Wie auch immer, bereits kurz nach dem Start hat sich das Läuferfeld auf dem Radweg halbwegs auseinander gezogen und bewegt sich zunächst entlang einer hohen Ufermauer durch das Elbtal abwärts. Hier ist der Untergrund mit seinem Kopfsteinpflaster während der ersten ein, zwei Kilometer etwas unangenehm, aber nicht wirklich ein Problem.
Problematischer ist dann schon, dass mir altem Hammel bereits nach wenigen hundert Metern nach dem Start der Schuhriemen aufgeht. Bücken und binden geht nicht, auf dem engen Radweg, links die Mauer, rechts die Elbe, hätten die andere Läufer in dem engen Feld mich zwangsläufig übersehen. Erst nach fast einem Kilometer kann ich mich hinter einem Mauervorsprung hinknien und mein Problem lösen.
Entgegen aller Erfahrungen gebe ich anschließend mehr Gas als eigentlich gut wäre. Denn vor dem glatten Weiterlaufen haben sich noch zwei Hindernisse in Form von Bahnübergängen aufgebaut. Wenn ich dort nicht ausgebbremst werden will, muss ich spätestens 40 Minuten nach dem Start die Bahnlinie überquert haben. Sicherheitshalber will ich ein wenig mehr an Zeitreserven aufbauen, man weiß ja nie.
Hoch über uns liegen Sandsteingipfel von meist 10 bis 70 Meter Höhe. Wären wir ein wenig später dran, könnten wir vielleicht in dem einen oder anderen der Felsen bunte Flecken erkennen, denn mit über 17.000 Kletterwegen gehört die Sächsische Schweiz zu den größten Klettergebieten Europas.
Zwischen den Kurorten Rathen und Wehlen geht es etwas auf und ab, andere Muskeln kommen zu Zuge und ich genieße den Trab durch die Landschaft. Etwas anders sieht es dann schon wieder hinter dem Ort dem schönen Namen „Strand“ aus. Eine nicht besonders steile, aber dafür lang gezogene Steigung zehrt an den noch reichlich vorhandenen Kraftreserven. Im Läuferfeld wird es stiller.
Knapp zwei Minuten bevor sich die Schranken wieder öffnen passiere ich den letzten Bahnübergang. Zuvor stand Güterzug um Güterzug wartend auf den Gleisen.
Kurz nach dem dritten Verpflegungspunkt verlasse ich die markanten Gipfelzüge der schönen Sächsischen Schweiz und laufe auf Pirna zu. Dort ist um 09:15 Uhr der Halbmarathon gestartet worden, sicherlich noch fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
Nachdem ich Schloss Sonnenstein passiert habe und bei Kilometer 18 das holprige Kopfsteinpflaster rund um den Marktplatz überquere, habe ich nur kurz Zeit das Canalettohaus und das hübsche Rathaus zu bewundern, bevor ich das Örtchen mit den malerisch engen Gassen wieder verlasse. Wie mag es dem jungen Venezianer Maler Canaletto wohl Mitte 1700 gewesen sein in völlig fremder Umgebung und winterlich kalter Witterung? Gleichwohl hat er auch von Pirna herrliche Ansichten gemalt, bevor er sich wegen mangelnder Aufträge in Richtung Wien und München auf Arbeitssuche machen musste. Die Probleme von 1750 und 2010 ähneln sich.
Ich jedenfalls habe momentan kein Problem mit Kälte. Im Gegenteil. Ungebremst scheint die Sonne vom wolkenlos blauen Himmel. Seit Kilometer 12 etwa gibt es praktisch keinen Schatten mehr. Klammheimlich schicke ich einen Dank die Elbe herunter nach Dresden an meine Frau, die daran gedacht hat, heute Morgen die Sonnencreme auszupacken. Auf den Oberarmen der Läufer um mich herum bilden sich die ersten roten Flecke, die sich in den folgenden Stunden zu teilweise auffällig rotem Sonnenbrand auswachsen.
An der Halbmarathonmarke hinter Pirna steht ein einsames Auto am Elbufer geparkt; ein Generator tuckert leise vor sich hin als ich trotz der Verzögerung zum Beginn meines Laufes überpünktlich die blaue Matte überquere. Wie sich noch herausstellt, war das ein Fehler. Nein, nicht das Überqueren der Marke, sondern der Versuch, mit aller Gewalt den letzten Bahnübergang mit einer Zeitreserve überqueren zu wollen. Ich habe vergessen, wer den Satz „Jede auf der ersten Hälfte gewonnene Sekunde ist eine verlorene Minute auf der Zweiten“ geprägt hat. Wer auch immer es war, er hat gewusst was er sagte.
Der Elbe ist es egal, was an ihrem Ufer geschieht. Ruhig und verspielt zieht sie parallel zu uns ihre Bahn. Gelegentlich unterbricht lautes Tuten eines Dampfschiffes die Stille im Tal. Auf den saftig grünen Wiesen tummeln sich Spaziergänger. Direkt am Ufer liegen hier und da Pärchen und kleine Gruppen müßig in der Sonne. Das Verlangen in mir, mich selbst kurz, ganz, ganz kurz nur, ebenfalls dort auszustrecken und die Füße ins Wasser zu halten, wird mit steigenden Temperaturen und fortschreitender Distanz immer stärker.
Unmittelbar hinter dem 30km-Schild sehe ich aus einiger Entfernung ein buntes Bündel lang auf dem Boden bewegungslos ausgestreckt liegen. Erst als ich kurz davor bin bewegt sich der vermeintlich zusammengebrochene Läufer und entpuppt sich als Fotograf in ungewöhnlicher Position.Spontan fallen mir die jungen Leute auf Fahrrädern ein, die mir bereits mehrfach begegnet sind. „Fahrrad Sanitäter“ steht auf ihren grellgelben Warnwesten. Warum Fahrräder Sanitäter benötigen wird mir nicht ganz klar.
Zwischen Kilometer 31 und dem blauen Wunder höre ich von der Elbe her lautes, rhythmisches Rufen „Und eins und zwei, und eins und zwei“ brüllt eine offenkundig geschulte Kommandostimme in schneller Folge. Zuerst vermute ich einen Drill Sergeant der Dresdner Offiziersschule des Heeres mit einem Haufen leidgeprüfter Fähnriche im Gefolge, bis ich auf der anderen Elbeseite ein Drachenboot gegen die Strömung ankämpfen sehe. Wie wild werden die Stechpaddel in das Wasser gerührt. Scheinbar beobachte ich ein paar Touristen bei der Ausübung ihres Freizeitvergnügens.
Direkt vor dem blauen Wunder hat sich eine Gruppe Cheerleader postiert, deren orangegelbe Puschel in schönem Kontrast zu den schwarzen Kleidchen stehen. Ab hier zieht sich der Elberadweg in ewig langgezogenen Kurven auf Dresden hinzu, dessen Türme langsam aber sicher immer größer werden. Vorbei an einem monströs großen Kran auf Kettenfahrgestell geht es an der Baustelle der neuen Elbbrücke vorbei bis ich hinter Kilometer 39 auf eine Straße gelange. Von der Asphaltdecke her wird die Hitze spürbar stärker zurückgeworfen.
Die letzten Kilometer lenke ich mich mit den Sehenswürdigkeiten der Dresdner Altstadt ab, bis ich das Ziel im Stadion erreiche.
Neben einer tollen Medaille und einem Moderator, der seinem Pedant in Rom um nichts nachsteht, erwartet mich dort die einzige Enttäuschung rund um diese Veranstaltung. Offenkundig hat einer der Sponsoren falsch kalkuliert, so dass ich nur noch eine Miniportion alkoholfreien Weizenbieres abstauben kann. Gottseidank findet sich aber in den Tiefen meiner Taschen noch ein wenig Kleingeld, so dass ich mir den Traum von eiskalten und beschlagenen Bierglas doch noch an einem Bierpavillon erfüllen kann.
Marathonsieger
Männer
1 Mazerski, Bartosz Zantyr Sztum 2:25:00
2 Janicki, Jaroslaw Hermes Gryfino 2:29:29
3 Diehl, Marco LaufArena-LaufkultTour 2:33:20
Frauen
1 Schlender-Kamp, Angelika HSV Neubrandenburg 3:07:29
2 Marx, Christin TSV Dresden 3:09:33
3 Ullrich, Doreen USV Jena 3:20:49