Mit dem mir auferlegten läuferischen Kürzertreten ist es wie mit der viel bemühten Sache mit dem Füllstand des Glases. Und ich jammere nicht, sondern erfreue mich an all den positiven Seiten, welche der sportliche Halbmast mit sich bringt. Ich blieb von Hagel- und Schneeschauern, Hochgebirgssümpfen und DNFs nach 20 Stunden Plackerei verschont und kann mich kürzeren Läufen zuwenden, welche in den vergangenen Jahren zugunsten Marathons und Ultras zurückstehen mussten.
Einer davon drängt sich in diesem Jahr zwingend auf. Es wäre eine Frechheit, wenn ich ohne echten Verhinderungsgrund nicht endlich vom Rheinfall-Lauf berichten würde. Mit einem Anteil von 70% Naturbelag und 50% Single Trails passt er ins Konzept und an den Start kann ich zu Fuß. Ausgerechnet, dabei ist im Startgeld die Anreise im gesamten Verkehrsverbund enthalten.
Startnummernausgabe, Garderobe und Start ist im Zentrum Neuhausens, dort wo ich arbeite und wohin meine Steuern fließen. Mit dem zu erwartenden Ansturm mit rund 600 Vormeldungen für die Hauptstrecke und etwa 400 Teilnehmern von Kinder-und Jugendbewerben, dem Walking und dem Run über 6.8 km, mache ich am Vorabend Gebrauch von der vorzeitigen Startnummernabholung. Heimvorteil.
Dadurch, dass die Hauptdistanz als letzter Lauf gestartet wird, herrscht schon bei meiner trotz Heimvorteil frühen Ankunft ein reges Treiben. Ein niederschlagsfreier Tag mit einer Höchsttemperatur von 17° - eine Sensation in diesem Sommer – hat auch viele Nachmelder angelockt. Eine unerwartete Verbesserung des letztjährigen Melderekords. Die Aufnahme in die Wertung des Züri-Laufcups hat letztes Jahr dafür gesorgt und offensichtlich wurde das Wort verbreitet.
Nach dem Start des Runs, der Walker und der Piccoli und Piccole gibt es ein zweites Warm Up auf dem Pausenplatz. Wenn und wo keine Sonne vorhanden, ist es empfindlich kühl, das Aufwärmen ist also nicht die dümmste Idee für die, die gleich losheizen wollen.
Schon früh bin ich in der Startzone, fotografiere noch die Läufer-Zeichnungen von Schülern der 2. Klasse am Zaun des Schulhauses (die müssen einen laufverrückten Lehrer haben…), den dreimaligen Sieger und Inhaber des Streckenrekords, Mitglied des LC Schaffhausen aus der benachbarten Kantonshauptstadt, und das Riesenfeld von fast 800 Startenden. So viele Leute, das ist vor und in der Rhyfallhalle kein häufiger Anblick. Abgesehen von der Elvis-Show mit Oliver Steinhoff Ende September gibt es eine solche Menschenmenge vermutlich erst wieder in einem Jahr beim Rheinfall-Lauf zu sehen (Alex, der OK-Chef der Elvis Show sagt, der Unterschied sei der, dass bei seinem Anlass nicht alle gleich wegrennen...).
Am Schluss des Feldes überquere ich die Startlinie, denn mir ist aus früheren Zeiten noch präsent, dass es bei „kurzen“ Läufen, die flach beginnen, meist hektisch und zuweilen remplerisch zugeht. Durch ein paar Quartierstraßen geht es zu dem im Umbruch liegenden Areal der ehemaligen Neuhauser Industrie. Die Unterführung hat noch wenig Trailcharakter, aber sie bringt uns hinunter zum Rhein. Nach einer scharfen Linkskurve geht es stromaufwärts und ein bisschen kommt es mir beim Laufen auch so vor. Auf der Promenade haben gerade mal drei Läufer nebeneinander Platz und der wird gehalten. Nach zwei Kilometern wäre ich jetzt so langsam in Fahrt, doch das Tempo muss ich noch drosseln. Bald kommt aber schon die scharfe Biegung auf den Flurlinger Steg, eine schmale, bald hundertjährige Stahlbrücke, welche nicht nur die beiden Gemeinden, sondern auch den Kanton Schaffhausen mit dem Kanton Zürich verbindet.
Auf der anderen Seite gibt es bereits eine Wasserstelle und kurz nach Verlassen des Wohngebietes verlassen wir den Asphalt. Es steht der erste Anstieg hoch zum Schloss Laufen an, wo der Rheinfall-Tourist sich in der Jugendherberge in diesem historischen Gemäuer einquartieren kann. Der Verlauf der Strecke würde an dieser Stelle im Motorsport als Schikane bezeichnet. Ich hoffe, die von der temporären Absperrung des Zugangs zur Aussichtsterrasse betroffenen Besucher des Rheinfalls fühlen sich nicht schikaniert. Viele sind es sicher nicht, denn sie feuern das Feld an.
Kurz hinter der Kirche gibt es schon wieder Tranksame und nachher einen breiten Feldweg nach Dachsen. Geografisch gesehen befinden wir uns im Zürcher Weinland und müssen noch ein paar geteerte Abschnitte erdulden, bevor wir uns läuferisch gesehen wieder in Trail-Gefilden bewegen. Verpflegungs- und Wasserstellen gibt es gefühlt an jeder Hausecke und Heckenbiegung, darum lasse ich es bei diesem Hinweis gut sein und sehe von ihren weiteren Aufzählungen ab.
Beim zehnten Kilometer steigt meine Freude an diesem Lauf nochmals an. Ich weiß nämlich, was jetzt kommt. Heimvorteil eben. Bald biegt die Strecke rechts ab und dann gibt es fast nur noch Single Trails. Wie im Lehrbuch geht es rauf und runter, sind sie mit Wurzeln durchsetzt, mit Steinen gespickt und an ganz steilen Stellen mit Holzstufen gesichert. Wie ich das liebe! Der Nachteil ist, dass nicht alle Läufer mit diesen Eigenheiten der Strecke gut klarkommen. Das Laufen auf solchen Rhythmusbrechern ist schon was anderes als das gleichmäßige Rundendrehen anderswo. Da ich nicht auf Zeit laufe, ist es kein Drama, dass ich auflaufe und ein- oder ausgebremst werde.
Zum Abschluss dieses ersten urigen Abschnitts geht es fast wie auf einer Hühnertreppe hinunter ans Ufer bei der Staustufe des Kraftwerks Rheinau. Bis zum Wendepunkt auf dem Klosterplatz in Rheinau geht es ein kurzes Stück auf der Straße weiter. Eigentlich ist es schade, an diesem schönen Ort vorbeizuhetzen. Der Rhein, das Grün, die Klosterkirche und die anderen schmucken Gebäude auf der Insel drüben strahlen Ruhe aus und laden ein zum Verweilen. Seit zwei Jahren finden an der Decke und den Deckengemälden der Kirche Renovationsarbeiten statt und bald schon wird dieses 300-jährige Barock-Bauwerk wieder vollständig in neuem Glanz erstrahlen.
Die Klosterinsel ist heute auch Musikinsel. Seit Kurzem steht in den historischen Gebäuden eine Infrastruktur für Orchester, Chöre und Musikgruppen jeglicher Stilrichtungen zur Verfügung. Zahlreiche Proberäume, zwei Säle und Gästezimmer bieten Platz für bis zu 120 Musikschaffende. Heute spielt die Musik auf dem Trail – also: weiter geht’s.