Jetzt ist die Stimmung erhitzt, denn in der Mitte des Strandes stehen die Läufer und fotografieren oder werden fotografiert. Dann geht alles viel zu schnell. Wir sind gestartet, Sekunden später vernehme ich nur noch das Knacken der Eisblöcke auf dem See und das Knirschen der Laufschuhe auf dem Kiesbett. Schon einige steinige Meter und einen kurzen Anstieg weiter, kommt das gerade erst gestartete Läuferfeld zum Stehen. Der Weg endet vor dem Übergang an einer langen Hängebrücke. Durchschnaufen! Immer nur sechs Personen gleichzeitig! Die Brücke wankt und schaukelt. Heftig strömt das Wasser unter mir. Alle wanken wie Betrunkene zügig auf die andere Uferseite, die schnellsten Läufer sind schon weit weg und das Läuferfeld zerstreut. Die ersten Meter sind fabelhaft. Dennoch erwarten uns auf der noch über sechzig Kilometer breiten Schotterpiste konditionell rund 1.200 Höhenmeter mit mal groben, mal mit feinem Schotter.
Grenzenlose Weite, vor mir ein paar Läufer und hinter mir ein paar Läufer. Alle verteilen sich auf der langen, bis zum Horizont geradeaus führenden breiten Strecke. Die nächsten Meter meditiere ich über die Frage, ob ich nicht vielleicht doch ein Kilometerschild oder Wegweiser verpasst habe. Offenbar habe ich mich auch von den gewaltigen Eindrücken um mich herum ablenken lassen. Hier war doch gestern der Start für den Marathon-Traillauf?! Immerhin, diesen Ort erkenne ich wieder. Dennoch fühle ich mich gerade etwas orientierungslos. Dann habe ich mich wieder im Griff, schaue mich um und erkenne Andrea in dunkler Kleidung hinter mir. Ich bleibe kurz stehen, will die Karte rausholen. Schon zieht sie an mir vorbei. Entweder hat sie es eilig oder sie kennt sich hier aus, denke ich mir. In dieser Weitläufigkeit bin ich doch lieber zu zweit allein, als alleine allein.
Wow, links von mir erheben sich die verschneiten Bergspitzen des Cerro Paine Grande und der Monte Almirante Nieto sowie DIE Torres del Paine. Der Abstand zwischen der konzentrierten Tempomacherin Andrea wird größer und größer.
Wie verrückt ist das denn? Ich laufe vor einer Cinemascope-artigen Kulisse inmitten einer der grandiosesten Gebirgslandschaften der Erde. Wie zum Greifen nahe erscheinen die über 2000 Meter hohen Cernos der Torres del Paine und am blauen Himmel schwebt ein Andenkondor. Es ist nicht nur das Ende der Welt, sondern das Ende aller Vorstellungskraft.
Für einen Moment lausche ich dem plätschernden Wasser, dem Gurgeln und Murmeln. Ein verträumter Augenblick. Ein Wagen rumpelt über die Schlaglöcher an mir vorbei und hinterlässt mich in seiner Staubspur. Abrupt kommt er einige hundert Meter vor mir zum Stehen. Ich erschrecke. Drei- oder vier Männer springen aus dem Van und werfen sich mit Fotoapparaten bewaffnet vor mir auf die Knie. Ich muss lachen und versuche, einen möglichst guten Vordergrund für das Fototapetenmotiv im Hintergrund abzugeben. Selbst die hier meist seltene Sonne spielt mit.
„Leave No Trace“
Nach etwa zehn Kilometern erkenne ich am Straßenrand einen einsam stehenden Tisch. Darauf Äpfel, Bananen und zwei große weiße Plastikkanister gefüllt mit Wasser. Das war´s. Damit ich auch morgen noch kräftig zubeißen kann, lasse ich lieber die Finger von den grasgrünen und gut gekühlten Äpfeln, auch an den nächsten Verpflegungsstellen. Hätte ich nur mein Schweizer Messer dabei; zumindest die Bananen sind geteilt, denke ich. Weiß vielleicht jemand den Grund, warum es bei Läufen an den Verpflegungsstellen immer dieses krumme, meist schon überreife Obst gibt? Eine Banane hat etwa 120 Kalorien: Zuwenig für diesen Lauf und die nächste Banane gibt es erst nach weiteren zehn Kilometern. Mit drei Bananen ginge es mir kalorienmäßig besser. Mit drei Bananen im Bauch kann ich aber nicht mehr laufen.
Vorsorglich habe ich mich mit massiven Snickers und PowerShots eingedeckt. Ich drehe am roten Plastikhähnchen des Wasserbehälters und das vom Wind gekühlte, klare Nass gluckert in meine Plastik-Einwegflasche. Apropos Einwegflasche. Natürlich gelten im Park strengste Umweltauflagen. Die gelten auch für uns Läufer. So ist jeder Teilnehmer dazu verpflichtet, sein eigenes Trinksystem (Wasserflasche oder Trinkblasen-System) bei sich zu tragen.
Kilometer 21: Ich laufe direkt auf die Nordwestspitze des Lago Toro zu. In einer großgezogenen Kurve kurz vor der Brücke „Puente Weber“ die über den Rio Paine führt, erreiche ich den Startplatz der Marathonläufer. Hier ist es klar. Einundzwanzig kurzweilige Kilometer liegen bereits hinter mir. Die sogenannte Administration, also der Parkeingang, befindet sich unweit von hier. Die Marathonläufer sind um zehn Uhr gestartet, jetzt ist von den etwa 1000 gemeldeten Marathonläufern niemand mehr zu sehen. Nur die verlassenen hellblauen Dixis künden von dem Betrieb, der hier vor kurzem wohl noch herrschte.
Die Berge spiegeln sich im blauen See des Rio Paine, an dessen Ufer ich noch sehr lange entlang laufe. Es ist zu schön. Gerade jetzt steigt die Stecke. In Kurven und Wellen weiter immer weiter hoch. Ein Schild sagt mir, ich bin nun am Lago Pehoé, fast unbemerkt ist der Rio Paine mit dem Lago Pehoé verschmolzen. Ich treffe Andrea wieder. „Nein“, sagt sie, „ich spüre die spitzen Schottersteine nicht unter meinen Füssen“. Kein Wunder, ihre Laufschuhe haben Plateausohlen hoch wie einst die Bühnenschuhe von ABBA. Meine Füße leiden dagegen sehr. Bezahlt macht sich auf diesem Geläuf jedenfalls der knöchelhohe Schaft meiner Sportiva.
Kilometer 30: Wellen schlagen ans Ufer. Der Lago Pehoé sieht aus und benimmt sich wie ein schäumendes Meer und die Gischt erwischt mich noch auf der Straße. Das spektakuläre Türkisblau des aufgewühlten Lago Pehoé hebt sich gegen die schneeweiße Berge im Hintergrund und den kobaltblauen Himmel ab. Kein Maler hätte es farbenfroher zeichnen können. Hier gibt es keine Wanderwege, nicht ins Gebirge und nicht ins Inlandeis. Vielleicht haben deshalb Menschen in dieses Naturparadies ein Hotel gebaut? Unpassend wie ich finde, trotzdem würde auch ich gerne darin übernachten.
Das dunkelrote Haus befindet sich jenseits einer langen, schmalen Brücke, sozusagen mitten in diesem türkisfarbenen See. Für manche ist dieser Luxus sogar bezahlbar. Ein einsamer Katamaran auf dem großen See schippert die Touristen über das sonst abgelegene Gewässer in Richtung Salto Grande, dem großen Wasserfall, der den Nordenskjöld-See mit dem Pehoé- See verbindet. Wellig wie der See führt die Strecke weiter. Links von mir der wunderschöne See und rechts leuchtet hin und wieder saphirrotes Torfmoos durch den Friedhof der Bäume. Wie in einem Endzeitfilm ragen die schwarz verbrannten und abgestorbenen Äste wie Arme gen Himmel; dazwischen empfindsames junges Leben: Wiederaufforstung. Hautnah erlebe ich hier die Idee einer Baumspende, die in der Anmeldegebühr enthalten ist. Zwei Brände, 2005 und 2012, von ignoranten Menschen verursacht, zerstörten bald ein Viertel des gesamten Waldbestandes.
Ich verlasse den Lago Pehoé und nach der nächsten Kurve erkenne ich bereits die Ausläufer des Lago Sarmiento de Gamboa. Unweit des Lago Sarmiento de Gamoa wurden Höhlenzeichnungen gefunden, die auf 13.500 und 10.000 vor Chr. datiert werden. Weiter steigt die Schotterstrecke. Das Beige der Landschaft wechselt in leichtes Grün. Die Straße macht nun eine sehr steile Kurve nach oben. Ein Brasilianer mit schriller Klamotte hat sich wohl in der Richtung geirrt und läuft mir flott entgegen.
Mitten auf dem Schotterweg steht plötzlich eine wildlebende, von Selbstbewusstsein strotzende, Guanako-Familie. Fast schon arrogant halten sie ihre Nasenspitzen nach oben. Die bis zu zwei Meter großen Tiere mit ihrem wolligen hellbraunen Fell sind Verwandte der Lamas und Alpakas und dienen Pumas als Hauptmahlzeit. Vor Menschen haben sie keine Angst, sie beäugen nur neugierig das ungewohnte Treiben auf der Straße, die sonst meist nur von Autos befahren wird. . 50 Millionen Guanakos sollen bis zur Ankunft der Spanier in Südamerika gelebt haben. Dann wurden sie massenhaft abgeschossen. Wegen ihres schönen Fells und für Weideland der Schafe. Der Bestand wird heute auf 600.000 geschätzt. Hier bei der Laguna Melitas findet man die etwas zu groß geratenen Kuscheltiere.
Der Brasilianer lässt mich gerne vorauslaufen. Unbeirrt zeige ich ebenfalls keine Scheu, doch die Tiere springen mit ihren relativ langen Beinen wie Bergziegen auf und davon. Ich bin allein mit den Tieren und der gigantischen Landschaft. Ich komme mir vor, wie ein Eindringling in einer Welt, in der andere zuhause sind. Ich beschließe ein Stück zu gehen, um die Eindrücke auf mich wirken zu lassen. Schönheit, Ruhe und Bewegung, alle möglichen Themen bieten sich zum Träumen an. Wie es wohl wäre, hier für immer zu bleiben, die überdrehte Welt einfach hinter mir zu lassen? Vielleicht wie die Gouchos mit roter Filzkappe, Schaftstiefeln und Pluderhose zu reiten und dann und wann mal ein E-Mail nach Hause zu schreiben?