Dass eine Region einen Kultlauf hat, ist normal. Dass eine Region gleich drei Kultläufe im Marathon- oder Fast-Schon-Marathon-Format hat, ist überraschend – vor allem dann, wenn es sich um eines der kleinsten Mittelgebirge Deutschlands handelt: das Siebengebirge.
Natürlich ist das Siebengebirge mit zwei Bergen, dem Drachenfels und dem Petersberg, fast schon weltbekannt, aber auch wenn es mehr als sieben Gipfel zu bieten hat, so bleibt es doch ein kleines Gebirge. Petersberg und Drachenfels ragen recht steil direkt über dem Rheintal auf: Die beiden höchsten Gipfel sind eher im Hintergrund der Ölberg mit 460 Metern und die Löwenburg mit ihrer Burgruine und 455 Metern Höhe. Die genannten und einige weitere Gipfel formen aber ein so abwechslungsreiches Gebirge mit teilweise überraschend steilen Hängen und tiefeingeschnittenen Tälern, dass es hier Platz für gleich drei kultige läufe gibt.
Der älteste und bekannteste dieser Läufe ist natürlich der „Siebengebirgsmarathon“, sozusagen auf der flacheren „Rückseite“ des Gebirges, der 2015 zum 16. Mal stattfindet und dessen Alleinstellungsmerkmal sein Austragungszeitpunkt am dritten Adventssamstag ist, also dann, wenn sonst kaum ein anderer Marathon in Deutschland stattfindet. Der „Drachenlauf“ findet nach einem Ausfall 2010 im kommenden Oktober zum 13. Mal statt, ist mit 26 Kilometern deutlich kürzer, dafür aber mit knapp 1000 Höhenmetern deutlich steiler als der Siebengebirgsmarathon. 2014 habe ich ihn hier in „Trailrunning“ als härtesten Siebengebirgslauf vorgestellt: Das galt aber nur, weil der dritte Lauf, der inzwischen ähnlichen Kultstatus gewinnt, 2014 ausgefallen ist: Der „Rheinsteig-Extremlauf“. Ein „Extremlauf“? In der Tat: In Westdeutschland dürfte er der härteste Landschaftslauf sein. Die Kurzbeschreibung des Veranstalters charakterisiert den Lauf sehr zutreffend:
„Sehr schöne, sehr anspruchsvolle Laufstrecke aus dem Rheintal bei Bonn, über die Höhen des Siebengebirges und hinunter auf die (Rhein-) Insel Grafenwerth in Bad Honnef. Über 35 Kilometer Strecke sind 1.200 Höhenmeter (hinauf und hinunter) zu bewältigen. Der Streckenverlauf ist ... bis Bad Honnef mit dem Rheinsteig identisch. ... Die Strecke führt durch den Naturpark Siebengebirge, überwiegend über Naturpfade und –wege, zu einem geringen Teil über Asphalt. Einige Passagen können schlammig oder uneben sein.“
Die Beschreibung übertreibt nicht: Kaum hat man die rechtsrheinische Rheinaue verlassen, fängt der Weg an zu steigen – u.a. per Treppe mit genau 100 Stufen und mit einem gleich anschließenden steilen Abstieg auf fast die ursprüngliche Höhe. Und so geht es beständig weiter. „Auf und nieder, immer wieder. Extrem durchs Siebengebirge“ titelte Kollege Wolfgang Bernath nach der Premiere des Rheinsteig-Extremlauf 2007. Erst nach gut der Hälfte der Strecke, nach gut 20 Kilometern, wird das Relief etwas „ruhiger“: Dafür stehen dann die langen Anstiege an der Löwenburg mit 300 und am Himmerich mit 170 Höhenmetern an. Nur am Anfang und Ende, in Bonn und Bad Honnef, gibt es Asphaltabschnitte von jeweils gut zwei Kilometern Länge, außerdem ein paar kurze Abschnitte unterwegs. Dafür verläuft rund ein Drittel der Gesamtstrecke über Trails, die zum Teil fast schon abenteuerliche Auf- und Abstiege aufweisen und bei Regen oder Nässe abschnittsweise auch etwas gefährlich sein können. Doch auch die befestigten Forstwege können teilweise recht „extrem“ sein, wie beispielsweise der lange Abstieg von der Löwenburg ins Schmelztal: 230 Höhenmeter ohne jede Verflachung stellen nach gut 25 Kilometern eine ordentliche Herausforderung dar.
Der Rheinsteig-Extremlauf wurde 2007 ins Leben gerufen, konnte aber 2014 vom bisherigen Organisationsteam nicht mehr gestemmt werden. Zum Glück war er inzwischen so bekannt, dass sich drei Laufsportler zu einem neuen Organisationsteam fanden und 2015 den Lauf wieder veranstalten. Und das trotz der Herausforderung, eine solch lange Strecke zu betreuen und dazu genügend ehrenamtliche Helfer vor Ort zu finden, die mit Verpflegungsstationen und als Streckenposten den Lauf erst ermöglichen! Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Der Lauf ist ganz hervorragend organisiert, die Ausschilderungen hervorragend und die Helfer hochmotiviert, auch gegenüber den Läufern. Und so lautet der häufigste Kommentar am Ende: „Hoffentlich bis zum nächsten Jahr“. Ein besseres Lob kann es kaum geben.
Die Veranstalter hatten, wohl auch wegen der einjährigen Unterbrechung, mit 200 Teilnehmern gerechnet: Tatsächlich haben sich aber fast 300 Läufer vorangemeldet. Und es gibt offensichtlich noch etliche Nachmeldungen. Gleichwohl gibt es am frühen Sonntagmorgen in der Sporthalle des Kardinal-Frings-Gymnasiums keine Hektik, die Startnummernausgabe klappt hervorragend und so finden sich um acht Uhr alle Teilnehmer auf dem Sportplatz hinter der Sporthalle zusammen. Ich bin überrascht von der Weitläufigkeit des Geländes und der schönen Tartan-Laufbahn: Hunderte Male bin ich am Rhein an diesem Sportgelände vorbeigelaufen, habe aber nie einen Blick in das Innere geworfen.
Kaum ein Läufer läuft warm. Offensichtlich wollen alle Läufer die zwei Kilometer, die es anfangs flach am Rhein und durch den Rheinauepark geht, dazu nutzen. Es gibt eine kurze Rede eines der Organisatoren der ersten sieben Läufer. Chris Harraß wird anschließend selbst mitlaufen. Dann folgt Oliver Witzke, ein aktuelles Orga-Mitglied. Zu Strecke und Wetter muss er heute nicht viel sagen: Die Temperaturen sind angenehm und Regen soll es frühestens am Nachmittag nach dem Lauf geben. Außerdem hat es seit Wochen nicht mehr nennenswert geregnet, abschüssige Wege durch Schlamm wird es heute nicht geben.
Aber Achtung, so Oliver, ein Sicherheitsproblem gibt es gleich am Anfang: Nach zwei Kilometern gilt es eine Straßenbahn zu queren. Den langsameren Läufern kann es passieren, dass sie vor geschlossener Schranke stehen. Oliver bittet eindringlich darum, dann die 40-Sekunden-Sperre auch wirklich zu beachten: „Wer trotzdem durchläuft, wird disqualifiziert, von der Polizei ein paar Kilometer weiter aus dem Rennen genommen und braucht bei uns nicht mehr zu starten.“
Das enge Zeitfenster führt wenige Minuten später zwar nicht zu Problemen am Straßenbahnübergang, aber beim Start zu einer kleinen Panne – nichts Schlimmes, denn wenn man sich die Bilder des Starts anschaut, sieht man eigentlich alle betroffenen Teilnehmer darüber lachen. Der Start erfolgt nämlich nicht auf dem schönen Sportplatz. Alle gut 300 Teilnehmer gehen stattdessen quer über den Platz zu einem Tor, weil der Start kurz dahinter auf dem Rheinufer-Radweg erfolgen soll. Dafür müssen aber alle durch ein Tor, und es gibt einen Stau, während die Spitzenläufer schon an der einfachen Startlinie stehen. Wohl wegen der Straßenbahn startet Oliver pünktlich, obwohl viele Läufer noch in einer Schlange in der Gegenrichtung stehen.
Danach geht es eher entspannt am Rheinufer Richtung Süden. Jenseits des Rheins zeigen sich Langer Eugen, früher ein Abgeordnetenhochhaus und jetzt UN-Gebäude, der Posttower und das neue Hotel, das zum WCCB, zum „World Congress Center Bonn“, gehört, das am folgenden Wochenende endgültig eröffnet werden soll: Bonn ist nicht nur zweiter Regierungssitz, sondern hat sich inzwischen zu einem renommierten UN-Standort gemausert.