Ein Almenweg und eine Forststraße führen uns ins Gries, dem obersten Abschnitt des Flusslaufs der Pitze. Von oben kommen mir auf dem Begegnungsstück immer wieder die Verfolger des Führungstrios entgegen. Nicht dramatisch, aber immer leicht steigend geht es bis zum Beginn des Felsengeländes. Ab hier gibt es bis oben rauf nur mehr Steine. Die spürbar intensivere Sonneneinstrahlung lässt mich des Öfteren das herrlich klare und eiskalte Wasser der Pitze kosten, schmeckt besser als die laufwarme Brühe in meiner Plastikflasche. Mario hatte recht und Kühe sind auch nicht in der Nähe.
In seinem untersten Lauf am Bergansatz bildet die Pitze, die oben im Gletschergebiet entspringt, eine wilde Felsklamm. Ganz nahe kommen wir an eine Bachschlucht mit wildem Wasserfall ran. Das Wasser spritzt über große Felsenbrocken und spendiert mir eine erfrischende Dusche. Herrlich. Zu Beginn sind nur kleine Absätze und Felsbänder zu überwinden, aber die Stufen hinauf werden immer kräftezehrender. Oft müssen die Beine richtig hoch genommen werden, wie bei überdimensionalen Treppenstufen. Das kostet enorm viel Kraft.
Murmeltiersteig C, Steinbocksteig C+ – D+ sind die nächsten Kriterien, die es zu überwinden gibt. Mir sind die Schwierigkeitsgrade kein Begriff und sie sind mir auch im Moment völlig wurscht, es ist definitiv sauhart. Der Steig ist optisch eine Wucht, immer öfters sind jetzt Abschnitte mit Stahlseilen gesichert. Es ist kein Spaziergang, hier werden auch Hochkaräter nach 40 km Anlauf und 2.000 Höhenmetern in den Beinen nicht La Paloma pfeifend aufsteigen. Mario nennt das hier Alpine Running.
An einer Abzweigung mitten in der Wand sind unsere pinkfarbenen Wegweiser in zwei Richtungen angebracht. Nach oben geht es zur Hütte, der Rückweg zweigt hier seitlich und langsam wieder nach unten ab. Ernestine und Andrea sitzen hier lange und beraten wohl, ob ihre Kräfte ausreichen, um noch weiter nach oben zu klettern. Ich kann sie noch eine ganze Weile beobachten, während ich weiter aufsteige. Soweit ich sehen kann, entscheiden sie sich gegen einen weiteren Aufstieg.
Über Steilstufen, Felsblöcke jeder Größe, Felsplatten, bunte Moose, Alpenrosenfelder und zwischendrin auch mal Enziane, geht es mühsam Stück für Stück empor in ein kleines Kar. Plötzlich wird um eine Ecke der Blick auf den riesigen Gletscher frei. Atemberaubend schön. In ein paar Jahren schon könnte dieser Anblick bereits dem Klimawandel zum Opfer gefallen sein. Auch die Planen, mit denen die Gletscher im Sommer teilweise bedeckt werden, können deren stetigen Rückgang nur sehr begrenzt aufhalten. Es wäre im Übrigen unser Preis gewesen. Die schmutzig-graue Gletscherzunge des Mittelbergferners gilt es in der Originalstrecke zu überqueren.
Aber wann kommt endlich diese „verdammte“ Braunschweiger Hütte in Sicht. Ich habe keinen Schmalz mehr in den Schenkeln, mir fehlt das Gen des hier heimischen Steinbocks. Ein Fehltritt aus Schwäche könnte mich in große Gefahr bringen. Übertriebener Ehrgeiz ist hier sicherlich fehl am Platz. Ich kämpfe innerlich lange mit mir. Der nächste Aufstieg, nach Rückkehr in Mandarfen, über die Plangerossalpe beinhaltet ebenso 1.000 hm und schwierige hochalpine Abschnitte wie dieser. Dazu ein Abstieg, der einem das Grauen lehrt. Außerdem ist das Zeitlimit für den offiziellen Ausstieg in Trenkwald (km 57) um 18:30 Uhr für mich unmöglich zu schaffen. Ich entschließe mich, wenn ich zurück bin, auszusteigen. Getreu dem Motto der Veranstaltung: „Safety first“.
Auf einem Schneefeld, mit Hütte im Visier, kommt mir Jan entgegen. Mein Entschluss aufzuhören steht fest und ich teile ihm das mit. Jan meint nur: „Ich bin schon tot“. Auf 2.759 m liegt die Braunschweiger Hütte. Erbaut wurde sie bereits 1892 und später noch zweimal erweitert. Sie ist die höchstgelegene Unterkunft auf dem Fernwanderweg E5. Direkt davor ist unsere Versorgungsstation aufgebaut. Mir ist übel. Ich vermute, es liegt an der Höhe. Ich würge mir ein Gel rein und zwei Dosen Red Bull. Dazu 20 Minuten Pause im Liegen in der Sonne. Eile ist nach meiner Entscheidung jetzt keine mehr geboten.
Wieder einigermaßen auf dem Damm, nehme ich den Abstieg in Angriff. Im schon aufgeweichten Schneefeld sinke ich teilweise fast bis zu den Knien in den Schnee. Mir kommt es runterwärts noch steiler vor als herauf. Aber ich bin doch wieder einigermaßen erholt und komme problemlos voran. Nach der Abzweigung geht es nur mehr langsam fallend weiter runter ins Tal. Es gibt aber noch interessante und delikate Passagen durch Kamine und über Bachläufe zu meistern. Jetzt kann ich mir viel Zeit dafür lassen und es so richtig genießen.
Direkt oberhalb vom Gletscherstübele endet im Tal dieser Gebirgstrail. Fast 5 Stunden habe ich für den 11 km langen Abschnitt benötigt, so lange wie noch nie in meinem Leben für diese Distanz. Ich freue mich doch tatsächlich, jetzt auch wieder auf einer stinknormalen Straße richtig laufen zu können.
Im „Ziel“ erwartet mich schon Jan. Er hat’s mir gleich getan und hat seinen Lauf ebenfalls beendet. Ich überquere noch schnell die Zeitmessung und bekomme danach auch eine Medaille umgehängt. Für ca. 46 km habe ich 13 Stunden benötigt, das hatte ich mir durchaus anders vorgestellt. Sieger Matthias Dippacher benötigt für den 95K 15:33 Std., mit 3 1/2 Stunden Vorsprung auf den nächsten. Er ist aber auch einer der Besten Trailer Deutschlands. Insgesamt bewältigen nur 10 Männer die komplette Runde von 55 Gestarteten. Dazu kommt noch eine junge Trailrunnerin. Ich habe wirklich allergrößten Respekt, man sieht es ihr wirklich nicht an. Zu den offiziellen Finishern kommen noch 3 in die St. Leonhard- und 7 in die Trenkwald-Wertung. Beim 42K sieht die Bilanz deutlich besser aus, von 121 Gestarteten, konnten immerhin 102 als Finisher das Ziel erreichen.
Zur Siegerehrung am Sonntag gibt es für alle noch Weißwurstfrühstück und das beliebte Erdinger Alkoholfrei, wieder unter strahlend blauem Himmel. Auf das Podest dürfen heute zu recht alle 11 Finisher des 95K und auch jene, die innerhalb der Cut Off-Zeiten an den Ausstiegsstellen blieben. Sie sind wirklich wahre Tough Guys im Alpine Trailrunning.
Für den 95K möchte ich lieber keine Empfehlung abgeben. Als jemand, der ausschließlich nur im Flachen und auf Hügelstrecken trainieren kann, bin ich hierfür sicher auch kein Maßstab. Aber ich war mit meinem Abbruch in bester Gesellschaft. Nur 20 % Finisher über 96 km sprechen für sich. Der Lauf ist definitiv für Trailer auf oberstem Level. Eines ist bei dieser Strecke nämlich gewiss: „Trailrunning auf höchstem Niveau“ ist in dem Fall kein billiger Marketingspruch, auch wenn Mario ein echter Werbeprofi ist. Es ist nichts als die reine Wahrheit.
Als der Knaller für „normale“ Trailer darf sicher der 42K bezeichnet werden. Diese Strecke hat das Zeug, jeden Trailrunner zu begeistern und kann auch von den meisten bewältigt werden. Auf der Originalstrecke wird er sicher auch einige Kilometer mehr aufweisen, als die Bezeichnung verspricht. Phantastische Streckenabschnitte in einer grandiosen Landschaft. Sollte es die Gletscherquerung auch noch schaffen, mit aufgenommen zu werden, wird der Lauf schwer zu toppen sein.
Ich habe viele begeisterte LäuferInnen im Ziel gehört, aber auch Kritiker. Zu schlechte Markierungen, zu wenige Sicherheitsleute an der Strecke. Jeder ist gut beraten, den 42K nicht mit einem Bergmarathon zu vergleichen. Es kann in dieser hochalpinen Landschaft sicher nicht an jeder Ecke ein Bergwachtler stehen oder auf jedem zweiten Stein eine Markierung angebracht werden. Dafür gibt es die Pflichtausrüstung mit u.a. detaillierten Streckenkarten und Notfallnummer. Trailrunning hat auch immer etwas mit Autonomie und Abenteuer zu tun und das ist auch genau das, was die echten Trailrunner wollen.
Von der späten Startzeit (10 Uhr) und dem knappen Zeitlimit (wurde von 8 auf 9 erhöht und reichte dennoch für einen Großteil nicht) sollte man sich verabschieden. 12 Stunden sind meiner Meinung das mindeste, was man als Sollzeit vorgeben sollte. Dafür kann man auch mal früher aufstehen.