Gerne würde ich den kleinen Abstecher zum nahen Müngsterer Diedrichstempel machen. Aber der Cut-off drückt und ich fühle mich nicht mehr so fit. Eigentlich gibt es zwei solcher Pavillons; beide wurden von dem wohlhabenden August Diederichs Ende des 19. Jahrhunderts sowie Anfang des 20. Jahrhunderts gestiftet. Diederichs suchte sich den Platz für die Bauwerke selbst aus und verfügte, dass die Pavillons zu allen Tages- und Jahreszeiten für die Öffentlichkeit zugänglich sein sollten. Der eine, achteckige Pavillon im neuromanischen Stil, befindet sich bei Schloss Burg ein paar Kilometer weiter. Der Müngstener Pavillon ist hingegen in neugotischem Stil gebaut und hat eine siebeneckige Grundform. Die Aussicht von dort auf die Müngsterer Brücke soll grandios sein.
Aber auch von unserem Weg aus ist die Müngsterer Brücke, als höchste Eisenbahnbrücke Deutschlands, beeindruckend. Die Brücke überspannt zwischen den Städten Remscheid und Solingen in 107 m Höhe das Tal der Wupper in unmittelbarer Nähe des Haltepunktes Solingen-Schaberg. Zwischen den kahlen Bäumen ist sie gut auszumachen. Wir laufen direkt darunter hindurch. Die Sanierung der Brücke soll bis 2015/16 abgeschlossen sein. Im Moment ist sie gesperrt, da während der Bauarbeiten Probleme mit den Kopfplatten entdeckt wurden.
Nach diesem optischen Highlight und dem Fehlen der vielen Halbmarathonis wird es ruhig auf der Strecke. Es geht wellig auf und ab. Immer wieder werden kleine Taleinschnitte mitgenommen. Manche Steigungen spürt man nur, weil die Beine schwerer werden. So wechsele ich ständig zwischen Laufen und Gehen. Auch die anderen haben ihren Rhythmus und so überholt man immer dieselben. Alle 5 km steht ein Kilometerhinweis.
Bei km 34 ist die nächste VP. Es gibt Müsliriegel. Die Helferin erklärt gerade etwas über die Herkunft. Leider bekomme ich nur mit, dass sie selbst gebacken sind. Auf jeden Fall schmecken sie sehr lecker. Nun fängt es wieder an zu regnen. Die Helfer bieten uns an, uns kurz unterzustellen. Aber ich verzichte. Wer weiß, wie lange das regnet. Die Strecke verläuft weiter im Wald. Ein steiler Trail bergab hinter km 36 fordert volle Konzentration. Mittlerweile überlege ich, bei km 42 auszusteigen, wenn ich den Cut-off nicht schaffe. Meine Beine sind müde und ich bin nass. Lohnt es sich wirklich, weiter zu laufen? Außerdem tun mir die Beine weh. Auch Manuela, Mitstreiterin seit vielen Kilometern, macht sich ähnliche Gedanken.
Die nächste VP kommt und es hat wieder aufgehört zu regnen. Es gibt erneut Müsliriegel und ich genehmige mir eine Cola. Der Weg führt am bewaldeten Eschbachtal entlang. Wir überqueren den Bach und müssen wieder bergauf. Laut meiner Uhr kann ich das Limit nicht mehr schaffen. Plötzlich taucht, früher als erwartet, das km 40 Schild auf. Trotz der Steigung nehme ich nochmal alle Kraft zusammen. Nur noch 1 km - das muss klappen. Ich höre schon den Sprecher und erreiche gleich das Freibad Eschbachtal in Großberghausen. Hier ist der Zielbogen des "Schein-Bergisch-Land-Marathon" (nach dem neuen Sponsor benannt) aufgebaut. Wieder richtig einordnen, der Moderator sagt mich an und muss lachen, weil ich schnell noch Fotos mache. 13 Uhr 55 - 5 Minuten vor cut-off! Er beglückwünscht mich und wünscht mir noch viel Spaß auf den letzten Kilometern.
Erst an der VP merke ich, dass ich mich automatisch bei den Ultras eingeordnet hatte. Kein Gedanke mehr an aufhören. Meine Kleidung ist fast trocken und habe Lust weiter zu machen - nur noch ein Halbmarathon.
Es gibt Weißbrotscheiben. Mhm, die schmecken deutlich nach Salz. Genau das brauche ich jetzt. Manuela ist auch bei den Ultras geblieben. Britta kommt angelaufen. Sie freut sich, nicht die einzige zu sein, die jetzt noch unterwegs ist. Weiter geht es. Wir werden über den Freibadparkplatz geleitet. Hier stehen die Shuttlebusse für die Marathonläufer. Ich beneide sie nicht. Für uns geht es gleich wieder auf den Trail.
Ein Tunnel bringt uns unter der A1 hindurch. Über Treppen gelangen wir hinauf zur Staumauer der Eschenbachtalsperre. Der mühsame Aufstieg wird mit einem wunderbaren Blick über den Stausee belohnt. Die Herbstfärbung tut ihr übriges. Hier könnte ich bleiben und genießen. Und was soll ich sagen: Genau in diesem Moment kommt die Sonne heraus! Ein perfekter Augenblick.
Nach km 45 lassen wir den See hinter uns. Es geht bergauf. Mal mehr, mal weniger steil, aber immer bergauf. Auf dem letzten Abschnitt verlassen wir den Wald. Am Sportgelände von Bergisch Born geht es unter der alten Bahntrasse hindurch. Im Tunnel liegt, regengeschützt, der nächste VP. Durch das sonntäglich verwaiste Industriegebiet geht es auf die Landstraße nach Bornbach. Über der Ortschaft thront majestätisch ein sich emsig drehendes Windrad. Die Sonne zwischen den fliegenden Wolken lässt mich hoffen, den Lauf trocken beenden zu können.
Der kleine Ort ist schnell durchquert. Gerade will ich auf den Feldweg einbiegen, da schrecke ich zurück: Überall Matsch! Ich hangle mich am Zaun entlang. Die Kühe ignorierend, laufe ich vorsichtig weiter. Hier ist der Weg immer noch ziemlich aufgeweicht. Der nächste Sumpf wartet bereits. Mist, bis jetzt hatte ich noch fast saubere Schuhe. Dann geht es quer über die Wiese hoch. Die Spur der Läufer vor mir ist eindeutig zu erkennen. Ein schmaler aber sauberer Trail nimmt uns auf. Kurz darauf geht es auf eine schmale Asphaltstraße Richtung "Sonnenschein" (der Weiler bei km 50 heißt wirklich so). Um die Straße zu vermeiden, schlagen wir einen Haken, berühren kurz Wiehagen und gelangen in einem spitzem Winkel wieder zurück. Ich laufe auf Renate auf. Als erfahrene Ultraläuferin ist sie in gleichmäßigem Tempo unterwegs. Da ich bergab immer ziemlich schnell bin, überhole ich. Bergauf revanchiert sie sich.
Die nächsten Kilometer kommen wir auf einer kleinen Straße am Dörpebach entlang. Es geht wellig aber gut voran. Bei km 53 hinter einem Bauernhof liegt die nächste VP. Hier gibt es dunkles "Dorfbier" aus der Bügelflasche, stilvoll aus Altbiergläsern. Begeistert greife ich zu. Keinen Steinwurf weit entfernt dreht sich das Windrad, das vorhin noch so weit weg war. Frisch gestärkt geht es auf einem Feldweg hüglig weiter. Im lichten Wald kommt die nächste "Hammersteigung" und gleich auch Renate von hinten. Eine neu gepflanzte Buchenallee führt uns zum Gasthof Eierkaal. Hier helfen Freiwillige beim Überqueren der Straße. Im Wald laufen wir bergab und ich wieder an Renate vorbei.
Unten verlassen wir den Wald und kommen auf eine übersichtliche Landstraße. Von weitem kann ich Manuela kämpfen sehen. Als ich vorbei laufe, klagt sie über Magenschmerzen. Oh je, das werden lange restliche 8 km für sie. Wir erreichen die nächste VP. Ein Helfer kommt heran und bietet mir Wasser und Brühe an. Brühe - lecker. Dann erkenne ich, dass ich im Paradies gelandet bin. Es gibt richtiges Essen! Außerdem ist die Truppe echt gut drauf. Ich werde als Schwäbin enttarnt und erfahre, dass einer von ihnen in der Nähe meines Heimatortes gearbeitet hat. Gerne würde ich noch bleiben und mir den Bauch voll schlagen. Aber ich muss weiter. Es geht bergauf. Oben angekommen, sieht man die Feldbachvorsperre, der erste Abschnitt der Wuppertalsperre. Ich weiß nun, dass es nicht mehr weit ist.
Ich liebe das Laufen an Gewässern. Es wird einfach nie langweilig. Und auch hier bietet jede Wegbiegung einen anderen Anblick. Die Wuppertalsperre bildet keine runde Wasserfläche, sondern eher einen breiten Fluss mit engen Windungen, an dessen Ufer wir etwas erhöht entlang laufen. Bei km 59 geht es nochmal steil bergauf und dann auf einer Brücke über die B229. Kurze Zeit später wird die letzte VP bei km 60 erreicht. Ein Helfer zählt die angebotenen Getränke auf: Wasser, Tee, Gatorade und Bier. Ich nehme Bier. Er gibt die Bestellung lautstark weiter. Ein vielstimmiges Echo kommt zurück und in Windeseile wird das Bier eingeschenkt. Als ich Bilder mache ruft einer: "Ah, ein Genußläufer". Und genau so fühle ich mich gerade.
Erst auf dem Radweg, dann auf der Straße laufen wir an der Wuppertalsperre entlang. Einzelne Autos kommen entgegen und feuern mit einem Hupkonzert die wenigen Läufer an. Hier ist auch ein Teil der Strecke des 5 bzw. 10 km Laufs. Pfeile schicken uns links auf einen kleinen Radweg. Es geht nochmal steil bergauf. Renate kommt ein letztes Mal von hinten. Obwohl es oben wieder flacher wird, kann ich sie nicht mehr einholen. Auf der Anhöhe lässt eine Familie Drachen steigen. Der Wind bläst erneut steif von vorne. Die Sportanlagen sind aber schon in Sicht. Zwei Kurven später empfängt mich Norbert im Ziel.
Uns hat es sehr gut gefallen. Die Strecke ist kurzweilig und gut zu laufen. Echte Traileinlagen sorgen für den besonderen Reiz. Straßenüberquerungen sind immer durch Helfer abgesichert. Die Streckenmarkierung ist immer eindeutig und gut sichtbar (auch wenn sich Norbert doch mal kurz verlaufen hat: Er hielt es einfach für unmöglich, dass der Weg durch den Matsch führt). Die Verpflegung ist mit Müsliriegel und Banane ausreichend, bei der VP der IGR Remscheid bei km 53 gab sogar Kuchen, Wurst und noch viel mehr. Im Ziel wurde übrigens auch den Letzten noch Erdinger Alkoholfrei ausgeschenkt und eine sehr, sehr gute Vollkornschnecke angeboten.
Die Organisation ist perfekt, das Heer der Helfer super freundlich und hilfsbereit. Erstaunt haben mich die vielen Zuschauer, besonders bis zum Marathonfinish. Es macht Spaß, vor solcher Kulisse zu laufen.
Der Röntgenlauf ist ein wunderbarer Landschaftslauf. Die Nähe zum 100 000 Einwohner zählenden traditionsreichen Industriestandort Remscheid am Rande des Ruhrgebiets ist nie zu spüren. Hierzu passt die erste Strophe des Bergischen Heimatlieds, der Hymne des Bergischen Landes:
Wo die Wälder noch rauschen, die Nachtigall singt,
die Berge hoch ragen, der Amboss erklingt.
Wo die Quelle noch rinnet aus moosigem Stein,
die Bächlein noch murmeln im blumigen Hain.
Wo im Schatten der Eiche die Wiege mir stand,
da ist meine Heimat, mein Bergisches Land.
Bernds Bilder und Laufbericht vom Marathon
findet ihr hier auf Marathon4you.de