Die Rescue-Gruppe braust auf ihren Geländemaschinen vorbei. Wir laufen an der Ehrwalder Alm (1.502 m) vorbei. Ein Schild zeigt uns noch 500 Meter bis zur Verköstigung an, aber diese 500 Meter „ziehen“ sich. Etwa gegen 8:45 Uhr erreichen wir VP 1 am Seebensee, den schönsten See in diesem Gebiet. Wir sind etwa 1:20 Std. vor der Zeit. Dies ist auch wichtig, beginnt doch mit der Durchquerung des Mieminger Gebirges der erste Höhepunkt bei der Überschreitung der 2.272 m hohen Grünsteinscharte.
Stück für Stück schrauben wir uns weiter nach oben in Richtung Coburger Hütte. Ein Fotograf bringt uns doch immer wieder zum Lächeln. Stefan Schlett, der Genießer, überholt uns, gemeinsam bewundern wir nur kurz die Aussicht. Wir kommen an die Coburger Hütte und begeben uns dort weiter Richtung „Hoher-Gang“ der nur für geübte begangen werden sollte. Die Spannung steigt und wir auch weiter und weiter. Der Ausblick wird immer grandioser.
Noch 30 km to go. Wir erklimmen entlang einem langen Schotterhang einen Grad. Vor uns kleben ein paar Läuferpunkte, klein und greifbar. Da kommen auch Christina und Claudia, auch sie laufen wie wir immer dicht zusammen. Auch die Bergschafe bewältigen die oft langen und schwierigen Wegstrecken in die Höhe gemeinsam.
Es geht nun in losem Geröll lang und steil bergab. Sicherlich im Winter eine schwarze Piste. Aber nicht nur ich brauche lange an diesem Hang. Ebenso wie Kletterer gibt es Ablaufspezialisten. Ich liebe auch das Abwärtslaufen, es ist genauso wie Skifahren. Man muss immer beweglich bleiben, nie die Beine anspannen, die müssen wie Stoßdämpfer funktionieren. Funktioniert bei mir hier leider nur in der Theorie. Schmerzen in den Füssen.
Ein altes Holzschild zeigt den Weg zum Lehnberghaus. Das ist auch unsere Richtung. Noch 26,5 Kilometer. Nach der Unterführung einer Bundesstrasse erreichen wir um 11:35 Uhr auch den nächsten Verpflegungspunkt (V2). Bis 12:30 Uhr lautet hier die Zeitvorgabe. Schnell Wasser in die Getränkeblase, etwas Salz, etwas Magnesium, etwas Käse, etwas Melone, etwas Kuchen und schnell den beiden Mädels C + C hinterher. Noch mit vollem Mund laufen wir, natürlich wieder aufwärts, ein Stück am Jacobsweg entlang.
Jetzt beginnt der Qualen erster Teil. Es ist wieder schwülwarm, immer die Angst im Nacken, es könnte noch das vorhergesagte Gewitter kommen.
Nach einem neuerlichem Aufstieg von Finsterfiecht (1.040 m) gibt es ein Wiedersehen mit einem Läufer, nach über 2 Stunden. Dann können die anderen auch nicht mehr weit sein. Wir überholen einen weiteren Läufer. Er hat seine Kraft und seinen Willen verloren. Im Aufstieg wandelt sich wieder die Vegetation. Wir sehen das Gipfelkreuz, dort müssen wir hoch. Die Getränkeblase gibt schon lange kein Wasser mehr. Der Aufstieg bis hierher war zu lang und zu beschwerlich in dieser Hitze. Wir laufen über traumhafte Panoramatrails hoch über dem Inntal bis kurz unter den Tschirgant (2.370 m).
Kurz vor dem höchsten Punkt der hochalpinen Überquerung erreichen wir die engste und auch gefährlichste Stelle des Tages. Hier sind vor ein paar Jahren einige Schafe bei eisigen Verhältnissen abgestürzt. Sie sind dort unten mit dem Buckel gegen die Steinplatten gedonnert. „Wir mussten sie noch an Ort und Stelle abstechen“, bekommen wir vom Bergführer erzählt.
Jetzt gilt es, Ruhe zu bewahren: Wir müssen möglichst hintereinander die Schlüsselstelle überwinden, wer drängelt, führt sich selbst zur Schlachtbank. Nur gut, dass das Wetter hält. Diese Etappe ist eine Herausforderung, auch für Bergsteiger und erst recht für uns „Flachland-Hessen“. Aber mit unvergesslichen Eindrücken. Nicht sonderlich elegant mit diesen steifen Knochen hangeln wir langsam abwärts. Ein Ringen um Gleichgewicht, bei dem sich neue Horizonte auftun. Es macht richtig Spaß.
So wie wir uns hochgeschraubt haben, so schrauben wir uns jetzt wieder nach unten. Wenn nur der Durst nicht so stark wäre. So langsam bekomme ich eine mentale Schwäche. Ich bin müde, mein Körper ist müde. Ich bin echt fertig. Mich überkommt eine ungeheure Kaffeelust. Ich möchte gerne schneller laufen, es geht nicht. Auf den letzten ca. 20 KM der Laufstrecke beim IRONMAN in Frankfurt, reichte mir meine Tochter, Natascha, ein kleines Trinkfläschen gefüllt mit kaltem und Zucker gesüßtem Espresso. Darauf hatte ich mich das ganze Rennen über gefreut. Was würde ich jetzt dafür geben, geht es mir durch den Kopf. Zum Glück gibt es Cola.
Ein paar Wanderer blicken hoch, winken, rufen uns etwas kaum Verständliches zu. Die Sonne knallt auf den Hang, ich habe die letzten Kilometer hart gearbeitet, ich bin verschwitzt, ich möchte rennen, aber es geht nicht mehr. Je langsamer ich werde, desto größer wird der Rückstand sein. Der Mann mit dem Hammer müsste mir aus humanitären Gründen einen Schlag versetzten.
Schafe sind recht genügsame Tiere. Sie zählen zu den Wiederkäuern. Das bedeutet, dass Schafe die Nahrung einige Stunden nach dem Fressen wieder hoch würgen und nochmals gründlich kauen. Erst nach diesem „2. Durchgang“ gelangt der Speisebrei weiter in den Darm. Im Gegensatz zu uns finden sie auf den Wiesen, Weiden und Heiden genügend Futter. Ich habe Durst und ich habe Hunger. „Himmel, wann kommt endlich dieser verfluchte Verpflegungspunkt?“
Auf den Weg zum letzten VP 3 geht es abwärts bis zur Karröster Alpe (1.467 m) die wir um 16:35 Uhr mit einem Hungerast erreichen. Von V2 bis V3 haben wir genau 5 Stunden, in Worten FÜNF, gebraucht. Wie weit ist es noch bis ins Ziel? Aufgeben? Im wahrsten Sinne des Wortes eine Grenzerfahrung. Wer schneller ankommt, kann sich länger erholen - wir leider nicht.
Andrea überholt uns an der Verpflegungsstelle. Nach rund 34 Kilometer klettern endlich wieder auf ebenen Boden. Ich laufe wie im Rausch. Genau das ist meine Medizin, genau dieses Gefühl. Noch 3 Kilometer bis ins Ziel. Wir schließen zu anderen Läufern vor uns auf. Da ist auch Andrea. Ich rufe ihr zu: „Los, wir schaffen das noch, wir haben noch 15 Minuten und es geht bergab“!
Wir laufen und laufen bis zum tiefsten Punkt der Salomon 4Trails in Imst (780 m). Nein, alles bloß nicht das! Selbst 100 m vor dem Ziel noch ein heftiger letzter Aufstieg. Keine Energie mehr. Die Uhr am Arm geht ihren eigenen Weg. Wir hören den Kommentator, wir sehen das Ziel-Tor. Nach 10:44:42 Std. also genau 18 Sekunden vor dem offiziellen Zielschluss haben wir auch diese Etappe geschafft!
Der Moderator fragt uns, ob wir schon jemals so lange Zeit für einen Marathon gebraucht hätten. Was für eine Frage! Ich bin glücklich – spüre einen Lachkrampf in Lungen und Waden, Kay geht es ebenfalls so.
Von einem Jodeldiplom hat man ja schon gehört, aber hier in Imst wird ein drei- bis viertägiger Alm-Crashkurs (mit Abschluss-Diplom!) das sogenannte Viehhütter-Seminar, angeboten. Dort können ahnungslose Großstadt-Aussteiger, gelangweilte Pensionisten oder arbeitslose Skilehrer das Melken und alles was zur Viehhütung gehört lernen. Mit diesem Diplom in der Tasche hat man die Chance, einen Alm-Job zu bekommen. Ob auch das Team von Plan B so ein Diplom hat?
Wie auch immer, auch ohne Viehhütter-Diplom haben sie ihre Herde im Griff und machen einen guten Job. Die Taschen sind in unserem Quartier, bloß wir noch nicht. Für uns fällt heute leider die allabendliche Party aus und die Tagessieger werden auch ohne uns bejubelt. Wir schaffen es nur noch bis ins Hotelrestaurant. Es war eine harte, aber hervorragend schöne Etappe. In der Nacht setzt Regen ein.