Es ist dieser eine, erste Augenblick. Der Moment, der auf einmal tausend Empfindungen durch meinen Körper strömen ließ. Nie werde ich jenen Tag im März 2009 vergessen, als mich die Flugroute auf den Weg zum Marathon in die Antarktis von Buenos Aires nach Ushuaia über die Weite Patagoniens führte. Gebannt schaute ich aus dem kleinen Flugzeugfenster auf das unter mir liegende wilde Paradies. Sofort war es da, dieses Gefühl von Sehnsucht. Es gibt Landschaften, die vergisst man sein Lebtag nicht und so blieb sie bis heute als Sehnsucht in meinem Herzen.
Ausdauer ist bereits bei der Anreise zu diesem einzigartigen Marathon, bei dem ich mich für die Ultra-Strecke von 63 Kilometern angemeldet habe, gefragt. Denn der Weg aus Deutschland bis an den Start des Patagonian International Marathon im äußersten Süden Südamerikas ist verdammt lang und alles andere als eine Kaffeefahrt. Die Frage, die man sich vor dem Buchen solch eines Trips stellt, lautet: Ist ein gleitender Kondor, grasende Guanakos, ein kalbender Gletscher und eiskalter Wind und Wasser fast am Ende der Welt mehr als dreißig Reisestunden wert?
Chile, das sind die Osterinsel, die knochentrockene Atacama-Bergwüste, aber auch die Anden. Sie sind die zweithöchste Gebirgskette der Erde nach dem Himalaya. Über ein Viertel des Erdumfangs erstreckt sich die sogenannte Mauer der Cordillera de los Andes am Westrand von Südamerika. Dabei bildet die Andenkette vom 18. bis zum 52. Breitengrad die natürliche Grenze zwischen Chile und Argentinien.
Vor etlichen Stunden betrat ich das Gelände des Frankfurter Flughafens. Kurz vor dem Nachtflugverbot dröhnte die vollbesetzte und eng bestuhlte Boeing 777 der lateinamerikanischen Fluggesellschaft TAM über mein Wohnhaus hinweg – heute war es mir egal. Die vor mir liegende Route führt mich über Sao Paulo nach Santiago de Chile über Puerto Montt und Punta Arenas, Punta Natales und schließlich und endlich in den Nationalpark Torres del Paine.
Den Flug bis nach Sao Paulo in Brasilien verschlafe ich. Dann aussteigen, warten, um zwei Stunden wieder später in die gleiche Maschine einzusteigen. Nun aber geht’s weiter nach Santiago de Chile. Was mich dort erwartet: Aussteigen, mit allem Gepäck auschecken. Hinten an der langen Menschenschlange anstehen, bis ich an den Schalter einer unfreundlichen, nicht englisch sprechenden Dame an der Pass- und Gepäckkontrolle stehe. Immerhin, wenigstens die RideShots von PowerBar, meine Nahrung für den Ultralauf, darf ich behalten. Ansonsten herrschen hier strengste Einreisebestimmungen. Penibel werde ich kontrolliert. Milchprodukte, Fleisch und Früchte sind gänzlich verboten – auch Honig oder Früchtetee. Selbst den verschweißten Globetrotter Kaiserschmarren habe ich, nach Rückversicherung mit dem Fremdenverkehrsbüro, zuhause gelassen. Hurra, ich habe einen weiteren Stempel in meinem Reisepass, ich bin in Chile, doch noch lange nicht am Ziel.
Die Zeit rennt. Wieder lange Schlangen, diesmal beim Check in. Panik. Durchgeschwitzt besteige ich als eine der letzten Passagiere zwei Stunden später das letzte heute startende Flugzeug nach Punta Arenas. Einige der Passagiere sehen aus wie Lauftouristen. Wie ich. Bordservice. Ich versuche einer Stewardess in feuerroter Uniform und feuerrotem Lippenstift zu erklären, dass ich keine Nüsse möchte. Sie versteht nur spanisch, ihre feuerroten Lippen lächeln nicht. Ich nehme die Nüsse dann doch.
Noch habe ich die letzte Nuss nicht geschluckt, setzt die Maschine auf. Es ist nur eine Zwischenlandung zum Tanken im chilenischen Hafenstädtchen Puerto Montt. Die Panamericana endet in Puerto Montt. Passagiere steigen aus, andere ein. Ich darf sitzen bleiben. Eine kleine Ewigkeit später heben wir wieder ab. Erneut Bordservice. Erneut versuche ich einer Stewardess in feuerroter Uniform und feuerrotem Lippenstift zu erklären, dass ich keine Nüsse möchte. Sie versteht mich, lächelt und ich beiße glücklich in ein Stück Kuchen!
Die Nachmittagssonne über den Wolken scheint grell durch das kleine Kabinenfenster, Unter uns verhüllt eine dicke Wolkendecke jeden noch so kleinen Blick auf die weite Patagoniens. Ich genieße die wärmenden Sonnenstrahlen, als müsse ich sie vorsorglich für die nächsten Tage speichern. „Puro, Chile, es tu cielo azulado“, aus einer Strophe der Nationalhymne: Rein, Chile, ist dein blauer Himmel. Die Farben, die Tiere, die Berge sind wie im Paradies; aber es wird regnen, bestimmt. Denn Patagonien wäre ohne seinen Regen nicht denkbar. Drei Tage ohne Regen gelten, laut verschiedenster Reiseführer, bereits als Sensation. Der Wind saust mir um die Ohren. Der erste Eindruck von Punta Arenas ist kühl und ungemütlich. Ja, ich bin in Punta Arenas, aber noch immer nicht am Ziel.
Drei Flugzeuge, viermal Starten und Landen, jeweils begleitet von einigen Turbulenzen. Irgendwann werde ich am Flughafen der südlichsten Großstadt Chiles an der Magellanstraße aus dem Bauch des letzten Fliegers ausgespuckt – fern jeglicher Orientierung.
Am frühen Abend, die erste Sensation: Die hier seltene Frühlingssonne wirft ihre letzten Strahlen auf eine mir noch unbekannte Stadt, Punta Arenas am dreiundfünfzigsten Breitengrad gelegen. Bevor der Panama-Kanal gestochen wurde, war hier der wichtigste Hafen an der Magellan-Straße. Ferdinand Magellan, der große Seefahrer, war es auch, der im Jahre 1520 der Region Patagonien ihren den Namen gab. Inspiriert von den Patagones (Großfüßler). Doch erst 300 Jahre später wurde die Stadt gegründet. Man glaubte lange, es sei zu unwirtlich, um hier zu Leben. Heute ist der Flughafen und die Stadt häufig nur Durchgangsort, besonders für die vielen Touristen, die jedes Jahr die Nationalparks besuchen wollen. Auch Robert Scott nutzte 1904 auf seiner Expeditionsreise zum Südpol Punta Arenas für letzte Besorgungen.
Noch liegen zweihundert Buskilometer auf der einsamen „Ruta fin del mundo“, was so viel heißt wie „Straße am/zum Ende der Welt,“ bis zum kleinen Fischerort Punta Natale vor mir. Es ist windstill und die Sonne versinkt dunkelrot am Horizont. Lachsfarbene Flamingos stehen an einem Wasserloch inmitten der flachen patagonischen Tuntra, um sie herum gelbe, meist windgeplagte Sträucher und kilometerlange Weidezäune in deren Mitte Fleckvieh bis zum Korpus im feuchten Sumpf steht.
Es ist bereits dunkel, als der Bus endlich das Hotel erreicht. Sofort falle ich in dem großen weichen Bett in einen tiefen Schlaf, der, durch die Zeitumstellung bedingt, schon bald beendet ist. Ich schlage die Augen auf und erlebe die nächste Sensation: Schneeweiße Bergspitzen ragen in den blauen Himmel. Das Wasser des Ultima Esperanza Fjords, was so viel bedeutet wie „Fjord der letzten Hoffnung“, kräuselt sich und die nur im Süden Südamerikas vorkommenden schönen Schwarzhalsschwäne tanzen auf seinen Wellen; das Pampasgras weht seicht im Wind.
Um das Hotel Remota herum ist nichts als große Weite. Im Ortskern von Punta Natales suche ich nach einem Outdoor-Shop, während die Profis sich die Beine locker laufen. Ich benötige dringend Gaskartuschen und Proviant für mein Trekking, welches ich mir im Anschluss an den Ultramarathon auf dem sogenannten „W-Weg“ im Torres del Paine Nationalpark, auf welchem auch in Abschnitten der Ultra Trailrun stattfinden wird, vorgenommen habe. Doch davon später mehr. Die Startnummernabholung für alle Distanzen erfolgt völlig unspektakulär im ersten Stock eines Restaurants mit angeschlossenem Souvenirgeschäft.
Bald darauf sitze ich wieder im Bus. Nur noch 150 Kilometer liegen von Punta Natales bis zum Nationalpark Torres del Paine vor mir. Die Schotter-Rüttel-Strecke führt an brauner kargen Pampa und vielen Schafherden vorbei. Deren Wolle wurde einst das weiße Gold Patagoniens genannt, denn mit der Wolle begann der Aufschwung der Region. Die Wolken spiegeln sich in den funkelnden Seen. Kurz tauchen Nandus vor dem Busfenster auf. Einige dutzende Kurven und zahllose Schlaglöcher später erreiche ich endlich das Hotel Serano, aber wieder nur ein Zwischenziel. Die Ankunft ist wie eine Erlösung. Befreit taumle ich mit weiteren reisegeplagten Laufwilligen aus dem Bus.
Bereits in der Lobby des Hotels treffe ich auf interessante Menschen aus der ganzen Welt. World-Traveller mit schwerem Gepäck, junge Hipster und junggebliebene Hippies. Aus- und Einsteiger. Luxustouristen, die diesen Teil der Erde nur für einen Tag mit einem Pisco sour, dem chilenischen Nationalcocktail in der Bar der Edel-Lodge entdecken. Und dazwischen tummeln sich die Läufer in ihren engen Lycras. Jeder hat seine eigene Heldengeschichte im Gepäck. Eines aber eint uns. Der staunende Blick hinter der Panoramascheibe des Hotels, als die Sonne hinter den berühmten Torres verschwindet. Der grandiose Blick entschädigt für alle Strapazen der vergangenen Stunden.
Mit der dritten Ausgabe des Patagonian International Marathon wurde der Ultra-Trail als neuester Coup des Veranstalters über Distanzen von 109, 67 und 42 Kilometern ins Programm aufgenommen. Dieser wird bereits am Freitag gestartet. Dabei führen alle Distanzen durch den beeindruckenden und bereits seit 1978 von der UNESCO zum Biosphärenreservat erklärten chilenischen Nationalpark Torres del Paine. Die jeweiligen Distanzen werden von unterschiedlichen Orten gestartet, enden aber alle im weitläufigen Areal des Hotel Las Torres, direkt am Fuße der berühmten Torres del Paine.
Sie konnten nur ahnen, was auf sie zukommen wird, trotzdem wagen sich fünfzehn Ultra-Trailläufer, davon zwei Läuferinnen, um 2:00 in der Früh vom sogenannten „Mirador del Lago Sarmiento“ mit Stirnlampen auf die 109 Kilometer lange Strecke. Dazu braucht es mehr als nur Abenteuerdrang und überdurchschnittliche Fitness. Es ist der gigantischste Sternenhimmel, den ich je gesehen habe und das bei Temperaturen, wie in der heimischen Tiefkühltruhe. Der kalte Wind fährt allen durch die Knochen; Furcht vor den Naturgewalten wäre hier unpassend. Wer sich für den Trail entscheidet, egal auf welcher Strecke, durchläuft ein botanisches, menschenleeres wildes Wunderland. Entlang der Strecke wachsen Bäume, in deren knotigen Ästen Flechten wie hellgrünes Haar hängen.
Eine echte Herausforderung: Stundenlang führt der enge, teils noch eisige, rutschige und steinige Singletrail auf- und ab, über kreuz und quer wachsende Baumwurzeln, Geröllwüsten und Flüsse, die, wenn es regnet, als Sturzbäche ins Tal fließen, wo der Wind tobt wie der Sturm in einem Windkanal. Dafür führt die Strecke aber auch an wolkenverhangenen weißen Berggipfeln und farbenprächtigen Seen vorbei. Die Luft ist mal mediterran warm, dann wieder kalt und feucht. Wegweiser und Markierungen sind sparsam gesetzt. Ein Ort für Masochisten? Das Wetter kann blitzschnell umschlagen. Plötzlich aufziehende Wolken, Regen, Schneefall und Eiseskälte.