Beim Rennsteig-Etappenlauf im Thüringer Wald steht das Erlebnis vor dem Ergebnis
Der Rennsteig ist immer für eine Überraschung gut. Der Rennsteig-Etappenlauf auch. Zum ersten Mal in der 26-jährigen Geschichte dieses Laufes stehen bei der 51. Auflage in diesem August mehr Frauen als Männer am Start. Dreizehn zu neun heißt das Verhältnis am Rennsteigbeginn in Blankenstein an der Selbitz, von wo aus es über Stock und Stein und 168,3 profilierte Kilometer bis nach Hörschel an der Werra geht. Fünf Tage von den Ausläufern des Frankenwaldes über das Thüringer Schiefergebirge bis hin in den westlichen Teil des Thüringer Waldes. Diese offizielle Rennsteig-Distanz stammt noch von Julius von Plänckner, der die Strecke 1829, ebenfalls in fünf Tagen, als Erster abgewandert ist.
Es sind bis heute fünf Tage, die jedem, der sie läuft, den Spiegel vorhalten. Was sind meine Stärken, was meine Schwächen? Ein Lauf, so vielfältig wie ein ganzes Läuferleben. Oft genug geht es aufwärts, aber ebenso oft wieder bergab. Höhen und Tiefen, man erlebt sie alle. Auch das bunte Völkchen, das da am 15. August kurz vor halb neun wie ein Trupp Goldwäscher am Ufer der Selbitz hockt. Ehe es los geht, muss ein Steinchen aus dem bayrisch-thüringischen Grenzfluss aufgenommen werden. Tradition bleibt Tradition. Nach altem Brauch soll der Wanderer einen Stein von der Selbitz zur Werra tragen. Für Rennsteig-Etappenläufer gilt das natürlich auch.
Zweimal im Jahr, jeweils im April und im August, organisiert der Rennsteiglaufverein dieses Abenteuer auf dem berühmten Thüringer Höhenpfad. Dieser „uralte, seltsame und geheimnisvolle Weg über den scharfgratigen Kamm“, schreibt der Wanderschriftsteller August Trinius 1899, „bildet nicht nur für Thüringen und die deutschen Lande eine Merkwürdigkeit ersten Ranges. Kein Gebirge der Welt hat etwas Ähnliches aufzuweisen.“
Auch der seit 1996 ausgetragene Etappenlauf ist und bleibt ein wunderbarer Exot unter den vielfältigen Angeboten des Rennsteiglauf-Vereins. Er ist das kleine Geschwisterlein des legendären Rennsteiglaufes, des Rennsteig-Staffellaufs oder des Schneekopflaufes. Ihm genügen Starterzahlen zwischen 20 und 40 – mehr ließe die Logistik von Transport und Herbergen gar nicht zu. Und dass oft genug, so wie in diesem Jahr, das Durchschnittsalter der Teilnehmer weit jenseits der 50 liegt, spricht nicht gegen ihn. Im Gegenteil. Erlebnis geht vor Ergebnis. Wanderer, Walker oder Läufer sein – alles ist hier möglich. Bei diesem Lauf kann jeder jeden Tag neu entscheiden: langsam oder schnell, allein oder gemeinsam, reden oder schweigen, lachen oder leiden.
Wer über den Rennsteig läuft, ändert seine Wünsche oft augenblicklich. Mal ersehnt er Anerkennung, mal erhofft er Mitleid. Mal könnte er die Welt umarmen, mal im Erdboden versinken. Nur eines muss niemand: den sonst oft so schmerzlichen Spagat zwischen Alltag und Laufen üben. In dieser einen Woche durch Thüringen ist alles anders. Dank der dienstbaren Geister des Rennsteiglaufvereins dürfen sich alle wie in einem fröhlichen Ferienlager für Junggebliebene fühlen. Oder wie Laufprofis im Trainingscamp. Denn die Crew um Gesamtleiter Sieghard Zitzmann kümmert sich um alles, transportiert Gepäck, stellt unterwegs Verpflegung bereit und organisiert die Unterkünfte an den Zwischenstationen in Spechtsbrunn, Neustadt, Oberhof und am Inselsberg. Das Tagwerk der Etappenläufer heißt einzig Laufen. Ein paar glückliche Stunden lang. Eine Unternehmung, die das Leben auf das Wesentliche reduziert. Laufen, essen, schlafen. „Wie herrlich“, sagt Ingrid Krügel aus Premnitz, zum 16. Mal dabei und mit 78 (!) Jahren die respektierte Nestorin des Starterfeldes.
Eines kommt noch hinzu: den rechten Weg finden! Rennsteig-Etappenläufer sind immer auch Orientierungsläufer. Steht ein weißes R am Baum? Wohin zeigt das Schild? Und: geht es nicht ein bisschen zu weit seitlich bergab? Der Weg zur Weisheit ist kurvig, sagt Konfuzius. Der zum Ziel ist es auch. Ohne Verlaufen, und sei es nur kurz, geht es auf dem Rennsteig kaum. Auf den ersten Metern ins Verhängnis spürt man es nicht. Doch irgendwann kommt der Punkt, der keine Wahl mehr lässt. Stehenbleiben, umkehren, zurück zur letzten Weggabelung. Was hat Ulli Röder gesagt?
Der gebürtige Wittenberger und heutige Wahl-Geraer ist der Mann der ersten Stunde. 1996 hat er den Etappenlauf erfunden. Zu viert sind sie damals von Hörschel nach Blankenstein gelaufen, das fast 60 Kilometer lange Teilstück vom Inselsberg nach Neustadt gar an einem Tag. Einzige Betreuerin: seine Frau Jutta. Sie hat sich um die Unterkünfte gekümmert und das Begleitfahrzeug gesteuert. Auf dem Beifahrersitz lag eine Karte, auf der ihr Ulli den Rennsteig grün und die Fahrstrecke rot markiert hatte.
Beide sind mit dem Lauf und seinen Läufern jung geblieben. Die 80 nimmt man ihnen nicht ab. Vor vier Jahren übergibt Röder den Staffelstab des Gesamtleiters an Sieghard Zitzmann. Den Co-Piloten mache er aber immer noch gern, sagt er. Er wird ja auch noch gebraucht. Nicht nur wegen seiner kleinen Vorträge zur Thüringer Geschichte, die allabendlich wie das Intonieren des Rennsteigliedes zum Rahmenprogramm des Laufes gehören, sondern auch wegen seiner profunden Streckenkenntnis. Wenn Ulli Röder die Läufer einstimmt auf die nächste Etappe, dann läuft vor seinen Augen ein Film ab. Gedanklich wandert er mit seinen Zuhörern Kilometer für Kilometer den Rennsteig ab, beschreibt in beeindruckender Präzision jeden kritischen Abzweig, jeden kniffligen Hohlweg, jeden markanten Stein und Baum. „Das ist mein fotografisches Gedächtnis“, lacht er.
Natürlich kann sich das niemand alles merken. Aber ein paar hilfreiche Hinweise bleiben eben doch hängen und mit ihnen später auf der Strecke das unbezahlbare Glücksgefühl, den rechten Weg gefunden zu haben. Überhaupt das Läuferglück, von dem Irmgard Eggert aus Halberstadt so schwärmt. Auch sie hat das siebte Lebensjahrzehnt längst vollendet und kommt doch immer wieder. Oder wie es Ev Weigelt (47) aus Ruhla erlebt, die lächelnd und zugleich erstaunt feststellt: „Ich bin 168 Kilometer gelaufen, einfach so.“
Das Glück zeigt viele Gesichter auf dem Rennsteig: es ist, natürlich, am größten im Ziel. Aber auch unterwegs ist es zu spüren. Etwa, wenn das weiße R am Baum den richtigen Kurs signalisiert oder eine neongrüne Helferjacke in der Ferne durchs Geäst leuchtet – weil man dann weiß, die nächste Verpflegungsstelle ist nah. Es sind die kleinen Momente, die selig machen. Und sie sind hier, im Ursprünglichen der Natur eine Lektion fürs Leben. Erst ein bisschen Verzicht ermöglicht den wirklichen Genuss.
168 Kilometer quer durch Thüringen, das sind 168 000 Meter voller Unwägbarkeiten und Risiken. Bewältigt hat sie erst, wer die provisorische Kreidelinie am anderen Rennsteigende in Hörschel überquert hat. Stolperer und Stürze gehören dazu. Der ein oder andere kommt mit aufgeschlagenem Knie ins Ziel, zwei müssen unterwegs aufgeben. An den nächsten Tagen bleiben sie als Betreuer an der Strecke im großen Tross dabei. Zu schön ist das Gemeinschaftsgefühl.
Der Etappenlauf ist ein Erlebnis, das die Zeit entschleunigt. 168 Kilometer Thüringen, ein 100-Meilen-Abenteuer, ein fünftägiger Aktivurlaub. Ein Erlebnis, das die einfachen Dinge des Lebens lehrt. Den Kopf oben zu behalten, um nicht vom Weg abzukommen. Und die Größe zu besitzen, auch nach unten zu schauen, um nicht zu stürzen. Ein Lauf, bei dem ein kleiner Kiesel aus der Selbitz bei Blankenstein große Karriere macht. Er liegt jetzt in der Werra bei Hörschel. Als unverrückbarer Meilenstein.