Die Qual der Wahl hat, wer an diesem Wochenende einen Marathon in Südtirol laufen will. Jedem bekannt ist mittlerweile der Brixen Dolomiten Marathon. Etwa fünfzig Kilometer weiter südlich findet am selben Tag der Rosengarten Schlern Marathon statt, der aber eher etwas für die hartgesottenen Trail-Läufer ist. Noch einmal achtzig Kilometer weiter südlich will ich mein Glück versuchen. Der Primiero Dolomiti Marathon wird zum dritten Mal ausgetragen und lockt mit 1242 positiven, sowie 1543 negativen Höhenmetern. Das klingt jedenfalls für mich nach einer machbaren Aufgabe. Und Südtirol ist schließlich immer eine Reise wert.
Also mache ich mich zusammen mit Silke am Freitag auf den Weg nach Fiera di Primiero, dem Austragungsort des Primiero Dolomiti Marathons. Rund sechs Stunden Fahrt habe ich veranschlagt, gut acht Stunden werden es letztendlich.
In die Sporthalle, in der es auch eine kleine Marathon-Messe gibt, bekomme ich meine Startunterlagen sowie einen prall gefüllten Beutel mit diversen Gimmicks und das Teilnahmer-Shirt. Hier im östlichen Trentino kommt man übrigens mit Deutsch nicht weit, hier wir italienisch gesprochen, anders als im nördlichen Südtirol.
Unser nächstes Ziel ist nun unser Hotel „Isola Bella“ im Zentrum von Fiera di Primiero. Der Ort zählt etwa 470 Einwohner und war bis 2015 die kleinste eigenständige Gemeinde Italiens. Am 1. Januar 2016 schloss man sich mit mehreren Gemeinden zum heutigen Primiero San Martino die Casstrozza zusammen. Früher lebten die Einwohner hier vom Bergbau, woran heute nur noch der Palazzo delle Miniere, der Sitz des kaiserlichen Bergrichters, erinnert. Die Pfarrkirche Santa Maria Assunta zählt zu den schönsten gotischen Kirchen im Trentino. Dort kann man einen 1465 geschnitzten Flügelaltar bewundern. Als weitere Sehenswürdigkeit des Marktes (la Fiera) zählt die kleine romanische Kirche San Martino aus dem 11. Jahrhundert.
Durch Fiera di Primiero fließt ein rauschender Gebirgsbach, den man auf mehreren Fußgängerbrücken überqueren kann. Steht man auf einer von ihnen und blickt gen Süden, hat man einen herrlichen Blick auf die Palagruppe. Die Dolomiten gehören zu den südlichen Kalkalpen und große Teile dieser Region, sowie auch die weltbekannten Drei Zinnen, gehören zum Nationalpark Paneveggio. Seit 2009 ist die vor uns liegende Palagruppe Teil des UNESCO-Welterbes. Wir schlendern durch die Straßen und die Fußgängerzone und genießen die Atmosphäre. Auf den Straßen ist einiges los. Unter den Touristen kann ich auch einige Marathonläufer ausmachen. Doch nicht nur sie stimmen mich auf den morgigen Tag ein. Zahlreiche Plakate und Tafeln weisen auf den anstehenden Marathon hin. Die Fußgängerzone ist mit Wimpeln mit dem Logo des Primiero Dolomiti Marathons geschmückt und am Ende der Straße wird gerade der Zielbogen aufgebaut. Da haben sich die Südtiroler auch etwas ganz Besonderes einfallen lassen. Dieser ist nämlich aus Holz gezimmert und passt hervorragend ins Bild.
Mit vielen neuen Eindrücken versuche ich ein paar Stunden Schlaf zu finden. Um sechs Uhr in der Früh schleiche ich aus dem Zimmer, um Silke nicht zu wecken. Bevor ich mich in den Frühstücksraum begebe, checke ich noch kurz das Wetter. Es verspricht ein toller Tag zu werden. Der Himmel ist strahlend blau, nur ein paar kleine harmlose Wolken kann ich entdecken. Dennoch habe ich in meinem Laufrucksack noch eine Regenjacke mit dabei, denn für den Nachmittag wurde Regen angekündigt und in den Bergen weiß man ja nie. Obwohl es nicht vorgeschrieben ist, habe ich auch eine Wärmedecke und ein Handy mit dabei. Eine kleine Flasche mit Iso und drei Gels lassen sich ebenfalls gut darin verstauen.
Vom Busbahnhof aus fahren uns im 5-Minuten-Takt Busse zum Start an der Villa Welsperg auf 1058 Metern Höhe. Auf einer Passstraße geht es stetig nach oben, ehe wir den letzten Kilometer zur Villa zu Fuß zurücklegen müssen. Die alte Villa ist der heutige Sitz des Naturparks Paneveggio Pale di San Martino. Drinnen sind eine Bibliothek, Labore und diverse Ausstellungsräume untergebracht. Errichtet wurde die Villa im 19. Jahrhundert durch den Herrn Welsperg als Jagdschlösschen. Laut einer Sage lebten in der Nähe des strahlendblauen Sees, der ebenfalls zu Villa gehört, die „Guane“, fantastische Kreaturen mit langen blonden Haaren. Nur in leichte, durchsichtige Gewändern bekleidet, wollten sie die Wanderer verführen.
Ich schaue, kann aber rund um den See und die Villa keine Guane entdecken. Es sind andere, fantastische Kreaturen, die mich umgeben. Etwas mehr als 420 Marathonläufer haben sich versammelt, um den Primiero Dolomiti Marathon unter die Füße zu nehmen. Vor dem herrlich blauen See und der Kulisse der Palagruppe werden zahlreiche Erinnerungsfotos geschossen. Die einen dehnen sich, andere laufen sich schon etwas warm und ich kann es einfach nicht mehr erwarten, bis es endlich losgeht.
Ein Moderatoren-Paar begrüßt uns in Italienisch und Englisch und stimmt uns auf den bevorstehenden Lauf ein. Fast wie bei einem großen Marathonevent verfolgen und dokumentieren Filmteams von einem Helikopter aus das Geschehen. Und dann geht es tatsächlich los. Das Feld setzt sich in Bewegung, wir laufen direkt auf die mächtige Palagruppe zu. Die Szenerie ist gigantisch und ich wette, ich bin nicht der einzige mit Gänsehaut. Das laute Geplappere um mich herum stört kein bisschen, es gehört dazu. Italiener werden, wenn überhaupt, erst auf den letzten Kilometern eines Marathons ruhiger. Es ist herrlich.
Die ersten Meter gehen auf einer Teerstraße sanft bergan, ideal zum Warmlaufen. Nur die ungewohnte Höhe treibt den Puls etwas mehr als sonst in die Höhe. Aber alles ist gut. Nach einer Kehre muss ich mich erst mal vom Blick auf die Palagruppe verabschieden. Es geht in den Wald und nun doch steil bergan. Um mich herum wird noch gelaufen und ich kann dem Drang, schon den ersten Anstieg gehend bewältigen zu wollen, nicht nachgeben. Nach ein paar hundert Metern haben dann die ersten Läufer ihr Pulver verschossen und ich kann mit ihnen gemeinsam stramm weiter marschieren. Als wir schon bald den Wald wieder verlassen, liegt ein kleines Bergdorf vor uns, umgeben von grünen Wiesen, im Hintergrund die Palagruppe. Genial. Schöner könnte es gerade gar nicht sein.
Wir verlieren die Berge wieder aus dem Blick, es geht bergab in einen Wald. Ich lasse es einfach laufen. Das Waldstück liegt bald hinter uns und wir haben einen wunderbaren Blick ins Tal. Unter uns liegt Fiera die Primiero. Auf guten Wegen geht es leicht wellig dahin, bis wir bei Kilometer 5 die erste Verpflegungsstelle erreichen. Ich trinke etwas und entdecke neben einer Abfallkiste eine Tafel mit dem Hinweis, dass das Mitnehmen des Bechers untersagt ist. Und tatsächlich überwacht ein Helfer die Einhaltung dieses Verbots. Ich finde das prima. Ich verstehe es nicht, warum manche Läuferinnen und Läufer überall ihren Müll hinterlassen müssen.
Übrigens, die Markierungen sind unmissverständlich, verlaufen kann sich keiner. Die Kilometerschilder zeigen nicht die gelaufene Distanz, sondern die Rest-Kilometer an. Das sage ich, damit sich niemand wundert, wenn er auf den Fotos mal eine solche Anzeige sieht.
Es geht nun wieder ein Stück hinunter, erneut in ein Waldstück. Ein breiter, gut zu laufender Weg erwartet uns zunächst, dann biegen wir auf einen herrlichen Trail ab, auf dem es rustikal rauf und runter geht. Das macht richtig Spaß. An einer Geröllschlucht ist etwas Trittsicherheit gefragt. Alles kein Problem. Auf der anderen Seite geht es wieder hoch in den Wald, die Pfade nehmen kein Ende. Dann die nächste, steinige Schlucht und der nächste Trail. Dieser Streckenabschnitt macht wirklich Laune. Er endet erst bei Kilometer 8 und der zweiten Verpflegungsstation.
Auf dem nächsten Streckenabschnitt bis zur Verpflegungsstation bei Kilometer 12 ist es ganz ähnlich, breite Waldwege, Trails und Geröllhalden wechseln sich ab. Und immer geht es bergauf und bergab, jetzt wieder durch ein Waldstück. Zunächst sieht man die Felszacken der Pala nur zwischen den Bäumen, dann in ihrer vollen Pracht hinter grünen Wiesen. Es ist einfach spektakulär. Wir laufen hinab in Richtung San Martino di Castrozza. Gut 16 Kilometer haben wir zurückgelegt.
San Martino di Castrozza liegt auf 1467 Metern und ist ein beliebter Ferienort, was man sieht und hört. Zahlreiche Touristen genießen die Sonne, bummeln durch die Straßen oder sitzen bei einem Espresso vor den Cafés. Etwas weiter südlich ist übrigens der Rolle Pass (1984 m), der in unzähligen engen Kurven das Fleimstal und das Primörtal verbindet. Für Motorradfahrer ist der Pass wohl kein Geheimtipp, wie ich am nächsten Tag auf dem Heimweg feststellen kann. In San Martino di Castrozza startete um 10:30 Uhr der 26 Kilometerlauf, der jetzt auf unserer Strecke zurück nach Fiera die Primiero führt. Mir gefällt der kleine Ort und ich habe ihn bereits für einen Kurzurlaub vorgemerkt.
Wir verlassen den Ort auf einem breiten Forstweg und finden uns schnell im Wald wieder. Immer wieder gibt der Wald einen Blick auf die Dolomiten frei und sorgt für Kurzweil. Es geht lange nur noch bergan, die Kilometer ziehen sich. Aber bei der nächsten Verpflegungsstation ist bereits die Halbmarathonmarke erreicht. Bergab kann man es jetzt wieder laufen lassen, bis auf einem felsigen Trailabschnitt einige Höhenmeter zu bezwingen sind. Ich merke die Anstrengung inzwischen deutlich, was meiner Freude, hier zu laufen, aber nicht im Geringsten schadet.
Grüne Wiesen liegen vor uns, Kühe grasen und liegen relaxed in der Sonne. Mann, haben`s die gut. Ich will etwas Tempo machen, lass es aber sein. Der Weg ist zu schlecht und die Landschaft zu schön. Wir sind im oberen Valle del Vanoi, vor uns liegt der malerische Calaita-See und die großartigen Türme der Pale di San Martino. Eine einmalige Naturkulisse. Klar, hier lauert ein Fotograf am Streckenrand, um die Teilnehmer abzulichten. Am Calaita-See erreiche ich Kilometer 25 und die nächste Verpflegungsstation. Ich mische Iso mit Wasser und lasse mich für ein paar Minuten auf einer Bank nieder. Ich muss das einfach genießen. Fantastisch.
Die nächsten Kilometer bis zur Verpflegungsstation bei Kilometer 29 verlaufen wieder ausnahmslos durch den Wald. Breite Forstwege, schmale Single-Trails und Felspassagen wechseln sich ab und bieten Abwechslung. Den größten Teil der Anstiege haben wir nun hinter uns. Meist geht es jetzt bergab, obwohl der ein oder andere giftige Anstieg schon noch auf uns wartet.
Das kleine Dorf Lozen ist nach 34 km erreicht. Ich labe mich an der vorletzten Verpflegungsstelle. Nun geht es endgültig in Richtung Ziel. Am Ortsausgang wartet noch ein heftiger Anstieg, der mit in der prallen Sonne einiges abverlangt. Ich bin froh, als ich oben angekommen bin. Zwei Läufer erfrischen sich an einem Brunnen, eine betagte Bäuerin reicht den beiden immer wieder ein Glas mit kalten Gebirgswasser. Genau das Richtige, auch für mich. Während die Frau uns versorgt, sitzt der Gatte gemütlich in einem Campingstuhl unter einem Sonnenschirm. Er applaudiert und will mich aufmuntern. Jedenfalls deute ich seine Worte so. Ich muss einen miserablen Eindruck auf ihn machen, denn jetzt bietet er mir eine eiskalte Cola an. „Mille Grazie“ kann ich da nur sagen.
Es geht jetzt tatsächlich nur noch talwärts. Es läuft, ich freue mich über jedes Kilometerschilder. Aber Bergablaufen auf rustikalen Waldwegen und schmalen Pfaden kann auch anstrengend sein. Ich sehne das Ziel herbei. Die letzte Verpflegungsstation erreiche ich bei Kilometer 37 und hier gibt es neben Iso und Wasser auch erstmals Cola. Ich leere einen Becher und laufe weiter hinunter in Richtung Fiera die Primiero.
Erst einen Kilometer vor dem Ziel lasse ich den Wald hinter mir. Ich gebe ich nochmal alles und überhole dabei sogar noch eine Teilnehmerin aus dem 26-Kilometer-Lauf. Ein paar Zuschauer, Touristen und Finisher applaudieren mit in der geschmückten Fußgängerzone. Silke steht am Streckenrand und ich verliere noch ein paar Sekunden, da ich mir frühzeitig mein Finisher-Bussi abholen will und dann durchquere ich den Holzbogen, den ich am Tag zuvor noch bewundert hatte. Es ist geschafft! Ein Mädl im Dirndl wartet auf mich und hängt mir meine Medaille um. Sie ist natürlich auch aus Holz und passt damit ins Gesamtbild dieser Veranstaltung.
Für jeden, der Landschafts- und Bergläufe mag, ist der Primiero Dolomiti Marathon erste Wahl. Trotz einiger anspruchsvoller Streckenabschnitte ist der Lauf nicht extrem (auch von den Höhenmetern her nicht) und deshalb ein Tipp für Genießer und für weniger Trail- und Berggeübte. Die Landschaft mit ihrer grandiosen Bergkulisse ist über jeden Zweifel erhaben, die Organisation ist perfekt. Von mir bekommt der Primiero Dolomiti Marathon die Höchstnote.