Das etwa drei Kilometer lange Stück über das Silbertaler Winterjöchli stellt keine allzu Schwierigkeit dar, wenn man konzentriert läuft und geschicklich ist. Nur mehr rund 50 Höhenmeter sind zum höchsten Punkt auf 1945 Meter zurückzulegen. Aber Patric muss aufgrund seines Handicaps aufpassen, er darf in diesem Gelände nicht stürzen. Ein paar Meter laufen kann er immer wieder, aber wenn es über Steine oder über kleinere Bäche geht, braucht er eine starke Hand, die ihn führt. Ich versuche so gut es geht, ihm über die kniffligen Stellen zu helfen.
Gleich zu Beginn des Trails liegen ein paar Rinder mitten auf dem Weg. Wir müssen ausweichen. Wir kommen noch gut voran, doch schon vor dem Langen See geht es über Stock und Stein. Immer wieder kommen Läufer von hinten. Die sind aber sehr geduldig und warten, bis wir auf die Seite treten oder sie gefahrlos überholen können. Die meisten loben Patric für seine Leistung und seinen Durchhaltewillen.
An zwei Stellen sind Bretter ausgelegt, um an einigen besonders morastige Stellen besser laufen zu können. Am Rand sehe ich einige Enzian in voller Blüte. Etwa bei Kilometer 22,5 überschreiten wir die Landesgrenze von Vorarlberg nach Tirol. Wir sind im Oberland. Wer mit dem Begriff nichts anfangen kann: Der Tiroler bezeichnet damit das Gebiet westlich von Innsbruck, also das Oberinntal und seine Nebentäler. Das Unterland in Tirol ist dann was? Richtig, alles was östlich von Innsbruck liegt. Jetzt hamma wieder was glernt. Die Wasserscheide Rhein/Donau haben wir kurz zuvor am höchsten Punkt auch noch überschritten.
Die für Patric schwierigsten Stellen liegen hinter uns. „Auf den vielen Steinen und Bächlein war für mich ein normales Gehen fast ausgeschlossen und jeden Läufer, den ich bis dahin hinter mir ließ, musste ich hier passieren lassen“, sagt er mir. Ist dabei aber ganz happy. Der Einschnitt vor dem Massiv des Patterion kommt immer näher, dann geht es ein paar Meter leicht abwärts und wir sind an der Bacheinfassung der Rosanna (Kilometer 23; 1850 Meter). Einkehr!
Und da steht er dann, der Fritz oder Sepp, ein Tiroler Urviech, der alles kann außer Hochdeutsch. Auf die Frage, ob er auch Marathon kann, lacht er in seinem Dialekt. „Des chanscht du bessr als i. Do geht's owi.“
Bis ich den ärgsten Hunger und Durst bekämpft habe, ist Patric auf und davon. Ich also hinterher. Aber wenn er laufen will und kann wie hier, hält ihn fast nicht auf. Der Fahrweg entlang der Rosanna ist gut ausgebaut, fast eine Schnellstraße für uns. Die Rosanna ist ein Gebirgsbach, der, haltet euch fest, 42,2 Kilometer lang ist. Er entspringt in der Nähe des Muttenjochs und fließt nordöstlich bis St. Anton, dreht ein wenig weiter nach Osten ein und vereinigt sich später mit der Trisanna (aus dem Paznauntal) zur Sanna und mündet dann in Landeck in den Inn.
Ich lasse es laufen, kann zwar immer wieder einzelne überholen, aber der Abstand zu Patric bleibt konstant. Nach drei Kilometer laufen wir an der Konstanzer Hütte (1688 Meter) vorbei. Die Hütte sehen wir jedoch nicht. Vor zwei Jahren haben wir auf unserer jährlichen Bergtour hier übernachtet. Höhepunkt war damals die Präsentation des Bergwetterberichts durch den Hüttenwirt. Und noch eine Besonderheit. Er hat einen Koch aus Nepal angestellt, der im Rahmen des Projekts „Voneinander Lernen“ (von der Nepalhilfe Tirol lanciert) sich Wissen aneignen soll und dann in der Heimat im Himalaya anwenden und weitergeben soll.
Kurz danach kommt eine erste längere Gegensteigung von etwa 50 Höhenmetern. Alle gehen, einer läuft. Ihr wisst schon, wer. Am Bildstöckli, einem Marterl, tost unter uns die Rosanna. Doch dann wird unser weiterer Weg wieder gefällig. Nur einmal muss ich das Tempo herausnehmen. Grund: Vier Walker in Überbreite, die die ganze Straßenbreite einnehmen. Ich unterlasse es, einen Pfiff loszulassen und mache mir den Jux, kurz vorher mit dem Fuß über den Kies zu schleifen. Die Walkerinnen scheuen wie die Pferde und werden hektisch, als sie mich wahrnehmen. Ich habe meine Freude. Die auch?
Immer weiter laufen wir das Verwalltal hinaus, der Untergrund ist mittlerweile asphaltiert. Der Verwall-Stausee hat eine grüne Farbe und dient neben der Energiegewinnung auch dem Hochwasserschutz. Zwei Kilometer weiter erreichen wir die sehenswerte Stiegeneckkapelle (1471 Meter), doch für eine Besichtigung reicht unsere Zeit nicht.
Die B197, die zum 1793 Meter hohen Arlbergpass hoch führt, hat die Polizei für uns gesperrt. Kurz danach im Ortsteil Moos (Kilometer 36; 1438 Meter) bekommt Partic eine Dusche. Ich stehe auf der Seite und kann genau zur rechten Zeit auf den Auslöser drücken. Beim Mooserwirt ist danach tote Hose, alles geschlossen. Der macht im Winter seinen Reibach.
Zum Ende der Ski-Saison ist hier in der Nähe das Ziel des Weißen Rausch. Habt ihr den Begriff schon einmal gehört? Wahrscheinlich nicht. Also, der Weiße Rausch ist nicht die Folge übermäßigen Genusses von weißem Rum oder Koks, sondern ein Skirennen. Aber ein „vogelwuides“. Denn da starten 555 Rennfahrer gemeinsam an der Bergstation Vallugagrat (2660 Meter), das Ziel ist unten in St. Anton. Die schnellsten rasen die 7,6 Kilometer lange Strecke mit rund 1400 Höhenmeter in rund neun Minuten hinunter. Aber jetzt kommt's: Die Strecke ist nicht präpariert und es ist eine Steigung drin, der Gipfel. Die Party danach endet dann wahrscheinlich im weißen …
Kurzzeitig braucht Patric nochmals meine Hand bei einem Almwiesentrail abwärts. Auch danach ist es steil und der Riesel auf dem Weg kann dir fast die Füße wegziehen. Wir wechseln die Talseite und sammeln so noch die fehlenden Kilometer irgendwie ein. Im Vorfeld hat ein Einheimischer die Durchquerung seines Grundstückes nicht erlaubt, so dass für die letzten fünf Kilometer noch eine neue Strecke gesucht werden musste. Der Verweigerer wird sich deswegen noch einiges von den Bewohnern anhören müssen. Denn der Marathon ist sehr beliebt hier.
Beim kurzen Begegnungsstück auf einer Wiese parallel zur Rosanna wird sich eifrig gegrüßt, wohl wissend, dass der Kanten gleich geschafft ist. Wie weit es noch genau ist, weiß ich nicht. Kilometerschilder habe ich nicht mehr gesehen. Aber Partics Uhr zeigt schon die 40 an. Den anlässlich der Skiweltmeisterschaft 2001 verlegten Bahnhof sehen wir von der Bergseite, denn hinter diesen packen wir den letzten Kilometer an. Oder sind es noch zwei? Sicher bin ich mir nicht.
Und dann muss ich lachen, denn da sehe ich noch eine Markierung des Antoniuswegs. Nach Padua wird er schon nicht führen.
Seit geraumer Zeit muss Patric kämpfen, Muskelkrämpfe plagen hin. Er dehnt, läuft wieder an, dehnt …. Jedes Mal kann ich aufschließen. Aber dann rennt er mit Standgas wieder davon. Bis erneut der Muskel zwickt.
An der letzten Verpflegungsstelle sitzt Patrics Freund aus Tuttlingen im Stuhl und ruht sich aus. Ich drohe mit einer Veröffentlichung seines maladen Zustandes, wenn er nicht augenblicklich aufsteht und mit uns weiterläuft. Ein Mann, ein Befehl. Also packen wir es nochmals an und laufen nach St. Anton.
Patric scheint (wieder) Oberwasser zu bekommen und eilt voran. Ich muss mich schinden und langmachen, denn eigentlich wollen wir zusammen ins Ziel laufen. Hinter der Pfarrkirche sehe ich eine Tafel und lese: „Kommt und seht“ (Joh 1, 39). Mein Rennen ist zwar noch nicht ganz am Ende, aber mein Fazit zu diesem Erlebnis ist dadurch genau beschrieben.
Auf der Dorfstraße im Ortskern erhalte ich meine Chance zum Auflaufen, denn Partic schnappt sich den Kinderwagen mit seiner Lina und schiebt ihn die letzten zehn Meter zum Ziel vor der Gemeindeverwaltung. Geschafft.
Als erstes erhalten wir die Medaille umgehängt. An den Ständen finden wir ein gigantisches Angebot. Weintrauben, Melonen, Äpfel, Orangen, Riegel, Wasser, Elektrolyt, Eistee. Und im Kühlschrank wartet ein, nein, zwei frische Bierchen auf mich. Die Kleiderbeutel werden gleich nebenan ausgegeben. Zum Duschen läuft man ins ARLBERG-well.com und kann da sogar noch in die Sauna gehen.
Gleich im Ziel ruft Partic: „ 42!“ Sein 42. Marathonfinish! Gratuliere! Neben dem soeben beendeten Montafon-Arlberg-Marathon haben ihm Hamburg (wegen der phantastischen Stimmung) sehr gut gefallen, der in Füssen war wegen der Seen und Berge toll. Das Größte für ihn war bisher die Kulisse am Matterhorn in Zermatt. Sein Wunsch in der Zukunft: „Ich möchte, dass meine Familie gesund bleibt und dass ich irgendwann mit Lina einen Marathon laufe.“ Bis dahin will er Bergmarathons sammeln.
Mein Hotel ist gleich um die Ecke. Ich mache mich frisch und kann nach der Säuberung noch bei der Siegerehrung zuschauen. Der letzte Finisher läuft nach rund acht Stunden ein, das ist die Sollzeit. Wer noch kann, darf die Pre-Race-Party besuchen.
Ich war hier schon deutlich schneller. Aber die Streckenführung, oder waren es die Temperaturen, haben nicht nur mich, sondern auch den Gesamtsieger deutlich langsamer gemacht. Aber dadurch dauert das Vergnügen länger. Kommt und seht.
Sieger Montafon Arlberg Marathon
Herren
1. Martin Knell 3.21.34
2. Felix Schenk Run Fit Thurgau 3.23.11
3. Christian Häuser GermanTopTeam.com 3.26.09
Sieger Montafon Arlberg Marathon
Frauen
1. Astrid Müller Grafstal 3.39.49
2. Frieda Manser Appenzell 4.24.47
3. Annette Frings Selbstläufer SV Altenahr 4.26.33