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09.07.22 - Rheinquelle Trail

Ad fontes

In der Redaktionsstube in der Mitte der Oberrheinischen Tiefebene hatte der Chef eine Eingebung.  Er fragte mich, ob ich, der ich schon seit bald 35 Jahren am Hochrhein wohne, eigentlich schon mal an der Quelle des Rheins gewesen sei. Meine Verneinung hatte gleich einen Vorschlag zur Folge, für dessen Ablehnung ich keine, für die Annahme hingegen einige triftigen Gründe hatte.

Am Freitag habe ich im Berner Oberland ein paar Dinge zu erledigen und so kombiniere ich meinen Ausflug ins Bündnerland mit einer Fahrt über drei nur in den Sommermonaten geöffnete Alpenpässe. Vom Haslital über den Grimselpass hinunter ins Wallis nach Gletsch, dann unterhalb des Rhonegletschers vorbei, dem Ursprung eines anderen großen Stroms Europas, über den Furkapass hinüber in den Kanton Uri. Würde ich in Hospental rechts abbiegen, käme ich über den Gotthardpass ins Tessin, ich muss aber weiter nach Andermatt und von dort weiter über den Oberalppass. Dann endlich bin ich im obersten Teil der Surselva.

 

 
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Die Tourismusdirektorin von Sedrun Disentis Tourismus ist begeisterte Trailläuferin und Initiatorin eines Laufs, der  trotz Pandemie in den vergangenen zwei Jahren seine Premiere und zweite Austragung erlebte, wegen meiner langen Laufpause bei mir damals aber nicht auf dem Schirm auftauchte.

Zwei Strecken sind im Angebot, der Tgom Trail und der Rheinquelle Trail. Der erste, 18 km lange Trail ist mir ein bisschen zu kurz und führt nicht an der Rheinquelle vorbei. Der lange, in diesem Jahr um etwas mehr als einen Kilometer und damit auf Marathondistanz verlängerte Trail wird mich allerdings in den Grenzbereich meiner derzeitigen Kondition führen, dessen bin ich mir bewusst. Gut 3000 positive Höhenmeter auf die Gesamtstrecke wären schon eine Ansage an sich. In diesem Fall sind diese aber fast ausnahmslos auf dem ersten und dem zweiten Drittel des Marathons zu bewältigen.

Der Morgen beginnt bilderbuchmäßig.  Die aufgehende Sonne am wolkenlosen Himmel vertreibt die nächtliche Bergfrische sehr schnell. Beim Sportzentrum Sedrun mit der Mehrzweckhalle Dulezi wird es ohne Hektik geschäftig. Alles ist klar ausgeschildert, Fragen kommen keine auf.

Die 18 Damen und 53 Herren müssen vom Moderator fast dazu überredet werden, sich in den Startbereich zu begeben. Platz für viel mehr Teilnehmende gäbe es zur Genüge. Dann, genau um 08.00 Uhr erfolgt der Startschuss und das Abenteuer beginnt. Unterhalb des Sportzentrums geht es auf einer kurzen Schlaufe etwas hinunter, dann wieder hoch zur Hauptstraße. Ich weiß nicht, ob es die Höhenlage (~1400m ü.M.) ist oder sonst etwas, aber das Atmen bereitet mir etwas Mühe. Auf dem Weg hinunter zum Talgrund achte ich auf gutes, ruhiges, gleichmäßiges und tiefes Atmen, nicht ohne der schönen Kulisse der heutigen Aufführung gebührende Aufmerksamkeit zu schenken.

 

 
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Auf der südlichen Talseite geht es durch den Weiler Surrein in den ersten langen Aufstieg. Über Wiesen und dann durch den Wald führt der Bergwanderweg über die Waldgrenze, womit klar ist, dass schon 500 Höhenmeter gewonnen sind. Im Winter kann man diesen Höhenunterschied auf Voranmeldung mit der historischen Tgom Seilbahn überwinden, für uns wartet nach knapp fünf Kilometern ein erster Verpflegungsposten, ausgestattet mit Wasser, Iso, Gel, Riegel und Bananen. Die anderen Läufer, welche bisher mit mir am Ende des Feldes waren, ziehen gleich weiter und tief unter uns brausen die Schnellzüge durch den Gotthard Basistunnel.

Mein Zeitplan stimmt und so mache ich mich weiter auf den Weg und werde dabei von Ursina begleitet. Als Einheimische kann mir die Besenläuferin interessante Informationen zu der Gegend geben.

Der erste Gipfel ist noch nicht erreicht, da braust von hinten schon der Führende des Tgom Trails heran. Eine Stunde später gestartet und schon da. So sieht ein Regenerationswettkampf von Stephan Wenk aus, der vor einer Woche auf La Palma Siebter bei der Trailrunning-EM wurde.

Links unten das satte Türkis des Lai da Nalps, einem der vielen Stauseen im Wasserschloss Europas, vor mir der Garvers dil Tgom, dem elf Meter zu einem 2500er fehlen. Anschließend muss ich meine volle Aufmerksamkeit vom Panorama auf den Weg richten. Steil hoch ist das Eine, steil hinunter das Andere, und von dem fehlt mir die Praxis. Zudem kommen von hinten immer wieder die Schnellen der Kurzstrecke, welche ich nicht behindern will.

 

 
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Ohne Superuhr am Handgelenk sagt mir die Waldgrenze wieder, wie viele Höhenmeter abgebaut sind – und es geht noch weiter. Auf den vier Kilometern vom Gipfel bis zur Streckenverzweigung sind es insgesamt 1000 Höhenmeter und «da unten im Tal» ist es mittlerweile recht warm. Bis zum nächsten Verpflegungsposten ist es aber nicht mehr weit. Der steht talaufwärts bei Selva und ist zusätzlich noch mit Käsebrötchen ausgestattet. Normalerweise tendiere ich nicht zu Laborfutter, jetzt aber ist mein Magen anderer Meinung und lässt mich nur Gel zu mir nehmen.

In der Hoffnung, dass alle Anwesenden ihr Handwerk im Griff haben und ich keinen Ball an den Kopf bekomme, geht es über den Golfplatz. Welcher Kontrast das kurzgeschnittene Grün doch zu den herrlichen mit zahlreichen Blumen in allen Farbschattierungen durchsetzten Wiesen in der Höhe darstellt. Ich für meinen Teil möchte die Sportart nicht wechseln.

Wenig später erreichen wir Tschamut, den ersten Cut Off. Trotz regelmäßigem Trinken habe ich ein schreckliches Durstgefühl, ein etwas flaues Gefühl im Magen und frage mich ernsthaft, ob ich nicht aussteigen soll. In Anbetracht des noch vorhandenen Zeitpolsters und der Überzeugungskunst von Ursina wage ich es und bleibe im Rennen. Nach weiterer Erfrischung am Brunnen und dem Auffüllen der Flasche verabschiede ich mich von Ursina und nehme die anstehende Herausforderung an, den Aufstieg zum nächsten Gipfel. Zunächst geht es aber nochmals zum Talboden und über den Rein Anteriur, den Vorderrhein, hinüber auf die rechte Talseite.

 

 
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Von da an geht es nur noch aufwärts. Nicht nur ein bisschen, sondern ziemlich heftig. Hubert, der neue, frische und gut trainierte Besenläufer folgt mir und sammelt die Streckenmarkierungen ein. Die Fähnchen sind in jeweils dem Gelände angepassten Abständen gesteckt und lassen keine Fragen aufkommen. Nach zwei Kilometern und fast 400 weiteren Höhenmetern erreichen wir die Via Curnara, die gut ausgebaute Erschließungsstraße zum gleichnamigen Staudamm. Am Straßenrand stehen Streckenposten mit einem weiteren Getränkeposten. Ein Mitstreiter hat hier das Rennen mit Magenproblemen abgebrochen und ich hoffe, dass mein Magen seine relative Ruhe beibehält.

Auf der anderen Straßenseite geht es weiter. Auf einer Route, von welcher man sich besser fernhält, es sei denn, man kennt hier jeden Stein, oder sie ist ausgeflaggt. So, wie das immer ist, wenn die Schweizer Landeskarte an einer Örtlichkeit keinen Weg ausweist. Die Professionalität der Organisation ist daran erkennbar, dass in diesem Terrain die Flaggen so nah aufeinander gesteckt sind, dass auch bei schlechtester Sicht die Orientierung gewährleistet ist.

Uns kommt ein Läufer entgegen, der sich wegen Krämpfen entschieden hat, zum letzten Streckenposten umzukehren. Sicherheitshalber fotografiert Hubert die Startnummer und signalisiert nach unten, dass sie noch einen Rückkehrer abwarten müssen. Gegen Anzeichen von Krämpfen schlucke ich nochmals zwei Salztabletten, welche schon bald ihre Wirkung zeigen. Ein weiteres Gel tut das Seinige und ich bin zuversichtlich, dass ich den Piz Cavradi erreichen und überschreiten werde.

Klar ist für mich aber auch schon, dass ich – auch wenn ich noch im Zeitlimit bin – bei der Maighelshütte aussteigen werde. Durch diesen Entscheid kann ich die vor mir liegende Strecke bei aller Anstrengung noch richtig genießen. Und die hat es in sich. Von Wimpel zu Wimpel hoch, wo kein Weg zu erkennen ist und dann über riesige Steinbrocken hinauf zum Gipfel. Ich habe keine Eile, lasse den Ausblick auf mich wirken und winke hinüber zum Lai da Tuma, dem Tomasee. «Ich werde dich heute nicht besuchen kommen, aber ich habe dich, die Quelle des Stroms, auf den ich täglich von meinem Balkon herabblicke, endlich gesehen.»

 

 
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Der Blick vom Gipfel hinunter ins Tal ist beeindruckend. So sieht also ein Kilometer Wegstrecke mit 300 Höhenmetern von oben aus. Wenn ich wieder antrete, um hoffentlich den ganzen Marathon laufen zu können, dann muss ich vorher Zeit herausholen. An dieser Stelle mache ich langsam und nehme die Mutter der Porzellankiste bei der Hand. Die Maßstäbe sind individuell, doch für mich ist diese Kombination von technischem Untergrund, steilem Abstieg und fehlender Schwindelfreiheit auf der obersten Stufe der Skala. Sehr anspruchsvoll, aber machbar.

Bei der Canona da Maighels wird für mich ein letztes Mal die Zeit genommen. Spätestens vor einer Viertelstunde hätte ich den weiteren Weg unter die Füße nehmen sollen. Mental und vom Befinden meines Magens her, wäre die Versuchung groß gewesen, wäre ich rechtzeitig hier gewesen. Den nächsten Anstieg zum Pazolastock hätte ich kräftemäßig geschafft, doch der unmittelbar danach folgende Abschnitt wäre für meine bis dahin zusätzlich beanspruchte Oberschenkelmuskulatur zu viel des Guten, denn die dreizehn Kilometer vom Oberalppass bis zurück nach Sedrun kämen auch noch dazu. Dass diese mit 600 negativen Höhenmetern bestückt sind, wäre zwar hilfreich, würden an der Herausforderung als solche nicht viel ändern.

Während die freundlichen Voluntari, die unentbehrlichen Freiwilligen, langsam den Verpflegungsposten abbauen, trinke ich ausgiebig und esse mit Appetit ein Brötchen. Hätte ich es gewünscht, hätten sie mir noch weitere zubereitet. «Schade, dass du nicht mehr weiterkannst. Du siehst viel besser aus als mancher, der weiterlief», sind aufmunternde Worte, die mir dazu gereicht werden.

Ich freue mich, über das heute Erreichte. Klar, ein Finish wäre auch schön gewesen. Hätte ich den auf der Kurzdistanz erreicht, wäre das aber bloß fürs Ego und die Bilanz nach außen gewesen. Ich kenne nun zwei von drei zentralen Stellen und zwei Drittel der Beschaffenheit der positiven Höhenmeter. Und dieses Wissen sind Ansporn und geben mir eine gute Basis für einen nächsten Versuch. Ein Jahr habe ich Zeit, an meinen momentanen Schwachstellen zu arbeiten, bevor ich einen neuen Anlauf in der Champions League der Trail Marathons nehmen möchte.

Der Rheinquelle Trail spielt in der obersten Liga der Langstrecken-Bergläufe. Nicht nur was Profil, Untergrund und Landschaftserlebnis anbelangt. Alle an der Organisation und Durchführung Beteiligten sind mit Herzblut und Effizienz dabei. Die Strecke ist bestens ausgeflaggt und an allen entscheidenden Stellen von Profis von Alpine Rettung Schweiz überwacht, die Verpflegung kommt den Bedürfnissen der Läuferschaft entgegen und ich habe erlebt, dass auch die Extrameile für das Wohlergehen der Teilnehmenden gegangen wird. Vorgesehen ist nämlich, dass bei einem Ausscheiden an der Maighelshütte der Talweg zum Oberalppass genommen und von dort die Rückreise nach Sedrun mit dem Zug (Fahrschein ist in diesem Fall die Startnummer) angetreten wird. Die Helfer bieten aber an, mich im Auto mitzunehmen.

Auf edlen Polstern werde ich zum Ausgangspunkt zurückgefahren und kann dort in der neuen, stilvoll minimalistisch designten Mehrzweckhalle eine angenehm heiße Dusche nehmen und mich anschließend in der Festwirtschaft bei einem Teller Maluns mit Apfelmus (Geriebene Kartoffeln mit Mehl in Butter geröstet) für die Heimfahrt stärken. Stärken muss ich in den kommenden Monaten nun noch ein paar spezifische Muskelpartien, damit einem Finish bei meiner nächsten Teilnahme nichts entgegensteht.

Ich hoffe, dass dieser kleine aber umso feinere Laufanlass die Aufmerksamkeit und den Zuspruch erhält, den er verdient und sich einen festen Platz im Laufkalender vieler begeisterter Trailläufer erobern kann. Ich bin nicht sicher, ob ich jemals noch bei einem Ultra in den Bergen mittun kann, ich weiß aber, dass ich beim Rheinquelle Trail das unvergleichliche Trail-Erlebnis geboten bekomme, das ich von solchen Ultras kenne und welches ich in letzter Zeit vermisst habe. Einen ersten Schritt zurück zur Quelle habe ich heute geschafft.

 

Informationen: Rheinquelle Trail
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