Im Zweifelsfall retten soll die vorgeschriebene Notfallausrüstung; ein Handyempfang gibt es aber nicht. Genau für diese Art von Ausdauerevents ist NIGSA seit 2002 berühmt. Außergewöhnliche Expeditionen, die es so noch nicht gab. Stjepan Pavicic, Racedirektor und Initiator des Patagonien Marathon, freut sich und gibt das Zeichen zum Start. Stjepan liebt die Natur, das Unsichtbare und Unbekannte, nicht zufällig ist er Geologe. Über zwanzig Jahre war die Vorstellung in seinem Kopf, in seinem Heimatland, dem südlichen Patagonien, ein Outdoor-Abenteuer-Event zu initiieren, das die Wildnis und das empfindliche ökologische Gleichgewicht in das öffentliche Bewusstsein rückt. Hinter NIGSA, einer Non-Profit-Organisation, steht ein Team von Visionären, die in Asien, Europa, Südamerika, Nordamerika, Australien und sogar der Antarktis und der Arktis gearbeitet haben. Gemeinsam schufen sie 2002 auch das Patagonian Expedition Race - ein Abenteuer am Ende der Welt.
"Nie zuvor habe ich solch elende Kreaturen gesehen", sagte Darwin, der mit diesem Satz die Ureinwohner meinte. Er hätte erstmal heute die Trail-Läufer sehen sollen. Im Ziel habe ich triumphale Mienen erwartet, einen schwärmerischen Gesichtsausdruck. Aber jetzt sehe ich nur Erschöpfte. Auch Yassine Diboun aus Oregon, erfahrener Ultra-Trailläufer unter anderem dreimaliger Western States 100 Meilen Finisher und 2013 auch unter den Top Ten, hat sich verschätzt. Im Vorfeld gab es keine Bilder vom Trail, nur eine Karte und ein klitzekleines Briefing Minuten vor dem Start – auf Spanisch, dass musste reichen. Nach 14:41:05 Stunden durchläuft Yassine den Zielkanal und kommt erschöpft, aber als Sieger an. Dutzenden Fotografen gönnen ihm keine Minute des Durchschnaufens, ich auch nicht.
Jeder will ein Bild von dem malträtierten Korpus, dem von Anstrengung Gezeichneten. Eine von zwei gestarteten Läuferinnen beendet das Rennen vorzeitig. Als bei der abendlichen Siegerehrung auf dem Zufriedenheitstreppchen die zehn besten jeder Kilometer-Kategorie die Sektkorken knallen lassen, sind noch immer nicht alle im Ziel.
Anmerkung: Wer Geschmack auf den Trail-Lauf bekommen hat, erhält einen guten Einblick auf den vielen Fotos über mein W-Weg-Trekking, welcher über viele Kilometer über die Strecke des Ultra Trail führt, am Ende des Berichts.
1:00 Uhr: Ich sitze (mal wieder) wach in einem Bus und starre in die Dunkelheit. Logistische Schwierigkeiten sind es, die mich ohne Abendessen erst spät ins Hotelzimmer ankommen lassen. Aus lauter Verzweiflung werfe ich meinen Campingkocher an und verschlinge gierig die erste Tüte hochkalorischer Trekkingnahrung. Sind das schon die patagonischen Verhältnisse? Eben, herausfordernd und schwierig? Ich werde es herausfinden, sage ich schließlich zu mir, ziehe gegen 2:30 Uhr die Decke über den Kopf und schlafe endlich ein. Fünf Uhr dreißig: Jetzt ist es da, das unerbittliche Ende einer viel zu kurzen Nacht! Der Frühstücksraum ist karg besucht. Die ersten kleinen Vögel begrüßen lautstark zwitschernd den neuen Tag.
Toiletten? Einen furchtbaren Augenblick lang und ein paar verzweifelte Augenblicke später ist klar, dass hier an den öffentlichen Toiletten des Lago Grey nur der Treffpunkt aller 63 Kilometer Läufer ist. Grausam werde ich aus dem kuschlig geheizten Shuttle-Bus hinaus in die Kälte geschickt. Inmitten der jetzt noch in dicke Jacken gehüllten Läufergruppe treffe ich hier auch wieder auf Andrea. Fassungslos, dass wir uns ausgerechnet tausende Kilometer von Deutschland und mitten in Patagonien begegnen, fielen wir uns gestern in die Arme. Sie ist mit einer großen deutschen Gruppe Laufwilliger angereist. Wie ich Andrea kenne, ist sie ebenfalls ausgestattet mit einer gehörigen Portion Abenteuerdrang und solider Fitness. Immerhin hat sie erst vor kurzem den 100 Meilen Mauerwegslauf erfolgreich gefinisht, erzählt sie mir stolz.
Wie ein zorniges Rumpelstilzchen, vor Kälte schlotternd, hungrig und übernächtigt, berichte ich ihr von meinem letzten Abend und der viel zu kurzen Nacht. Nur schwer kann ich mich von meiner Daunenjacke trennen, aber es wird Zeit, sie in meinen mit der Startnummer markierten Beutel zu stecken und abzugeben. Ich hefte mir die Startnummer ans Hosenbein und befestige den Zeitmesschip am Schuh. Ich bin soweit, meinetwegen kann es beginnen: mein 63 Kilometer langes Abenteuer Patagonien Marathon.
Was mit großer Nüchternheit am Toilettenhäuschen beginnt, endet schlagartig bereits auf dem Weg zum Start. Fast surreal sehe ich durch Dunst haushohe, bläulich schimmernde Eisbrocken. Die kalten Abbruchreste des Grey-Gletschers sterben hier im Lago Grey. Auf den wenigen hundert Metern hinunter zum Strand treffe ich auf Matt. Der US-Amerikaner trägt kurze Hosen und als sein Markenzeichen einen gepflegten Kaiser Wilhelm Bart. Der junge Jurist, der seinen Vollzeitjob in einer Kanzlei aus Liebe zum Sport an den Nagel hängte, um nun als Nachwuchsprofi im Team Salomon durch die Welt zu laufen, wirkt aufgekratzt. Er zittert beim Reden und die Worte kommen gepresst zwischen seinen Lippen hervor. Dann verliere ich ihn aus den Augen. Er will heute den Streckenrekord brechen. Talent hat er allemal: 2:21 Stunden war seine Zeit beim Boston-Marathon; ohne großes Training. Ich hege keinen Zweifel daran, dass, wenn alles gut geht, er sein Ziel heute erreichen wird.
Dumm gelaufen ist nur, dass auch er gestern Abend auf ein Carboloading verzichten musste und es ihm ebenfalls an Schlaf mangelt. Ultima Esperanza, letzte Hoffnung, heißt die chilenische Provinz, in der sich der Park befindet offiziell. Was soll da noch schief gehen?
Der gewaltige Grey-Gletscher legt uns sein Eis fotogen zu Füßen. Nur wer sich für die Ultralangstrecke entschieden hat, kommt auch in den Genuss dieses einzigartigen Startes im westlichen Teil des Nationalparks. Bekanntermaßen hat die südlichste Provinz Chiles seit jeher den Ruf, dass sich dort niemand gerne freiwillig aufhält. Nur ehemals Strafversetzte, Auswanderer, später Abenteurer und heute zahlreiche Touristen. Ein kalter Wind schlägt mir entgegen; Kühlschranktemperatur.
Es ist Frühlingsanfang noch bleiben die Touristen aus, denen ist es jetzt viel zu kalt. Sie kommen lieber erst im europäischen Winter, also im hiesigen Sommer, aber selbst dann steigen die Temperaturen kaum über 20 Grad. Das fast farblose Ende der Welt bekommt heute dennoch hunderte bunte Sprenkel: Wie mit einem Pinsel auf eine Großformatleinwand getupft werden die aus aller Welt kommenden Läufer über alle Strecken verteilt sein. Neben der Ultramarathondistanz (63 KM), die alle anderen Strecken miteinbezieht, hat man aber auch die Möglichkeit, auf der klassischen Marathondistanz (42,2 KM) zu starten. Wer mag, startet beim Halbmarathon (21,1 KM) oder auf der ebenfalls kurzweiligen 10 Kilometer Strecke.
Das Gebiet um die Torres del Paine wurde 1959 zum chilenischen Nationalpark erklärt. Hauptsächlich beschränkt sich alles auf die Berge. Durch Zukauf und Schenkungen wuchs er im Laufe der Jahre auf die Größe von über einer viertel Million Hektar an. Der Park ist fast autofrei, die wenigen Schotterpisten, die meist nur von kleinen Shuttlebussen befahren werden, durchziehen diesen wie eine Hauptverkehrsader und enden in einer Sackgasse am Hotel Las Torres. Nicht selten wehen im Park oft Winde mit Geschwindigkeiten von 80 bis 100 Stundenkilometern. Dadurch sinkt auch das subjektive Temperaturempfinden auf Werte weit unter dem Gefrierpunkt.