen. Allzu frisch sehe ich vermutlich nicht aus. Auf jeden Fall bietet mir eine freundliche Mountainbikerin sofort ihre Trinkflasche an als sie mich erblickt. Tee mit Obwaldner Bio-Honig tönt gut, doch ich lechze einfach nach Wasser. Dieses gibt es schon bald beim nächsten Verpflegungsposten – und eine leichte Bergbrise dazu.
Weiter geht es, immerzu hoch, an Kilometer 55 und dem nächsten Verpflegungsposten vorbei, immer weiter hoch, bis das Kreuz auf der Kuppe des Gibels erreicht ist. Von hier aus ist bis Käserstatt wieder relative Entspannung angesagt, denn es geht vorwiegend hinunter und die Wanderer und Mountainbiker sind sehr rücksichtsvoll und mit ihren Kommentaren unterstützend. Kurz vor dem nächsten Distanzschild gibt es wieder Verpflegung, danach wird das Gebäude der Bergbahn durchquert, was einen Hauch von Frankfurt-, Neujahrs-, Pfälzerwald- oder Media-Markt-Marathon versprüht, wo ebenfalls in eine Halle eingelaufen, respektive ein Ladenlokal durchquert wird.
Der Tapetenwechsel ist nur von kurzer Dauer, dann geht es wieder in der Natur mit ihren eigenen Herausforderungen weiter.
Fünf weitere Kilometer sind es bis Planplatten. Zuerst sind diese, abgesehen von der Hypothek der hinter mir liegenden Kilometer in den Beinen, ziemlich locker zu bewältigen, steigen dann aber immer mehr an. Die Aussicht, dass nach der Verpflegung und Zwischenzeitnahme auf Planplatten nur noch ein happiger Anstieg zu bewältigen ist, spornt mich an. Hier oben wechselt die Charakteristik der Landschaft wieder stark. Unterstrichen wird dies dadurch, dass auf der östlichen Seite des Grats, zum Gental hin, mehr Bewölkung ist.