Mit dem Überqueren des Wehrs beim Kraftwerk wird auch die Grenze nach Deutschland überschritten. Das rechte Rheinufer ist der östlichste Teil des Jestetter Zipfels und der Grenzverlauf folgt hier ausnahmsweise logischen Kriterien. Wie sehr Grenzen eine Sache in unseren Köpfen sind, wird einem bewusst, wenn man hier auf dem wunderschönen Ufer-Wurzel- und Steinweg weiterläuft und über den Rhein ans andere Ufer schaut. Was, beim Teutates, soll da der Unterschied sein? Und, wie idiotisch ist es doch, dass ich mir sonst immer überlegen muss, ob ich allenfalls auf der Trainingsrunde den Personalausweis dabeihaben muss. Das ist in der Tat ein Heimnachteil. Immerhin übernimmt während des Rheinfall-Laufs die Startnummer die Funktion des amtlichen Ausweises.
Die sieben verbleibenden Kilometer bis zum Ziel sind einfach ein Genuss. Der angebliche Sommer erbarmt sich unser und schenkt uns weiterhin Sonne, der weitgehend flache Weg fordert keine zusätzlichen Kräfte, was nicht heißt, dass keine Aufmerksamkeit auf den Boden gerichtet werden müsste. Wenn die Beine schon leer sind, steigt die Gefahr, dass die Füße die Bewegung des restlichen Körpers nicht mehr mitmachen und sich am Boden festhaken. Die Gesetze der Physik werden dann gnadenlos sicht- und fühlbar.
Der Überlieferung nach hat es in der Folge einmal ein unfreiwilliges Bad im Rhein gegeben. Das wäre mir allemal lieber als das plötzliche Verschwinden in den Brombeerranken, das ich weiter vorne beobachte. Drei Kilometer vor dem Ziel ist der Weg wieder breiter und ermöglicht ein Überholen, falls die Körner gut eingeteilt sind.
Bei der Nohlbrücke spätestens weiß man, dass man wieder in der Schweiz ist. Überraschenderweise im Kanton Zürich, der sich an dieser Stelle kurz über den Rhein ausdehnt. Das kleine Schild mit dem Schaffhauser Bock zeigt dann an, dass wir wieder auf Neuhauser Gemarkung unterwegs sind. Zusammen mit dem Kilometerschild vor der Nohlbrücke kann auch ein mittelmäßiger Rechner sich zusammenreimen, dass das Ziel nur einen Kilometer entfernt liegt. Damit es bis dahin nicht zu einfach wird, gibt es noch eine Treppenpassage, ein Prüfstein, wie viel Saft noch in den Beinen ist.
Leider ist um diese Uhrzeit der Sonnenstand so, dass der Rheinfall in einem diffusen Licht erscheint. Ich gehe aber davon aus, dass nur die Wenigsten ihren Blick wirklich auf diese Naturschönheit gerichtet haben. Ich glaube, das Zielbanner und die Zeitmessmatte haben jetzt einen höheren Stellenwert. Ich muss gestehen, ich blicke nur zum tosenden Wasser, um zu sehen, ob ich werbetaugliche Bilder schießen kann und schiebe noch ein Brikett nach. Ich freue mich, dass ich mich nach diesen 20,2km noch so gut fühle, unterwegs genug Sauerstoff in den Körper bekam und noch Reserve habe.
Im Zielbereich ist absolute Höchstsaison mit Rheinfall-Touristen. Entsprechend dicht ist die Menschenmenge dort, wo sich die Finisher mit ihrem Geschenk, einer hübschen, blauen Thermoskanne mit den Logos des Rheinfall-Laufs und des Züri-Laufcups, ins Sightseeing einreihen.
Für ganz Müde gibt es einen Shuttlebus zurück zur Garderobe. Wenn man zu Fuß die Steigung auf sich nimmt, erhält man einen schönen Ausblick über das Rheinfallbecken. Den lasse ich mir auch nach 26 Jahren Heimvorteil nicht nehmen.
Einen entscheidenden Heimvorteil nutze ich nicht, dusche in der Rhyfallhalle und teile mit allen anderen im hinteren Teil des Feldes Klassierten das Los der kalten Dusche, eine unerfreuliche Folge der erfreulich hohen Meldezahl.
In der Festwirtschaft auf dem „Platz für alli“ gibt es danach sogar für die Vegis etwas vom Grill, auf dem Podest Blumen und Geschenke für die Platzierten und ganz zum Schluss eine Verlosung unter allen Anwesenden mit attraktiven Preisen.
„Du kannst ruhig schreiben, dass dies der schönste Lauf der Schweiz ist“, meint im Ziel ein Läufer aus dem Weinland zu mir. Als Ultra-Berg-Freak kommt mir da noch der eine oder andere in den Sinn, der im Kampf um diesen Titel auch gewichtige Argumente in die Waagschale werfen kann. Mit der Kombination von Rhein, Single Trails, der Sehenswürdigkeit Rheinfall und der guten Organisation spielt der Rheinfall-Lauf aber sicher in der vorderen Liga mit. Das ist nicht bloß eine Heimvoreingenommenheit meinerseits, denn ich bin nur ein Zugewanderter…