Seit mein Wüstenfreund Mohamad Ahansal den Mozart100 gelaufen ist, will ich hier antreten. Doch dieser Lauf ist wie ein Flugportal: Je länger man wartet, je öfter man auf die Website geht, desto höher geht es. Dieses Jahr sind schon 105 Kilometer mit 4700 Höhenmeter angesagt, 85 % Trailanteil. Im Gegensatz zu dem Lauf, der gleichzeitig in Grainau stattfindet, trennen ambitionierte Cut-Off- Zeiten die Läufer von den Wanderern.
Das schockt Michael aus Indiana nicht. Gleich mal nachgeschaut: Die höchste Erhebung in Indiana hat 383 Meter. Thiam Han aus Singapur spricht perfekt Englisch, ihm sagen 4700 Höhenmeter nichts. Ob dort oben Schnee liegt, fragt er. Alle werden magisch von Mozart und der edlen Barockstadt Salzburg angezogen. Der Anteil von Läufern aus Übersee wird nur vom Anteil derjenigen übertroffen, die diesen Lauf nicht finishen werden: 40 %.
Samstag 5 Uhr morgens: Start auf dem Residenzplatz in Salzburg. Ein bemerkenswert schöner Startort! Es gibt Alte und Neue Residenz, im 16. Jahrhundert für die Erzbischöfe erbaut. Erzbischöfe durften den Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation wählen. Das Recht, diesen Staatsnamen zu tragen, erhielt das Staatsgewusel, weil die deutschen Kaiser sich verpflichtet hatten, den Papst, den Stellvertreter von Christus auf Erden, zu schützen. 844 Jahre, sechs Monate und vier Tage bestand das übernationale Reich, bevor es von Napoleon zerlegt wurde.
Ich genieße den Residenzplatz: Stift St Peter, Michaelskirche, Residenzbrunnen, Mozartplatz, und natürlich den eleganten, freistehenden Dom mit seiner blendenden Fassade aus Marmor. Unter dem Dom soll sich ein geheimnisvoller See mit spiegelglatter Oberfläche befinden, der den Dom vor schweren Erdbeben schützt. Diese historische Atmosphäre lässt mich vergessen, dass bei diesem Lauf krasse Kaliber aus aller Welt antreten. Wir müssen rechtzeitig in den Startblock, Kontrolle der Pflichtausrüstung.
Mist, es geht los!
Zunächst durch die Altstadt. Die Hellbrunner Allee, bei km 2 ist die älteste (1615) erhaltene herrschaftliche Allee der Welt. Die autofreie Straße mit den imposanten Häusern verbindet Schloss Freisaal mit Schloss Hellbrunn. Wir überqueren die Salzach.
Seit dem Wiener Kongress ist die Salzach nördlich von hier Grenzfluss. Salzburg gehörte 600 Jahre zu Bayern, dann 500 Jahre zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Mozart ist demnach 1756 als Deutscher geboren. Nach dem letzten Krieg machten englischsprachige Bücher aus dem Deutschen einen Österreicher, obwohl Salzburg erst 1816 zu Österreich kam. Wir Deutschen und Österreicher sind uns einig: Der geniale Komponist mit schwäbisch-baierischen Wurzeln ist Salzburger.
Wir gelangen nach 8 Kilometern in die Glasenbachklamm, die wir 2 Kilometer hinauflaufen. Der wilde, fossilienreiche Klausbach hat seinen Namen von den Wehren (Klausen, Klusen), die einst den Bach aufstauten, um Brennholz für die Salzsiederei zu flößen. Im dunklen Dämmerlicht der Schlucht gelingen mir kaum Fotos, zumal ich mich ran halten muss. Nur die langen Ähren des Geißbarts leuchten im Blitzlicht, während die fetten Blätter des Pestwurz das gesamte Licht schlucken. Ich schlucke bei Kilometer 11, der ersten Labestation, wie hier die Verpflegungsstationen genannt werden. „Labe“ ist althochdeutsch, bedeutet früher „Hilfe“, jetzt eher „Erfrischung“.
Die Pechauer Scharte ist ein Gebirgspass (770 m) zwischen den unerschlossenen Bergen Gurlspitze (1158m) und Pitrachspitze (982m). Von hier geht es zügig abwärts, ich laufe, laufe, und….verlaufe! Ich bin mir so sicher, dass ich mich verlaufen habe, dass ich mitten auf den Weg pinkel, dann drehe ich um und dackel 20 Minuten wieder hinauf. Oben angekommen registriere ich, dass ich doch richtig war. Also wieder runter.
Unten in Unterberg, Kilometer 15 ist erst die nächste Markierung. Meine Grundschullehrerin trank während des Unterrichts Underberg: „ Das ist Medizin, brauche ich, weil der Kelbel so lebhaft ist!“
Nun beginnt ein 10 Kilometer langer Abschnitt, den wir später zwischen Kilometer 80 und 90 zurücklaufen werden. Der Plötzer Wasserfall fällt 25 Meter tief und bildet ein schönes, milchig-kalkiges Naturbad. Am wildromantischen Rettenbach stehen fünf historische Mühlen, denen mit gewagten Holzkonstruktionen das Wasser zugeführt wird. Faszinierend sind die vom Wasser ausgewaschenen, spiegelglatten Kuhlen. Dieser Platz heißt passend „Glücksplatz“.
Aufstieg zum Glitzenberg (881m) und Labestation bei km 22. Ja, es gibt Bier: Die Brauerei Stiegl ist Sponsor und liefert die Fähnchen für die Markierungen, die durstig machen. Die Brauerei hat ihren Hauptsitz an der steilen Treppe (Stiegl), die hoch zur Festung Hohensalzburg in Salzburg führt. Nicht zu verwechseln mit dem Obersalzberg, wo der Adlerhost vom Zampano ist. Das ist in Berchtesgaden.
Drei Kilometer hinter der Labestation gibt es einen wunderschönen Blick über den Fuschlsee. Der Blick geht bis zum anderen Ende, zur Ortschaft Fuschl am See, dem Firmensitz des Sponsors Red Bull. Red-Bull-artige Vorgängergetränke verabreichte man den Kamikazefliegern (Kamikaze= „göttlicher Wind“). Über Thailand kam die Idee des Powergetränkes hierher. Kokainspuren in Red Bull Cola sind mir ganz recht. 1984 gegründet, ist Red Bull weltweit die drittgrößte Getränkefirma nach Coca-Cola und Pepsi.
Ich habe zwar keine Flügel, aber wieder den Anschluss an die 105 Kilometer Kameraden gefunden, die ich an der nächsten Steigung wunderbar abhänge. Dann geht es hinab zum glasklaren See. Ein wenig kommt nun die Sonne hervor und durchleuchtet das lockende Wasser. Traumhaft! Leicht geht der Weg in einem ständigen Auf-Und-Ab rechts entlang, um den See. Eigentlich war die Laufstrecke bis jetzt nicht sehr fordernd, doch bei der nächsten Labestelle bei Kilometer 31 bin ich nur 30 Minuten unter Cut-Off und mir graust es vor dem nun beginnenden hochalpinen Teil dieses Laufes. Ich glaube, es ist Christina, die ich frage, ob ich auf die 62 Kilometerstrecke (2211 hm) wechseln kann. Offiziell wird das nicht angeboten, aber sie sagt: „ Das haben schon 20 Läufer vor dir so entschieden.“
Ich kämpfe mit mir, denn letzte Nacht ist Helmut Kohl gestorben und ich will unbedingt seinen Urlaubsort St. Gilgen sehen. Er hat das „G“ von Gilgen immer so tief aus der Kehle ausgesprochen. Wenn ich aber der 105 Kilometerstrecke folge, dann habe ich ein DNF sicher, also entscheide ich mich für die 62 Kilometerstrecke. Christina meldet das an das Race-Office in Salzburg.
Hinter dem 4-Sterne-Superior-Resorts Ebners Waldhof folgt der Abzweig auf die lange Strecke. Ich laufe natürlich blind den Berg hinauf, dann merke ich, das ich wieder runter auf die 62 Kilometer-Strecke muss. Ich fühle mich von da an mies, minderwertig, als würde ich einen Lauf in rosa für irgendwas absolvieren. Ebners Waldhof bietet 37 Suiten für 400 bis 1100 Euro die Nacht.
Im nächsten Jahr werde ich die 105 Kilometer-Strecke angehen, die dann bestimmt 225 Kilometer lang sein wird. Was mich dann erwartet, lest Ihr jetzt:
In 2018 werde ich an diesem Punkt den Fuschlsee über einen steilen Anstieg nach Osten verlassen. Ich werde hinauf auf den Bergkamm laufen, der zwischen dem Mondsee und dem Wolfgangsee liegt. Der Aufstieg folgt dem Eibenbach, durch ein wundersames Hochmoor, bis ich bei km 37 den Eibensee erreichen werde. Der fischreiche See liegt windgeschützt zwischen steilen Hängen, sodass ich durch das spiegelglatte Wasser den Forellen zusehen kann, wie sie versuchen, schneller zu sein als ich, was denen garantiert nicht gelingen wird, weil ich bis dahin absolut fit sein werde!
Bei km 43 erreiche ich dann die beeindruckenden Steinklüfte des Plombergstein (830 m). Die Berge, die den romantischen Wolfgangsee einrahmen, sind spitz und steil. Dann werde ich St Gilgen sehen, den ehemaligen, inoffiziellen Sitz von Helmut Kohl. 1984 kam Margaret Thatcher zu Besuch, sie war „not amused“, als der 1,91 Meter große Kanzler sich nach einer Stunde verabschiedete, um zwei Tortenstückchen in der Konditorei Dallmann zu vertilgen. Vielleicht war dies der Grund ihres Widerstandes gegen die Wiedervereinigung, denn sie sah Helmut zufällig durch das Fenster der Konditorei. Dabei hatte er ihr von einem „wichtigen Termin“ erzählt. Kohl, der Tortenkanzler!
Ich werde dann aber erstmal über die steilen Gipfel laufen, die den Wolfgangsee einrahmen. Nicht hoch, maximal 1400 Meter, aber mit schwierigem Untergrund, nur Geröll. Helmut wäre das nie gelaufen, es geht ja auf 4 Kilometer 700 Höhenmeter hinauf. Bei Kilometer 50 am Naturfreundehaus wäre die nächste Labestation, bei km 55 der Wendepunkt der Strecke, es ginge dann nordwärts, langsam hinab zum Wolfgangsee.
Der Wolfgangsee ist natürlich nicht nach dem genialen Musiker benannt, sondern nach dem Heiligen Wolfgang von Regensburg (924- 994). Er war Erzieher des Ottonenkaisers, Heinrich II, Kaiser des Heiligen Römischen Reiches von 1014-1024, was aber nicht Grund seiner Heiligsprechung war. Der unscheinbare Mönch Wolfgang, der 982 Regensburg heimlich verließ, um hier an der Falkensteinwand in einer Höhle zu leben, wo jetzt die kleine Kapelle steht, fiel auf, weil während seiner Predigten, bei der er Kranke heilte, regelmäßig der Teufel innerhalb seltsamer Lichtstrahlen erschien.
Selbst, wer „Wolfgang“ genannt wird, wird kaum wissen, dass der Falkenstein wegen seines Namenspatrons einst der viertwichtigste Wallfahrtsort der Christenheit war. Oberhalb der Laufstrecke ist die Wallfahrtskapelle zu sehen. Dort ein Gemälde, wie Wolfgang die heilige Quelle mit seinem Beilwurf fand. Die Wallfahrtskapelle besteht aus den Resten vier weiterer Kapellen: die Kreuzkapelle, aus den Steinen, die die Pilger zur Buße hinaufgetragen haben, ein Kapelle mit einer drehbaren Steinsäule (ist jetzt in Salzburg zu sehen, die Steinsäule wurde zur Buße gedreht). Eine Kapelle mit der Legende über Wolfgang. Und die Kapelle mit der Heiligen Quelle. Daneben eine Nische, in dem der Körperabdruck vom Hl Wolfgang im Stein zu erkennen ist.
Die mittelalterlichen Mirakelbücher verzeichnen Tausende von Wunderheilungen durch das Hl. Wasser. Leopold I betete hier, als er 1683 die Nachricht von der Befreiung Wiens von den Türken vernahm. Die Legende, wie Wolfgang zu seinem Namen kam, muss ich noch erzählen: Er warf also von seiner Klause aus sein Beil hinab (das Beil ist im Hochaltar der Kirche in St Wolfgang, km 54 zu sehen). Dort ,wo das Beil niederfiel, sollte seine Kirche stehen. Beim Bau derselben half ihm der Teufel gegen das Versprechen, ihm als Lohn die Seele des ersten Wesens zu geben, das die Kirche betreten würde. Wolfgang schickte einen Wolf hinein, den der Teufel sogleich aus Wut zerriss. So kam der Heilige zu dem Namen „Wolfgang“.
Zurück auf die Laufstrecke:
Nach km 59 würde ich im nächsten Jahr entlang des Wolfgangsees, nach links in die Mondseestrasse einbiegen. Dort, direkt am Ufer, kurz vor dem Parkhotel Billroth steht das Haus Mondseestrasse 34a, 30 Jahre lang das Urlaubsdomizil des Altkanzlers, bis 2001, als Hannelore starb. Seitdem war er nie wieder dort.
Von der Labestation in St Gilgen sind es 100 Meter bis zur Konditorei Dallmann, am Mozartplatz 2a. Ich werde da im nächsten Jahr reingehen und ein fettes Stück Schwarzwälder Kirschtorte essen, so wie Helmut, und an die eiserne Margareth denken und mir dann noch ein fettes Stück Torte bestellen. Seit 1884 werden im Lieblingscafé des Altkanzlers die Mozartkugeln hergestellt. Dann würde ich raus aus St Gilgen und hinauf zur Weißwand laufen. Die 600 Höhenmeter würde ich locker schaffen.
Die nächste Labestation erwartet mich dann theoretisch bei km 66 am Fuße des Zwölferhorns in einer Höhe von 1050 Metern, wenn nicht, wie ich erwarte, die Strecke wieder verschärft wird. Seit 1563 ist die Familie Schoßleitner im Besitz der Sausteigalm. Vier Bauern teilen sich die Bewirtschaftung der Alm. Es werden bedrohte Nutztierrassen gezüchtet. Bei km 68 würde ich dann den Kühleitenpass queren, der die Grenze zwischen dem Wolfgangsee und dem Fuschlsee bildet. Bei km 74 hätte ich wieder die Labestation erreicht, bei der ich jetzt auf die 62 Kilometerstrecke abgebogen bin. 19:30 Uhr ist dann hier Cut-Off.
Genug voraus geschaut, dies ist jetzt die 62 Kilometer-Strecke, auf die die 105 Kilometer Läufer einbiegen:
Auf dem glasklaren Fuschlsee dümpeln kleine Kähne, in denen „Sportangler“ sitzen und lautstark Bier trinken. Da fragt man sich, worüber die Forellen nun reden. Der Fuschlsee endet nach 10 Kilometern in einer wunderschönen Moorlandschaft, die mit den weißen Puscheln des Moorgrases garniert ist. Von einem Holzsteg aus sieht man fette Forellen in einem glasklaren Priel. Wenn man „Fore“ hört, soll man in Deckung gehen, sagt ein Schild am Golfplatz und meint damit nicht die Gefahr, die von –„ Fore-llen“ ausgeht. Der Golfplatz hier am See besteht aus einem fußballplatz-großen Stückchen im Sumpf, in dem sich zwei „Sportler“ wichtig machen, indem der eine die Fahne hochhält, während der andere versucht, das Loch zu treffen. Als ich den „Golfplatz“ umrundet habe, steigen die beiden sichtlich erschöpft in einen Van und lassen sich zum nächsten Loch fahren.
Das Schloss Fuschl wurde als Jagdschloss im 15. Jahrhundert erbaut, dient nun als Luxushotel. In den 50er Jahren wurden hier die Sissi-Filme gedreht. Hinter dem Schloss beginnt der 10 Kilometer lange Aufstieg bis zu unserem morgendlichen Kilometer 17 Punkt, den Plötz-Wasserfällen. Mir kommen nun die eigentlichen 62-Kilometerläufer entgegen, die nach mir, dem ehemaligen 105 Kilometerläufer gestartet sind. Zurück bei der Verpflegungsstation Hof bekomme ich wortlos ein eiskaltes Stiegl in die Hand gedrückt. Hier ist der Wendepunkt der Marathonläufer (1647 hm), hier gibt es Läufer, die sich von 62 Kilometern auf 42 runtermelden. Das geht problemlos, danke an die Orga! Die Helfer passen gut auf: „Stop-wo willst du hin?“-„Nach Hause!“ antworte ich. „Ach du hast umgemeldet“. Schande über mich!
Auf dem Rücken von Dick, dem alten Mann aus Kentucky, klebt der halbe Wald. Er hat sich beim Aufstieg hingelegt, ist dann auf dem Rücken ins Tal gebrettert. Klasse Einlage für einen Flachländer. Auch Jin Ming aus Guangzou ist ein Flachländer, wirkt geknickt wegen der Höhenmeter. Eddi Goh, aus Hongkong glaube ich, hängt im Delirium am VP. Ich kann mir Zeit lassen und mit den zahlreichen Läufern aus Übersee quatschen, das gefällt mir.
An der Labestation im Koppler Moor lasse ich mir noch mehr Zeit, es gibt wieder Stiegl, wenn auch warm. Über Rajendra aus Mumbai lache ich mich kaputt, er spricht wie Rajesh Koothrappali aus der Serie Gang Bang Theory: „We all flat in India!“
Für die „Unterdistanzen“, also für die 62 und 42 Kilometer, gibt es keine Cut-Off Zeit: Um 1 Uhr nachts schließt das Ziel. Da müssen sich nur die 105 Kilometerläufer verdammt anstrengen. Der Mozart100 wird bald ein Punktesystem für die Quali einführen, da bin ich mir sicher. Bis jetzt ( auf der 62 Kilometerstrecke) fühle ich mich nicht arg gefordert, weil ich mir Zeit lasse. Dann aber beginnt ein erneuter Aufstieg, von dem man den schneebedeckte Watzmann (2713m) sehen kann. Der Name passt genial zu dem mächtigen Berg, der Lauf beginnt jetzt erst.
Aufstieg zum Nockstein (1043), jetzt geht´s gewaltig auf die Eier. Dann sagt mir ein Wanderer, ich müsse noch auf den Gaisberg. Ich sage: „Niemals!“ Liebe Leser, Ihr werdet Euch im nächsten Jahr an meine Worte erinnern: Jetzt nämlich wird´s brutal: Selten so ein Gehirnmartyrium erlebt! Wir haben km 95 bzw. ich habe 53, es ist die Hölle.
Genau nach 100 Kilometern (für mich 57 km) erreichen wir die ersten Häuser von Salzburg und steigen hinauf zum Kapuzinerberg. Johan aus Plano (Texas) ist am Fluchen, Plano hat seinen Namen bestimmt nicht wegen der Berge. Kevin kommt aus Canada, arbeitet für Tropicana, einer Tochter von Pepsi, verdurstet sichtlich, hält sich krampfhaft am Holzgeländer fest und holt sich nen Schliffer in die Hand. Yushiro aus Japan verbeugt sich vor mir, weil ich ja die 62 Kilometer laufe, und er nur die 42.
Der Aufstieg für die 105 Kilometerläufer in der Dunkelheit auf den Kapuzinerberg wird bestimmt nicht lustig. Bevor dieser Ort christianisiert wurde, war der Berg Krönungsstätte der Keltenkönige, die durch den Salzhandel reich geworden sind. Die Römer aber brachten ihr billiges Meersalz mit. Bei meinem Aufstieg sehe ich viele Eiben, die heiligen Bäume der Kelten, mit deren roten Beeren sich die Krieger ihren Feinden körperlich entzogen. Ich entziehe mich der Laufstrecke und gehe in die Klosterschänke.
Wer denkt, die letzten Kilometer sind schnell erledigt, der täuscht sich. Dies ist wirklich ein Ultra! Gut, irgendwann geht es abwärts und unser Kapuzinertrail endet unten in Salzburg an einem unscheinbaren Torbogen. Hier am Torbogen ist das Haus von Joseph Mohr. Seine Musik ist die bekannteste der Welt, bekannter als die der Beatles oder die von Mozart: 1818 schrieb er die schönsten Worte des Universums: „ Stille Nacht, Heilige Nacht“. 1792 geboren, ist er ein Deutscher. Nein er ist Salzburger!
Ich komme jetzt in die Fußgängerzone, wo mich die Leute freudig begrüßen. Es sind gutaussehende Leute. Salzburg ist nicht Deutschland. Ich nehme die Kurve über die Brücke, geradeaus wäre jetzt das Wohnhaus von Mozart. Makartplatz 8 ist die Adresse.
Wir laufen über die Staatsbrücke. Ein Ordner weist mich in die Unterführung, unter die Uferstrasse ein. Die Sicherungsmaßnahmen sind streng. Ich danke, denn ich bin nicht mehr konzentriert. In der Fußgängerzone wird es eng. Rechts ist Mozarts Geburtshaus, jetzt großes Museum. Ich komme nicht durch die Touris durch. Ein Einheimischer brüllt mir den Weg frei, verschafft mir Respekt bei Chinesen und Koreanern. Dann laufe ich an den fettbestückten Verkaufsständen vorbei, Ziel: blendendweißer Dom, wo schon die Abschlussparty tobt. Ich bin zwar nur 62 gelaufen, aber mir wird es kalt am Rücken. Endlich wieder!
Spät lege ich mich im Zielbereich auf den steinigen Boden. Ich habe den Scenic Ultra gefinischt. Eine Rechnung aber bleibt offen. Ein Helfer deckt mich mit Goldfolie zu: „Bist du ok?“ – „ Ja, aber ich will den Zieleinlauf vom letzten Läufer mitbekomme. 1:31 Uhr, beim Zieleinlauf von Norbert, weckt mich die Begeisterung des Moderators, ich versuche aufzustehen, geht nicht. An all die wenigen Finisher: Respekt ! Das wäre Mozart nie gelaufen! An die Orga: Endlich wieder ein Lauf, für den ich trainieren muss! Wir sehen uns wieder!