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27.09.14 - Patagonian International Marathon

„Puro, Chile, es tu cielo azulado“

Lago Nordenskjöld - Vom Winde verweht

 

Ca. Kilometer 42: Keine Ahnung, wie viele Kilometer ich nun gelaufen bin. Ich hatte mir das doch nicht eingebildet. Es gibt keine Kilometerschilder. Rechts von mir ist der Lago Sarmiento de Gamboa, links der Lago Nordenskjiöld, benannt nach dem schwedischen Geologen Otto Nordenskjöld. Weitere Orientierung geben mir die Verpflegungspunkte so etwa alle zehn Kilometer Pi mal Daumen.

 
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Stimmt, von weitem erkenne ich den Verpflegungsstand. Von dort sind die Halbmarathonläufer vor einiger Zeit gestartet. Ich habe unglaublichen Durst,  ich weiß nicht woran es liegt, aber ich könnte ständig trinken – so viel Durst habe ich sonst nie. Liegt es tatsächlich am Wind oder an der trockenen Luft? Das Mittagsmahl ist karg; zu Wasser, Banane und Snickers gibt es patagonisch-frühlingshafte Wetterverhältnisse. Die Vorstellung, kaltes Wasser an einem regenreichen, windigen und schneereichen Tag durchzustehen… wir sind doch sehr verwöhnt in unserem Europa mit warmen Tee und Apfelschnitzen. Ich verspreche, dies in Zukunft mehr zu würdigen!

 

Mir geht die Puste aus, dem Wind nicht

 

So wie sich die Läufer unter der Pein des Aufstiegs beugen, so krümmen sich die Bäume und Sträucher im rauen Wind. Südamerikas Spitze ist der einzige Zipfel auf der Erde, an der die "Roaring Forties", zwischen dem 45 und 55 Grad südlicher Breite als subantarktischer Westwindgürtel fegen. Wenn die Breeze das Festland erreicht und dort auf die  Eiswüste vom Südpol trifft, kann das nur sehr, sehr kalten Wind bedeuten. Mir ist das egal, solange er nur von hinten kommt. Der Wind sei hier immer, erfuhr ich tags zuvor im Hotel, er sorge für gutes Wetter. Nun schiebt er mich den Berg hinauf als wolle er sagen, ich soll aufhören zu bummeln. Unfreiwillig werden meine schweren Schritte kürzer, dafür immer schneller und schneller. Fast wie von selbst habe ich die Bergkuppe erreicht und yippi, es geht abwärts. Ich breite die Arme aus wie Flügel – es würde mich nicht wundern, könnte ich jetzt fliegen.

 

Laut ist der Wind, still segelt der Kondor

 

Mein Soundtrack ist das rhythmische Klimpern der Steine unter meinen Füßen auf der schnurgeraden Straße und das Lied in meinem Kopf „El cóndor pasa“ („Der Kondor fliegt vorüber“), als ich plötzlich und unerwartet Fluggeräusche über mir höre. Kann das sein? Und wirklich, ein mächtiger, schwarzer Greifvogel mit weißer Halskrause und einer Flügelspannweite von bestimmt drei Metern zieht über meinen ausgemergelten Leib seine Kreise. Das glaubt mir zuhause keiner! (Die Bilder sind mein Beweis.) Fasziniert kann ich meinen Blick nicht von dem Kondor abwenden.

Die immer wieder einsetzenden Sturmböen und die Kälte ziehen auch den anderen Läufern jegliche Energie aus den angeschlagenen Körpern, fast könne man glauben, er lauert hier schon auf seine Beute, denn der Andenkondor ist ein Aasfresser. Um an seine Beute, normalerweise bestehend aus Kühen, Guanakos oder Scharfen zu kommen, versucht er die Tiere durch heftige Flügelschläge an steilen Berghänge zu treiben, um sie zum Absturz zu bringen. Ist ihm das gelungen, kann er genüsslich von den Teilen seiner „erlegten“ Beute fressen. Einen Kondor zu sehen,  hat nicht nur faszinierende, sondern auch für mich auch nützliche Seite. So heißt es: Solange der Kondor fliegt, gibt es keinen Regen.

Ich beginne Marathonläufer und Halbmarathonläufer zu überholen – die hinteren versteht sich. Sie sind jeweils durch ihre andersfarbige Startnummer gut zu erkennen. Kurven schlängeln sich nach oben. Beigebraune Büschel wie Blumenkohl. Schade, so plötzlich wie er kam, ist der Wind auch wieder verschwunden. Jetzt schwitze ich in der Sonne. Beim kleinsten Windhauch wird es sofort wieder kühl. Doch der ständige Wind bläst die Falten der Anstrengung schnell wieder aus meinem Gesicht. Für mich sind einige der Steigungen aber auch eher willkommen als abschreckend.

 

Einer der großartigsten Momente, sich ganz klein zu führen

 

Schon steigt die Strecke wieder. Steil zwar, aber breit wie eine Landstraße und zunächst ganz ohne Kurven. Auf einmal, wie aus dem Nichts, erscheinen die berühmten Bergspitzen der Andenikonen, die bizarren Zähne der Torres. Namensgeber sind der Cuerno Principal und der Cuerno Este, zusammen als die "Hörner des Parks" bekannt. Dichte Wolkenberge hängen davor, bilden die dramatische Kulisse als Nebendarsteller dieser Naturbühne, mir einsamen Läuferin aus Europa. Ich muss mich richtig anstrengen, um nicht fortwährend auf diese magischen, zackigen Torres, die wie aus dem Boden zu wachsen scheinen und so unglaublich nah erscheinen, zu starren. Die Perspektive ist auserlesen, viel Zeit für Aussteiger-Romantik bleibt jedoch nicht: Weit, sehr weit kann ich nun auf die Strecke schauen, die noch vor mir liegt. Es hat so etwas wie die Badwater Road in Kalifornien, die mitten durch das Death Valley führt. Die grasenden Guanakos interessieren sich nicht mehr für mich. Weit ist der Blick in die Landschaft, über die Steppe, über grünbeige Hügelketten in der Ferne.

 

Laguna Amarga –
Eine letzte Brücke führt über den Rio Paine

 

Ca. Kilometer 55: Yippi, in Serpentinen geht es abwärts. Kleine Läuferpunkte unter mir. Wie aus dem Nichts spüre ich hinter mir den Atem einer Läuferin in meinem Nacken. An der letzten Verpflegung blicken wir uns gegenseitig auf die Startnummern und dann in die Gesichter. Der Lauf sollte kein Rennen werden. Aber meine Stärke ist das Bergablaufen und die spiele ich jetzt aus.

 
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Weit, sehr weit unter mir erkenne ich die Brücke, die über den Rio Paine führt. Ein weiter Weg in einer weiten Landschaft. Schritt für Schritt rase ich bergab; schaue nicht nach der vermeintlichen Altersklassenkonkurrentin irgendwo hinter mir. Schließlich erreiche ich die Brücke. Der Holzboden der schmalen Brücke ist wie ein kurzer Moment Wellness für die durch die Schottersteine seit Stunden geschundenen Fußsohlen. Und nicht nur wegen des Schotters werden die letzten Kilometer nochmal hart. Besonders wegen der vielen Fahrzeuge, die sogar nicht hier her passen wollen und der langgezogenen Strecke, die nicht enden will.

Wie ein Paukenschlag endet an der Brücke das schöne Naturschauspiel. Immer mehr Vans, Busse und Kleinwagen werden von Guardaparques, also Park-Rangern, auf Motorrädern eskortiert. Rushhour? Kaffeezeit? Ja, auch. Es sind vor allem die Fahrzeuge derer, die ihre Laufdistanzen schon beendet haben und nach Hause fahren. Außerdem ist die Strecke der Verpflegungsweg, auf dem alle Güter von Puerto Natales in den Park gebracht werden. Der Wind weht den Staub und den Gestank der Autos aber schnell runter von der Straße und die Eindrücke der vergangenen etwas mehr als sieben Stunden sind von so erhabener Schönheit, dass ich die Fahrzeuge und deren Insassen in meinem Kopf einfach ausblenden kann.

Noch knapp einen Kilometer. Von weitem erkenne ich die grünen, unverwechselbaren Kuppelzelte des „EcoCamp“. Die wie Stelzen mit einer Plattform stehenden Zelte sind den Hütten der Ureinwohner nachempfunden und mehrfach wegen ihrer  Umweltfreundlichkeit ausgezeichnet. So verfügen die edel eingerichteten Kuppelzelte über Komposttoiletten – nicht zu verwechseln mit den Donnerbalken – über Kleinwasserkraft, Windkraft und Recycling. Grandios stelle ich mir das Einschlafen unter der Kuppeldecke vor, wenn der Sternenhimmel die durchsichtige Außenhaut des Zeltes durchleuchtet.

 

Zieleinlauf in Gaucho-Atmosphäre

 

Weiter zieht sich die Strecke, um in der nächsten Kurve noch einmal weitläufig auszuholen, bevor es wieder lange geradeaus geht. Noch über eine winzige Holzbrücke, an einer Estanzia mit hunderten von Pferden vorbei und ich bin im Zielkanal. Nur ein letzter Anstieg über eine Wiese, dann habe ich hier am Hotel Las Torres das Ziel erreicht: Eine junges Mädel steift mir eine Medaille über den Kopf. Es sollte für heute nicht die letzte sein.

Das riesige Areal rund um das Hotel Las Torres ist ideal gelegen für eine Finisher-Arena, Siegerehrung und einem magellanischen Grillfest. Ein gutes Dutzend ausgeweiteter Lämmer hängen aufgespießt am Feuer. Das bezeichnet man hier als „Asado al Palo“. Ich mag Lämmer lieber lebend und verzichte daher gerne, freue mich aber auf eine heiße Dusche im Hotel Las Torres. In der Wohlstandsherberge sind die Läufer mit ihrer verschwitzten Kleidung und ihren staubigen Laufschuhen gern gesehen. Viele haben sich hier gleich ein Zimmer genommen. Andere müssen für eine aufgrund des Ansturms überforderte lauwarme und spärlich wassergebende Dusche 5.000 Peso ausgeben.

Alte Schwarzweiß-Fotos in der Lobby und eine Ausstellung im Nebenraum zeugen von vergangenen Tagen. Es spielt Andenfolklore. Das Hotel Las Torres war einst eine große Ranch, erst Schaf-, später eine Rinderranch mit über sechshundert Tieren. Zu Beginn der 90er Jahre wurde es ein Hotel. Dort schläft die Wildlife-High-Society, um mit den Gauchos durch die Pampa zu reiten und von hier starten die meisten Backpacker ihre Trekkingtouren. Aus den einstigen zehn einfachen Zimmern wurden weit über achtzig, darunter einige Suiten, zwei Restaurants und ein Wellnessbereich. Rinder gibt es keine mehr, dafür breiten sich mehr als  zweihundert Pferde auf dem weitläufigen Areal aus.

Westernatmosphäre, besonders dann, wenn die Gauchos reklametauglich auf ihren Pferden die verstreute Herde wieder zusammentreiben. Die Herde der Läufer kommt ganz freiwillig, nach einer Dusche oder der Grillfleischvöllerei, vielleicht aber auch nach beidem, zur Siegerehrung wieder zusammen.

Die Siegerehrung erfolgt auf Spanisch. Es dauert einen Moment, bis ich verstanden habe, was hier z. B. die Altersklasse „Puma“ bedeutet. Für alle Distanzen erfolgt die Altersklassenwertung in Zehn-Jahres-Schritten. Zuerst werden die Sieger der 18-29 Jährigen hier als Guanacos bezeichnet, aufgerufen. Es folgen die Pumas, Huemules, Zorros und die Condores.

Als Matt, ihr wisst schon, der 29 jährige US-Amerikaner mit dem Kaiser Wilhelm Bart, als Gesamtsieger über die 63 Kilometerdistanz aufgerufen wird, weiß ich zumindest mal, dass es jetzt vielleicht spannend werden könnte. Matt hat die 63 Kilometer und 1200 Höhenmeter übrigens in 04:19:17.2 gelaufen und damit den bestehenden Streckenrekord um mehr als eine Stunde unterboten!

Dann werden die Zorros aufgerufen. Gewonnen? Tatsächlich gewonnen! Andrea und ich fallen uns in die Arme. Stolz, gemeinsam und doch zufällig ein großes Abenteuer in Patagonien erlebt zu haben und jetzt dafür geehrt zu werden. Eigentlich war doch für mich der Weg das Ziel. Aber jetzt, vor der großen Kulisse, dem überwältigenden Panorama, verleiht die große massive Medaille diesem einmaligen Lauf einen ungeahnt würdigen Rahmen. Diese Medaille wird mich auch noch Jahre später an meinen Altersklassensieg bei diesem Ultra-Marathon erinnern.

Sensationell: Die Sonne, unsere Gesichter und - so scheint es - auch die Torres strahlen vor Glück.

Anmerkung:

Wen nun die Abenteuerlust packt,  aber weder der Marathon noch der Trailrun Herausforderung genug sind, der sollte sich ab 27. Oktober 2014 für das Patagonian Expedition Race® in 2016 bewerben. Das Rennen selbst findet vom 13. bis zum 26. Februar 2016 statt. NIGSA verspricht eine extreme Erfahrung in einem wilden Gebiet, wo die Teilnehmer sich selbst in Frage stellen und miteinander außergewöhnliche Erlebnisse im Süden Patagoniens teilen.

 

Informationen: Patagonian International Marathon
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