Wie schon im letzten Jahr beginnt der Napf-Marathon für mich bereits am Vorabend. Nach zweistündiger Sintflut-Kreuzfahrt vom Wallis her komme ich gerade noch rechtzeitig zur Startnummernausgabe. Zusammen mit der Nummer gibt es ein schönes königsblaues Funktionshemd. Die Wettervorhersage verspricht, dass darunter zusätzlich Wärmendes getragen werden muss.
Für den Moment lässt mich das kalt, denn die Mehrzweckhalle ist beheizt und es gibt warmes Essen. Die Mehrheit der Anwesenden sind treue Helfer, die meisten in irgendeiner Form den Turnvereinen Trubschachen und Trub verbunden, welche das gesellige Zusammensein auf dem Dorf in diesem Rahmen pflegen. Daneben ein paar Auswärtige, die an ihrem Plan festhalten, den Napf-Marathon egal bei welchem Wetter in Angriff zu nehmen.
Es ist nicht der Regen, welcher unablässig aufs Autodach trommelt, der mir keinen guten Schlaf gönnt. Ich bin selber schuld. Beim Spaghetti Essen habe ich zu fest zugeschlagen und mein Magen schlägt sich mit dem Überfluss der üppigen Saucen, die ich ihm zugemutet habe, herum.
Beim Aufwachen sind die Fensterscheiben innen nässer als außen, ein Zeichen, dass es draußen zwar kalt aber trocken ist. In der Tat sind bei Tagesanbruch erste Lücken in der Wolkendecke zu erkennen. Wenn das Wetter so bleibt, dann ist das schon eine große Überraschung und eine gewaltige Steigerung gegenüber den Vorhersagen. Doch es wird noch besser. Schon vor dem Start, zu welchem die Teilnehmer aller bisherigen Austragungen besonders begrüßt werden, sind die Lücken in den Wolken mit blauer Farbe hinterlegt. „La vie en bleu“ gewissermaßen. Rosa wird es für mich nicht werden, dazu spannen die Oberschenkel vom gestrigen Tag zu sehr, das erwarte ich auch nicht so, Spaß machen soll und wird es trotzdem.
Ich reihe mich am Schluss des Feldes ein und habe schon bald Bedenken, ob ich das Ding heute durchziehen kann. Das Atmen geht schon auf den ersten hundert Meter nicht so locker, wie ich mir das vorgestellt und gewünscht habe. Die Muskulatur wird heute das kleinere Problem sein. Ich halte mich beim gleich folgenden Aufstieg zurück und warte mal ab. Je länger ich unterwegs bin, umso befreiter kann ich atmen. Von hinten einen Teil des Feldes aufzurollen, das kann ich mir abschminken. Aber so lange ich den Besenläufer nicht zu Gesicht bekomme oder seinen Atem hinter mir spüre, läuft es mir gut.
Die ersten sieben Kilometer werden zwar auf einer asphaltierten Straße zurückgelegt, doch links und rechts davon, so weit das Auge blickt, ist Natur. Die von Westen hereinströmende trockene Luft schafft es, zusammen mit den topografischen Verhältnissen der Emmentaler Hügellandschaft für wunderbare Stimmungsbilder zu sorgen. Nebelschwaden schweben über den Tobeln während die höher liegende Wolkendecke aufreißt und die Morgensonne immer mehr Flecken in der Landschaft in ihr Licht taucht. Die etwas weiter entfernt liegenden höheren Hügelzüge sind frisch verschneit und stehen im Kontrast mit dem noch saftigen Grün der Weiden, und dem erst leicht gefärbten Laub der Obstbäume und Wälder. Dazu kommen üppiges Sommer- und Herbstflor, das die stattlichen Bauernhäuser schmückt. Was kann einem Besseres passieren, als diese sich dauernd ändernden Bilder kostenlos vorgesetzt zu bekommen und dabei noch alle zweieinhalb Kilometer von freundlichen Helfern verpflegt zu werden. Dass ich von ihnen und auch von Läufern positive Rückmeldungen zu meinem letztjährigen Bericht und unserer Website im Allgemeinen erhalte, freut mich natürlich zusätzlich.
Mittlerweile ist meine Maschine so angelaufen, dass ich im gewählten Tempo auch keine Einschränkungen beim Atmen habe und so kann ich den Wechsel auf die Trampelpfade mit ihrem steten Auf und Ab ohne Schwierigkeiten in Angriff nehmen. Somit ist die folgende Gratwanderung eine rein topgrafische und geografische Angelegenheit. Links geht es hinunter auf Berner Gebiet, die Täler rechts gehören zum Kanton Luzern. Die an mir vorbeiziehenden Läufer wiederum gehören zum Teambewerb, den 2er-Staffeln.
Gewisse Abschnitte kommen mir mit ihren Details sehr vertraut vor, an andere kann mich nur noch ganz schwach bis kaum erinnern. Vielleicht liegt es daran, dass der etwas auffrischende Wind die Verhältnisse sehr schnell verändert. Mal wabern ein paar Nebelschleier über den Grat, mal hüllen sie mich ein, dann scheint es, dass die Hochnebeldecke Bestand haben würde, dann wiederum scheint die Sonne durch. Alle diese Stimmungen kommen auf dem höchsten Punkt der Strecke, dem Namensgeber Napf auf 1400 m, zu einem Potpourri zusammen und werden zusätzlich durch den Schnee verstärkt, der für eine besondere Note sorgt. Es ist ruhig hier oben, denn die Teilnehmer des Halbmarathons sind bereits losgezogen und ich werde kaum einen von ihnen noch einholen können.
Dafür kann ich noch vor dem nächsten Verpflegungsposten wieder zu Beat aufschließen, mit dem ich für den Rest des Marathons unterwegs bin. Wir kommen ins Gespräch, lassen dieses beim steilen Aufstieg zum Höchenzi ruhen und nehmen es dafür mit den freundlichen Helfern beim dortigen Verpflegungsposten vor dem Bauernhaus mit dem leuchtenden Blumengarten wieder auf. Ramba Zamba und Partystimmung findet wo anders statt, aber herzliche Gastfreundschaft, das kann man hier erleben. Die Treichler nach dem elften Verpflegungspunkt Lushütte geben uns in ihrem Spalier ohrenbetäubende Unterstützung, enthusiastisch als wären wir die Ersten, kräftig als würden wir es nur mit diesem zusätzlichen Schub ins Ziel schaffen.
Mit allem was die Strecke und die Muskeln hergeben ziehe ich im mittlerweile ununterbrochenen Sonnenschein weiter, in der Hoffnung, dass ich Beat nicht bremse. Bei der Hohmatt frage ich, ob es dieses Jahr wieder Fondue gibt. „Ich glaube, sie haben es schon gegessen“, war die Antwort – mit der kleinen Bemerkung danach, dass ich im vergangenen Jahr früher an diesem Posten vorbeigekommen sei… Aber ein Bier könne er mir schon anbieten. Das ist wirklich nett, doch ich bin bisher so gut versorgt und hydriert worden, dass ich keinen Bedarf habe. Und weiter geht es.
Der folgende Posten 13 brachte mir letztes Jahr nur Glück. Mit einer lebensrettenden Patisserie wurde ich damals versorgt und auch heute werden uns Süßigkeiten angeboten. Die im Schokokuss enthaltene Energie sollte reichen bis ins Ziel. Pech nur, dass ich damit kaum mehr Kapazität für die bei den nächsten Posten angebotenen hausgemachten Kuchen habe. Tradition haben auch die feinen Bisquits aus dem örtlichen Traditionsunternehmen bei Kilometer 35. Tradition hat leider auch, dass die aus privaten Bestanden beigesteuert werden und nicht von der alteingesessenen Firma selbst. So sehr ich die Spezialitäten nach Originalrezepten der über hundertjährigen Firma auch schätze, das Marketing dürfte etwas moderner sein. Wie wäre es mit einer Packung Bisquits für jeden Finisher? Der Hinweis auf der Verpackung, dass der Fabrikladen auch am Sonntag geöffnet ist, würde vermutlich zu ein paar kleinen Umwegen auf dem Heimweg animieren und sogar Spätankömmlingen wie mir möglich sein.
Mit nur noch wenigen sanften Gegensteigungen sind die letzten Kilometer ohne Qual zu schaffen. Schönes Wetter, schöne Landschaft nette Leute – was will man noch mehr?
Während wir ins Ziel kommen, sind die Siegerehrungen im Gange. Hervorragende sportliche Leistungen wurden auch heute wieder abgeliefert, möglich waren aber auch die nur danke der engagierten Helferschar, die diesen unter seinem Wert gehandelten Anlass ausrichtet. Schade, dass eine recht kleine Anzahl Teilnehmer den Weg nach Trubschachen gefunden hat. Diejenigen, die dem Anlass und ihrer ursprünglichen Absicht teilzunehmen die Treue gehalten haben, wurden mit einem Lauf bei traumhaften Bedingungen belohnt.
Die anderen können sich die Bilder anschauen und sich darüber grämen, dass sie wegen den schlechten Wetteraussichten die Veranstalter im Regen stehen gelassen und dabei selbst so viel verpasst haben.