Vom Elbufer werden wir in die Altstadt hinein gelotst, die wir in zahlreichen Schlenkern durchkreuzen. Durch die Gassen fällt unser Blick auf die die Stadt überragende Festung Sonnenschein. Neugierig beäugen die Gäste in den Straßencafes das Treiben. Ein lärmiges Rauschen dringt durch die winkeligen Straßen und rückt immer näher. Noch eine Kurve und wir befinden uns im Herzen der Lärmquelle, auf dem mittelalterlichen Markplatz von Pirna (km 18), beherrscht vom spitzgiebeligen Rathaus (14. Jh.) und der wuchtigen Marienkirche.
Zu beiden Seiten der Strecke haben sich Cheerleadermädels aufgereiht und bereiten uns, unterstützt von zahlreichen anderen Zuschauern, einen bunten, lautstarken Empfang. Eine tolle Stimmung, die uns hier so unvermittelt entgegen schlägt. Für kurze Zeit vergesse ich ganz, dass ich eigentlich schon ziemlich groggy bin. So plötzlich, wie wir in dieses Stimmungsnest eintauchen, so schnell sind wir auch wieder draußen und umgeben von der Sonntagsnachmittagsruhe eines beschaulichen Städtchens, selbst als wir kurz darauf die Fußgängerzone der Altstadt passieren.
Ehe wir uns versehen, ist das Kapitel Pirnaer Altstadt wieder beendet und wir setzen am Ufer der Elbe entlang unseren Lauf fort. Die Hügel sind in die Ferne gerückt. Wiesen und hohe schlanke Bäume wie Weiden und Birken bestimmen das Bild. Als ich die Halbmarathonmarke passiere, fällt es mir schwer mir vorzustellen, heute nochmals die gleiche Distanz zurück legen zu müssen. Wie selten sehne ich die Versorgungsstationen herbei. Ein stetiger leichter Wind verhindert zwar, dass die Hitze allzu sehr drückt, doch verhindert dieser nicht, dass der Schweiß in Strömen fließt und die Dehydrierung schneller als sonst voran schreitet.
Unsere Erholungsparadiese sind etwa alle 5 km aufgebaut. Wasser und Isogetränke, Bananen, Äpfel und Früchteriegel gehören zum Standard, Tee und Cola kommen auf der zweiten Streckenhälfte dazu. Dazu sind vereinzelte “Wasser pur”-Stellen eingerichtet. Fast so viel Wasser wie in die Kehlen fließt über die Köpfe der Läufer. Die Landschaft ist zwar schön, entspannend, geeignet für geradezu meditatives Dahinlaufen. Doch merke ich, dass nicht nur ich heute kämpfen muss. Vereinzelte Läufer gehen schon, selbst einer der 3:30-Zugläufer hat das Handtuch geworfen und marschiert mutterseelenallein dahin.
Bei km 28 gibt es wieder etwas anderes zu sehen als Natur. Am gegenüber liegenden Ufer zieht Schloss Pillnitz vorbei. Der aus drei Teilen bestehende, von gepflegten Parkanlagen weitläufig umschlossene Gebäudekomplex gilt als besonders prägnantes Bespiel für die architektonische Chinamode im 18. Jh.. Vor allem die langgezogenen, geschwungenen Dächer und Gesims des der Elbe zugewandten und damit auch in unser Blickfeld fallenden Wasserpalais lassen das unschwer erkennen.
Wenig später erreichen wir mit Leuben und sodann Laubegast erste Ausläufer des Stadtgebiets Dresdens, noch ländlich ruhig gelegen, mit schönen eingewachsenen alten Villen und viel Flair. Es folgen erneut die weiten saftig grünen Elbwiesen, die eines der Markenzeichen des Dresdner Elbtals sind. Immer mal wieder rauscht einer jener Schaufelradausflugsdampfer vorbei, mit denen man das Elbtal besonders bequem erkunden kann. Die “Stadt Wehlen” ist allerdings nicht mehr dabei.
Fern am Horizont wird eines der Wahrzeichen Dresdens sichtbar: Das “Blaue Wunder”. Als Unbedarfter wird man sich darunter alles Mögliche vorstellen, aber wohl kaum eine Brücke. Als Wunder empfand man beim Bau der Hängebrücke anno 1893 jedoch, dass die Konstruktion aus 3.500 t Stahl bei einer Spannweite von 280 m ohne seinerzeit noch üblichen zusätzlichen Stützpfeiler im Fluss auskam. Und da der Stahl eine blaue Schutzfarbe erhielt, war der Name “Blaues Wunder” im Volksmund schnell geboren. Der offizielle Name “Loschwitzer Brücke” ist auch heute noch kaum gebräuchlich.
Nur mühsam schleppe ich mich zur Verpflegungsstation, die direkt unterhalb des mächtigen Stahlkonstrukts bei km 35 eingerichtet ist und zudem noch mehr als sonst zu bieten hat: überraschend großen Zuschauerandrang, Musik, Cheerleader. Ein großer Streckenbogen weist die Stelle als Startpunkt des 10 km-Laufs aus. Die Anfeuerungsrufe und die gute Stimmung können mich allerdings kaum noch motivieren: Bei mir ist heute einfach die Luft draußen. Hitzeläufe sind eben nicht mein Ding. Nurmehr im Marschtempo starte ich zur nächsten Etappe, hinaus in die immer breiter werdenden Wiesen, durch die sich unser Weg windet.
Schon von weitem fallen mir am gegenüber liegenden Elbhang, eingebettet in Weinberge und umrahmt vor riesigen alten Bäumen, die so genannten drei Albrechtschlösser ins Auge: Schloss Eckberg, das Lingner Schloss und zu guter letzt das Schloss Albrechtsberg. Während mich türmchenreiche Schloss Eckberg irgendwie an ein feudales englisches Landgut mit eigenem Hausgeist erinnert, macht Schloss Albrechtsberg, Mitte des 19. Jh. im klassizistischen Stile errichtet, eine gute Figur als protzige toskanische Landvilla und überaus repräsentative Kulisse für herrschaftliche Bälle und Bankette.
Im Schneckentempo schleiche ich weiter, mal im mühevollen Trab, mal im schnellen Schritt - das Tempo ist fast das Gleiche. Bis hin zum “Menetekel” des Elbtales: der “Waldschlößchenbrücke” (km 37). Die so harmlos klingende, die Elbwiesen querende und immer noch nicht ganz fertiggestellte Brücke löst bis heute heftige Diskussionen aus. Denn nachdem die Kulturlandschaft Dresdner Elbtal ab Schloss Pillwitz bis ins Zentrum Dresdens aufgrund Ihrer Einmaligkeit im Juli 2004 ins UNESCO-Welterbe aufgenommen wurde, beging man mit dem Bau dieser Brücke einen Fauxpas, der von den UNESCO-Kommissären als so schwerwiegend landschaftszerstörend angesehen wurde, dass man nach zeitweiser Aufnahme in die “Rote Liste des gefährdeten Welterbes” dem Elbtal Mitte 2009 schon wieder die Anerkennung als Welterbe entzog - ein (fast) einmaliger Vorgang, der große Wellen schlug.
Unter der Brücke höre ich in der Ferne bereits die Geräuschkulisse der nächsten Versorgungsstelle bei km 38. Am Start hatte ich mir noch vorgestellt, die für dort angekündigte Sonderverpflegung, ein Pilsener Bierchen, zu genießen. Doch als ich jetzt vorbei komme, sendet mir mein Magen ganz leise die Botschaft, doch besser darauf zu verzichten.