Gäbe es so etwas wie eine Bundesliga der Marathons, dann hätte Dresden etwas geschafft, was keine deutsche Stadt gelingt: Zwei Marathons unter den Top 20 der Republik zu platzieren.
Beide Läufe mit Finisherzahlen im vierstelligen Bereich, Tendenz steigend, beide im Zentrum Dresdens endend. Doch damit hören die Gemeinsamkeiten schon auf. Und das ist letztlich wohl das Erfolgsgeheimnis für die Koexstistenz zweier Marathons im gleichen Revier: Hier der cityorientierte Dresden Marathon im Oktober und dort der landschaftsgeprägte Oberelbe Marathon im April, Letzerer nach dem Rennsteiglauf übrigens der teilnehmerstärkste seiner Art in Deutschland.
Dabei wird ein Nichtortskundiger mit dem Begriff “Oberelbe” erst einmal kaum etwas anfangen können. Dass die Strecke mit Sightseeing-Spots ersten Ranges, auf der ersten Hälfte landschaftlicher, auf der zweiten Hälfte auch kultureller Art, gespickt ist, wird jedoch schnell klar, wenn man deren Verlauf genauer unter die Lupe nimmt. Elbabwärts führt der Punkt-zu-Punkt-Kurs fast immer am linken Flussufer entlang, startend in Königstein, sodann mitten durch das Elbsandsteingebirge über Pirna und die Elbauen bis in das Herz der großen sächischen Metropole. Mächtige Felsen, Burgen und Schlösser säumen den Weg, alles verpackt in üppige Natur und fast stets dabei: der breite, träge Fluss.
Erster Anlaufpunkt für die Teilnehmer ist die Mall des World Trade Center, einem chicen neuzeitlicher Büro- und Geschäftskomplex im Zentrum Dresdens, überragt von einem blau schimmernden 16-stöckigen Glaszylinder. Der luftige, von einem Glasdach überspannte Lichthof der Mall wird komplett von der Laufmesse belegt. Selten habe ich eine Messe in stilvollerem Ambiente erlebt. Ganz entspannt kann man hier am Freitag oder Samstag seine Startnummer holen und durch die Messestände oder auch Shops der Mall bummeln. Die offizielle Pasta-Party findet zwar erst nach dem Lauf im Ziel statt, aber wer es vorzieht, vorher Nudeln zu “tanken”, hat auch hier gute Gelegenheit.
Zugegebenermaßen zieht es die meisten aber doch recht schnell nach draußen. Zu herrlich ist einfach das Wetter. Die sommerlichen Temperaturen von fast 30 Grad im April treiben die Menschen auf die Elbwiesen und in die Cafes und Lokale der nahen Altstadt. Und im warmen Abendlicht schauen die zahlreichen historischen Monumente, seien es Zwinger, Semperoper, das Schloss oder die Frauenkirche - einfach noch einmal viel schöner aus.
Nur beim Gedanken, dass das auch am morgigen Lauftag so weitergehen könnte, wird mir ein wenig mulmig. Denn viele Passagen der Strecke, vor allem auf der zweiten Hälfte, sind ohne Schatten.
Gestartet wird der Lauf weit draußen, genauer gesagt im 42 km elbaufwärts gelegenen Königstein im Herzen des Elbsandsteingebirges, direkt zu Füßen der berühmten gleichnamigen Festung. Für die Anfahrt der Läuferscharen am Sonntag Morgen ist ein Sonderzugservice der S-Bahn eingerichtet. Alle halbe Stunde fährt die doppelstöckige S1 zwischen 7 und 8:30 Uhr, ab dem Hauptbahnhof in etwa 50 Minuten, zum Startort. Wenn man sein Auto gleich beim späteren Ziel, dem Heinz-Steyer-Stadion, parken will, steigt man bereits zwei Stationen früher in “Dresden Mitte” zu, was zudem den Vorteil hat, schon vor dem Auftrieb am Hauptbahnhof im Zug zu sein. Und das heißt: der Sitzplatz ist sicher. Die Startnummer dient gleichzeitig als Zugticket.
Entspannend ist die Fahrt durch die Vororte und das Elbtal. So kann ich schon einen ersten Eindruck von Teilen der vor uns liegenden Laufstrecke gewinnen - wenn ich nicht gerade wegdöse. In Heidenau-Großselbitz, eine Station vor Pirna, verlässt ein großer Teil der Läufer bereits den Zug. Es sind Halbmarathonläufer, die von hier schon um 9:15 gen Dresden starten - und damit den schönsten Teil der Strecke verpassen. Immer enger wird das Elbtal, schroffer die Felsen, fast schon dschungelartig die Natur.
Am kleinen Bahnhof der 2.000 Seelen-Gemeinde Königstein heißt es dann auch für die Marathonis: aussteigen. Der sich aus den Waggons ergießende Läuferschwall strömt auf die unterhalb des Bahnhofs direkt am Wasser gelegene Elbwiese. Ein richtig lauschiges Fleckchen ist das Startareal, naturumrahmt mit Panoramablick auf das Dorf und die dahinter hoch emporragende Festung. 240 m über dem Elbufer auf einem 9,5 ha weiten Felsplateau thront der mächtige und unnahbar wirkende Komplex der Festung Königstein. Bis ins 13.Jahrhundert gehen deren Ursprünge zurück, aus denen sich im Laufe der Zeit eine der größten Festungsanlagen Europas entwickelte. Bis zu 42 m hoch und 1.800 m lang sind allein die Wehrmauern. Ihren guten Erhaltungszustand verdankt die Burg dem Umstand, dass sie nie erobert und nie zerstört wurde. Gestürmt wird sie dagegen heute alljährlich von etwa einer halben Million Besucher.
Da ich mit einem der früheren Züge gekommen bin, ist es auf der Elbwiese zunächst noch ausgesprochen ruhig. Im Halbstundentakt schwappen neue Hundertschaften heran. Ich genieße noch einen Becher heißen Tee, der den Läufern frisch angerührt angeboten wird, lege mich ins Gras und lausche den launigen Sprüchen des Startmoderators, etwa folgenden Kalibers “Die Stimmung ist noch gut; das ändert sich dann nach fünf Stunden”.
Langsam füllt sich das Gelände, aber die Atmosphäre bleibt relaxt. Den drohenden Wetter-Gau versuche ich zu verdrängen. Denn die Schleierwolken, die die Sonne bislang in Schach hielten, lösen sich auf und die aufziehende Wärme lässt erahnen, dass der heutige Lauf eine Herausforderung der besonderen Art bereit hält. Etwas Besonderes sind auch die geistlichen Worte, die uns kurz vor dem Start zuteil werden: Ein Pfarrer hält eine kurze Andacht, in der er es schafft, den Bogen vom Marathon zu (Selbst)Vertrauen und natürlich dem rechten Glauben zu spannen. Nach dem abschließenden Gebet bittet der Startsprecher kurz vor 9:30 Uhr zur Startaufstellung. Mit so einem Segen kann ja jetzt eigentlich nichts mehr schief gehen.
Pünktlich zum Start macht sich auch der Raddampfer “Stadt Wehlen” durch lautes Tuten bemerkbar. Er ist extra für die Laufbegleiter gechartert und folgt dem Lauf, soweit es eben geht, auf dem Fluss.