Die Gattin frohlockt, sie hat freie Auswahl bzgl. unseres nächsten Urlaubsortes. Zwei Wochen Auszeit stehen an, ein Wettkampf steht nicht auf der Tagesordnung und gibt das Ziel vor. Aber wohin, wenn der Laufkalender ausnahmsweise mal nicht den Ausschlag gibt? Sie plant quer durch die Republik, beginnt am Bodensee, streift das Altmühltal und landet am Ende konsequenterweise bei Amrum, friesisch Öömrang genannt. Der Gatte ist einverstanden, hat er doch mit Föhr und Sylt bereits gute Erfahrungen in Nordfriesland gemacht. Auf Föhr gab's seinerzeit die Premiere des dortigen Marathons (inzwischen leider eingestellt), auf Sylt den legendären Syltlauf einmal quer über die Insel.
Wenn man so nichts Wichtigeres zu tun hat, liest man sich schon mal ein, was einen so im hohen germanischen Norden erwarten könnte. Landet dann irgendwann auf der Tourismusseite, glaubt zuerst, sich verlesen zu haben, um gleich darauf zu frohlocken: Amrumer Insellauf am geplanten Ankunftstag! Selten war ein Urlaub schneller um zwei Tage nach vorne verlängert, denn dieses Ereignis um wenige Stunden zu verpassen, geht natürlich gar nicht. Das Weib behauptet zwar noch heute steif und fest, ich hätte das im Vorhinein gewusst und sie beeinflusst, doch großes Pfadfinderehrenwort: Es war wirklich (ein sehr glücklicher) Zufall.
Donnerstagnachmittag losgefahren landen wir nach einer Zwischenübernachtung in Wallenhorst und dem Besuch einer lieben Dame in Ockholm, wenige Minuten vom Fähranleger Dagebüll entfernt, am späten Freitagnachmittag in Norddorf, ganz im Norden Amrums. Klare Sache, das Auspacken kann warten, die Startnummer in Händen zu halten, ist deutlich wichtiger. Und so führt uns der erste Gang ins Gemeindehaus. Dort händigt man uns nicht nur besagtes Teil aus, sondern auch ein nettes, beidseitig bedrucktes Baumwollshirt.
Während meine Elke, gerade auch erst knapp genesen, von der Mitteldistanz, der halben Inselrunde über gute 15 km, auf 5 km heruntermeldet, lausche ich gebannt dem „Hoffi“. Der sympathische Michael Hoff von der AmrumTouristik erklärt am Flipchart höchstselbst, wo ich morgen auf der gute 30 km langen Inselumrundung meinen Weg hoffentlich finden werde. „Du musst immer Wasser zur Rechten haben, sind es Häuser, bist Du falsch.“ Ok, das W.D.R.-Gebäude der Fährgesellschaft bildet eine Ausnahme. Dann sollte ja kaum etwas schiefgehen können.
Die extrem touristenfreundliche Startzeit um (erst) 11 Uhr beschert uns einen mega entspannten Urlaubsauftakt. Eine gute halbe Stunde vorher trudeln wir am AOK-Erholungsheim ein und grinsen gemeinsam mit den Mitstreitern über alle Distanzen fürs Gruppenfoto um die Wette. Sogar einen VP gibt es, noch ehe der erste Meter zurückgelegt wurde. Ob's nur am Bombenwetter lag? Die Zahl der Aktiven ist von 122 im vergangenen Jahr auf 169 gestiegen, 22 davon haben sich für die große Inselrunde entschieden. Hoffi gibt auch heute sein Bestes und klärt die versammelte Meute auf. Ob auch wirklich jeder verstanden hat, dass die 15er in die andere Richtung rennen als die 30er und 5er? Und hat auch jeder zugehört, dass nach 2,7 km die 5er nach links zurück ins Dorf abbiegen und die 30er nach rechts? Ich bin gespannt.
Ich jedenfalls starte zunächst oberhalb des Dorfes nach Südosten in Richtung Küste. Links grüßen die Salzwiesen und rechts unser derzeitiges, reetgedecktes Zuhause mit leerem Strandkorb auf dem großen Balkon. Kaum ist der erste km absolviert, biegen alle am Deich nach links ab. Ab sofort gilt das mehrfach Gesagte: Das Wasser muss grundsätzlich rechts von uns sein. Du hast richtig verstanden, gelaufen wird entgegen dem Uhrzeigersinn. Theoretisch könnten wir auf der asphaltierten Deichkrone laufen, aber alles nutzt deren Innenseite und damit den glatteren Straßenbelag.
Locker flockig geht es voran, der leichte (Ost)Wind ist für hiesige Verhältnisse nicht erwähnenswert, dafür die guten 20 Grad ohne auch nur die kleinste Wolke umso mehr. Traumhafte Verhältnisse also, die besser nicht sein könnten. Nach guten zweieinhalb km kommt die besagte Trennung der 5er und 30er, ich biege rechts ab. Zunächst ein kurzes Stück auf einem Kiesweg, habe ich bald einen Bohlenweg (nicht Dieter!) unter den Füßen. So etwas liebe ich, erinnert der mich doch an z.B. Miami Beach oder auch die Seiser Alm, so unterschiedlich die Orte auch sein mögen. Da, ich wusste es doch! Mit leicht betröppelten Mienen kommen mir im Abstand weniger Meter zwei Halbwüchsige mit 200er Startnummern, also Teilnehmer des Fünfers, entgegen. Wer nicht hören will oder kann, läuft eben Extrameter, da habe ich kein Mitleid.
Das Ende des Bohlenwegs ist bald erreicht, eine Weile geht es auf festem Sand bzw. Watt auf der Dünen-Außenseite weiter. Das funktioniert soweit ganz gut, die nicht wenigen Wattwanderer denken sich bestimmt ihren Teil. Die Odde, so nennen sie hier die Nordspitze Amrums, verlasse ich über die sog. Himmelsleiter und wechsele auf die Westseite der Insel, habe bald den Kniepsand unter den Füßen. Obwohl, Westseite der Insel ist nur die halbe Wahrheit, wie ich lerne, denn der gewaltige Strand, den wir jetzt vor uns haben (14 km lang und bis zu 2,2 km breit), ist kein integraler Bestandteil der Insel. Vielmehr hat die Natur eine Riesensandbank über die Jahrhunderte an die Insel herangeschoben und sie dadurch um nochmals die Hälfte vergrößert. Hier genießt man auf natürliche Weise das im Überfluss, was den Syltern auf genauso natürliche Weise jedes Jahr im wahrsten Sinne des Wortes abgeht: Sand, Sand und nochmals Sand.
Der Blick über diese Riesenfläche ist wirklich atemberaubend. Unwillkürlich fühle ich mich an Raumschiff Enterprise erinnert. Frei danach: „Amrum, unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr 2024. Das sind die Abenteuer des Herrn Bernath und seiner 168 Gleichgesinnten.“ Schön ist es! Auch wenn die Haxen schon mal tiefer einsinken, geht es noch leicht vom Fuß. Die 22 Teilnehmer der großen Runde ziehen sich logischerweise weit auseinander, kaum kann ich einen Mitstreiter ausmachen. Zu unserer Groborientierung (außer Wasser zur Rechten) hat man von Zeit zu Zeit Pflöcke mit Richtungspfeilen eingeschlagen, aber natürlich kann jeder dort laufen, wo er es für richtig erachtet. Hilfreich ist für mich in jedem Fall auch die erkennbare Traktorspur, die von der Auszeichnung der Strecke zurückgeblieben ist.
Vereinzelt gibt es Beifall von Strandspaziergängern, von denen einige zu den Strandkörben streben, die ganz klein am Wasserrand erkennbar sind. Wahnsinn, diese Weite! Bei km 9 soll es zum ersten Mal Verpflegung geben, aber wo ist das genau in diesem riesigen Gelände? Dass mit Hirn gearbeitet wird, zeigt sich u.a. auch genau hier. Das Problem vorausahnend, hat sich einer der Helfer eine Trompete geschnappt und bläst, was das Zeug hält, wenn er einen Läufer entdeckt. Klasse! Wasser, Apfelschorle, Cola, Riegel, Bananen – alles Überlebenswichtige befindet sich im Angebot. Ich halte mich wie immer an Flüssiges und bin nach einem herzlichen Dankeschön bald wieder auf Achse.
Zwischen den Strandkörben hindurch, Aussichtsplattformen zur Linken, komme ich weiter gut voran. Am Horizont entdecke ich den Leuchtturm und immer wieder auch die Hinweispfeile, die gelben sind für mich. Tatsächlich sehe ich mich gezwungen, hochkonzentriert zu laufen, denn nach wie vor entdecke ich keinen meiner Mitläufer, was natürlich auch an meinem geringen Tempo liegt. So ein wenig schleicht mir noch die erst gerade überstandene Erkältung nach.
Klasse sind zu meiner Linken die Dünen anzusehen. Wie exakt die entstanden sind, weiß man gar nicht so ganz genau. Bis weit ins Mittelalter war deren Bereich besiedelt und landwirtschaftlich genutzt gewesen. Erst zwischen dem 14. und 18. Jhdt. wurde fast ein Drittel der Insel von Sand bedeckt und die Dünen entstanden. Die höchsten ragen dem Vernehmen nach bis zu 30 Meter in die Höhe.
Km reiht sich an km, ein zweiter VP an der DLRG-Station erquickt nach 14 km, die drei Mädels versprühen beste Laune. Meine Konzentration wächst weiter, als ich das Schild „FKK-Strand“ passiere, aber leider gibt es nichts zu gaffen. Dritter VP, die Versorgungsdichte ist hoch und völlig ausreichend. Aber so ganz langsam beginnt mir der Sand auch zu reichen, es wird doch anstrengend. Immerhin die Hälfte der Strecke verläuft über eben jenen Untergrund, die restlichen km teilen sich gekieste und feste Wege. Hinter den Dünne, von mir nicht einzusehen, passiere ich das Quermarkenfeuer (eine Art Leuchtturm), das Süßwasser Wriakhörnsee und etwas später die Aussichtsdüne.
Nach 19 km entdecke ich die mit Wasser vollgelaufenen Wege, von deren Durchschwimmung Hoffi dringend abgeraten hatte. Man kommt, wie von ihm angekündigt, aber gut daran vorbei. Damit ist, Gott sei's geklagt, so schön es auch war, der Strandabschnitt geschafft. Ich bin es aber auch und heilfroh, als ich die ersten Häuser von Wittdün und damit das Südende Amrums erreiche. Belohnt werde ich für die Mühen am vierten VP.
An der Strandbar Seehund sind 20 km absolviert. Jetzt gilt es, auf dem Unteren Wandelpfad Wittdün zu umrunden. Der Belag ist leicht, doch die Beine sind schwer. Aber die schönen Aussichten lassen die Anstrengung fast vergessen: Die Häuser, die Seevögelschwärme, die Touristen. Mit dem markanten Fähranleger ist das Hafengebiet erreicht und bald auch wieder ein schöner Kiesweg, der Fußgängern und Radfahrern gleichermaßen offensteht. Gut, dass die Hauptsaison erkennbar vorüber ist, es gibt keinerlei Platzprobleme.
Schön ist der Lauf auf dem Deich, nette Häuser mit ebensolchen Gärten befinden sich auf der linken Seite, Wasser und Boote auf der rechten. In Steenodde rettet mich der fünfte VP, auch hier herrscht nichts als gute Laune. 24 km sind erreicht, als ich in der Ferne den Kirchturm von Nebel sehe. Also nicht im Nebel, sondern von Nebel. Also die Ortschaft, nicht Carmen. Ohne den anderen Dörfern zu nahe treten zu wollen, empfinde ich es hier architektonisch am schönsten. Ein tolles, häufig reetgedecktes und hervorragend restauriertes Haus reiht sich an das andere. Etwas ganz Besonderes an der historischen Kirche ist der Friedhof. Hier sind 169 historische Grabsteine ausgestellt, die teils in bewegenden Worten von vergangenen, bewegenden Leben erzählen.
Der sechste VP sorgt nochmal für Kraft für die letzten km. Die kann ich dann gut einsetzen, denn dem Opa gelingt es, auf dem 28. und 29 km noch einige wenige Mitstreiter einzusammeln. Die will ich jetzt aber auch nicht mehr vorbeilassen, weshalb ich die Beine in die Hand nehme. Ach ja, der alte Jagdinstinkt ist doch noch zumindest rudimentär vorhanden.
Und dann weiß ich wieder genau, wo ich bin, denn der Abzweig nach dem ersten km auf bzw. neben dem Deich ist erreicht. Ergo ist hiermit der letzte km angebrochen. Noch kann ich unter dreieinhalb Stunden bleiben, kalkuliert hatte ich, ehrlich gesagt, mit deutlich weniger. Aber die Wahrheit liegt wie immer auf der Strecke, und die heißt 15 km Sand. Mehr als beim Sechziger um Texel!
Wieder grüßt mein Strandkorb, das Terrain ist wohlbekannt. Hinter dem AOK-Erholungsheim darf ich links abbiegen, gleich darauf nochmals, dann liegt das Wichtigste vor meinen Augen. Nein, nicht Hoffi bei der Zielmoderation unter dem Zielbanner, der muss warten. Erst ist die Gattin dran, bei der sich der Läufer fürs Anfeuern „mündlich“ und zum Vergnügen der zahlreichen Zuschauer gerne bedankt. Dann aber ist es nach 31,2 km in 3:28 Std. wirklich geschafft.
Beeindruckend sind die Siegerzeiten: Benötigte Steffen Reichert lediglich 2:21 Std. und hatte zehn Minuten Vorsprung vor dem Zweitplatzierten, gab es bei den Mädels fast ein Fotofinish: Hanna Heusler kam in 3:04:01 Std. exakt eine Sekunde vor Kira von Boehmer ins Ziel.
Von Hoffi nach meinen Eindrücken befragt, ist es wie vor Gericht. Die Wahrheit, die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit: Klasse war's! Aber auch wirklich anstrengend, die Beine signalisieren mir das Finish eines Marathons. Zur Zielverpflegung gibt es eine kleine Medaille und eine handschriftlich ausgefüllte Urkunde.
Wenn es denn irgendetwas zu verbessern gibt, dann ist es m.E. die Öffentlichkeitsarbeit über die Insel hinaus, denn der Lauf ist leider weitgehend unbekannt. Qualitativ von hohem Niveau, passt er als Ergänzung absolut zum Syltlauf, der aber ein ganz anderes Renommee besitzt und sehr viel stärker nachgefragt ist. Dahin kann und sollte der Amrumer Insellauf auch kommen können. Dazu ist wenig Aufwand nötig: Eine eigene Internetpräsenz mit den wichtigsten Angaben, v.a. eine bebilderte Streckenbeschreibung, eine Online-Anmeldung mit Auflistung der Teilnehmer und der Möglichkeit eines Online-Urkundendrucks. Vielleicht könnte man auch noch mit einer besonderen, ortstypischen Medaille locken? Auf Helgoland gab's die Lange Anna, auf Sylt eine Auster, hier vielleicht demnächst eine Medaille in Inselform?
Aber auch ohne alldem hatte ich ein tolles Erlebnis, das nachzuahmen ich ausdrücklich ermuntere. Hier könnte ich nicht zum letzten Mal gewesen sein.
Streckenbeschreibung:
Sehr schöne, abwechslungsreiche Inselrunde über ca. 31 km (die Hälfte über Sand, die andere Hälfte zu etwa gleichen Teilen über Teer- und Kieswege).
Startgebühr:
20 € für alle Strecken. Nachmeldung vor Ort ohne zusätzliche Gebühr möglich.
Weitere Veranstaltungen:
15,5- und 5 km-Läufe.
Leistungen/Auszeichnung:
Medaille, Soforturkunde, beidseitig bedrucktes Baumwollshirt.
Logistik:
Alles perfekt an Start und Ziel.
Verpflegung:
6 VP mit völlig ausreichendem Angebot.
Zuschauer:
An Start/Ziel gutes Interesse, unterwegs immer wieder warmer Beifall. Auffallend gut gelaunte Helfer.