Nach Rücksprache mit der Bergwacht wird wegen der Gefahr von Neuschnee die Route über das Mieminger Gebirge durch die Alternativstrecke beim Marienbergjoch ersetzt.
Schnell verlassen wir den Ort. Bald folgt der erste kräftige Aufstieg, mal entlang einer Skipiste, mal auf schönen Trails durch den Wald. Entgegen der schlechten Prognose des Wetterdienstes regnet es heute nur 5 Minuten lang, doch es bleibt weiterhin sehr trüb.
Die Verpflegungsstelle steht schon kurz vor dem Marienbergjoch, da die Helfer es nicht schaffen, mit dem Auto das letzte steile Stück hinauf zu fahren. Auf der anderen Seite des Jochs sausen wir später wieder auf einigen schönen Genusslauf-Trails bergab.
Auf 1040 m Höhe stoßen wir bei Finsterfiecht an der zweiten Verpflegungsstelle auf die Originalroute, der wir nun bis zum Ziel folgen können. Wieder geht es auf schönen Trails bergauf. Bisher ist die heutige Etappe technisch recht einfach.
Der nächste Aufstieg ist anstrengend und der Weg zur nächsten VP ist weit. Daher setze ich mich zwischendurch auf eine Bank und esse zum einzigen Mal an diesen vier Tagen etwas von meinem Proviant aus dem Rucksack. Lieber ein paar Minuten bei einer Pause „verlieren“ als danach zwei Stunden lang hungrig über die Berge schleichen.
Wieder einmal überholen mich einige Läufer aus dem Team Israel. Sie fielen mir schon gestern positiv auf, da sie eine außerordentlich fröhliche Stimmung im Läuferfeld verbreiten. Ab und zu singen sie unterwegs sogar, aber auch ihre nette Kommunikation mit den anderen Teilnehmern hebt sie aus der Masse heraus.
Plötzlich komme ich nicht mehr weiter. Es geht nicht mehr! Es ist nicht die Kraft, die mir fehlt, sondern der Platz. Hier ist der Trail sehr schmal, auf beiden Seiten der Hang äußerst steil. Unmöglich, auch nur einen halben Meter nach rechts oder links auszuweichen. Doch vor mir blockieren einige Kühe den Pfad und wollen bzw. können nicht ausweichen. Was tun? Wenn der Spruch „Der Klügere gibt nach“ stimmt, dann sind die Kühe schlauer als ich, denn als ich mich buchstäblich an ihnen vorbei zwängen will, kehren sie um und marschieren vor mir bergauf. Erst als wir ein Weidegatter erreichen, bleiben sie stehen. Hier kann ich vorbei, steige über eine Leiter, während die Viecher umkehren, um gleich darauf den nächsten Läufern an selber Stelle erneut den Weg zu blockieren. Ich könnte mich
wegwerfen vor Lachen!
Die Sicht auf die in der Ferne liegenden Gebirgsketten wird nach wie vor von tiefen Wolken behindert, aber dennoch gefällt mir der Aufstieg hinauf zum auf 2203 m Höhe stehenden Haiminger Kreuz. Weit unter uns sehe ich den Inn durch das Tal fließen. Bis zum Ziel geht es nun mehr als 1400 Höhenmeter bergab. Zuerst kommt ein kurzer, recht anspruchsvoller Abstieg. Hier wurde extra für uns von der Bergwacht ein langes Fixseil gespannt, an dem wir uns vor den wachsamen Augen vieler Helfer auf sehr steilem und rutschigem Untergrund hinab hangeln. Klasse!
Danach folgt ein langer, manchmal recht steiler Trail bergab. Hier fühle ich mich wieder so richtig in meinem Element und sause mit glücklichem Grinsen im Gesicht bergab, wogegen manche andere Teilnehmer, die ich hier überhole, nicht über jede Stelle glücklich sind. Für Freunde anspruchsvoller Trails ist dies ein Paradies, unsichere Läufer gehen einige Abschnitte ganz vorsichtig.
Nach der letzten Verpflegungsstelle an der Karröster Alpe (1467 m) bleibt der Abstieg dann recht einfach. Im kleinen Dorf Karrösten bremst mich eine leicht ansteigende Straße. Dann geht es wieder bergab. Am Ende werden die letzten 500 m durch einen kurzen, steilen Aufstieg verschärft. Egal, mit einer Stunde Abstand zum Zeitlimit komme ich glücklich und zufrieden ans Ziel.
Imst liegt im oberen Inntal. Schon 763 wurde der Ort erstmals erwähnt. Im alten Zentrum stehen einige gotische und barocke Bürgerhäuser sowie 35 Trinkbrunnen. Ich habe aber heute keine Zeit für Sightseeing und marschiere nach einem kurzen Aufenthalt im Hotel wieder hinab zur Pastaparty, wo wir vor der Siegerehrung mit alpenländischer Folklore unterhalten werden.
An diesem Morgen müssen alle Teilnehmer ihre Reisetaschen selbst in die Shuttlebusse tragen, mit denen sie vom Hotel zum Start fahren. Ich habe Glück, denn das Hotel Stern transportiert die Taschen für seine Gäste.
Für heute ist das Höhenprofil überschaubar: Grob betrachtet steigen wir morgens nur bergauf und laufen mittags 13 km weit nur bergab. Manch einer von uns verlässt sich auf diese simple Einteilung und erlebt dann am Mittag eine Überraschung, denn der Teufel liegt in den vielen kleinen, auf der groben Skizze nicht erkennbaren Zwischen-Ab- und Aufstiegen im Gipfelbereich.
Inzwischen sind nur noch 361 Teilnehmer im Wettbewerb, es gibt also schon nach den ersten beiden Etappen einige Ausfälle. Vor dem Start regnet es wieder recht stark. Kaum jemand folgt der Aufforderung, rechtzeitig die Startblocks zu betreten, damit es bei der Kontrolle der Pflichtausrüstung keinen Stau gibt. Jeder will so lange wie möglich im Trockenen stehen. Dann geschieht ein kleines Wunder. Zwei Minuten vor dem Start lässt der Regen kurz nach und exakt vor uns sehen wir das Fragment eines Regenbogens am gegenüberliegenden Berghang. Obwohl der Wetterbericht für heute nur noch am Vormittag abklingende Regenschauer angekündigt hat, wird es ein ungemütlich nasser Tag werden.
Auf Straßen laufen wir hinab zu den Brücken über Imst und Inn. Dann überqueren wir einen Bahnübergang. Für den Fall, dass uns ein unpünktlicher Zug ausbremsen würde, liegt auf der anderen Seite eine zusätzliche Zeitmessmatte.
Nun geht es bei starkem Regen zuerst bergauf, dann wieder bergab. Plötzlich stehe ich im Stau. Ein sehr rutschiger Aufstieg auf einem kaum noch als Pfad erkennbaren Trail bremst einige unsichere Läufer aus, so dass die nachfolgenden warten müssen. Schöne Vegetation entschädigt mich für das langsame Vorwärtskommen. Die nächsten paar hundert Meter sind erneut eine richtige Schlamm-Gaudi, dann geht es wieder flotter voran. Noch ahnt niemand von uns, dass dies erst der Prolog für viele weitere Rutschpartien ist.
Nach mal mehr, mal weniger steilen Abschnitten folgt ein Wiesenhang, der manchen zum Fluchen bringt, mich aber eher freut. Ohne Stöcke wüsste ich aber trotzdem nicht, wie ich auf dem glitschigen Boden hinauf käme.
Der Laufsport ändert sich. Früher waren Stöcke nur etwas für Nordic Walker, inzwischen starten auf Trails sogar einige Spitzenläufer mit Stöcken. Im hinteren Starterfeld ist niemand mehr ohne unterwegs. Spötter bezeichnen Ultratrails daher auch schon mal als Wanderurlaub.
Noch ein kurzes Stück auf breitem Forstweg, dann erreiche ich die erste VP nahe des Alpengasthof Plattenrain.
Erneut kurz entspannt laufen, dann folgt die nächste Schlammschlacht, garniert mit ein paar Einheiten Wassertreten. Meine Begeisterung wird nicht von allen Teilnehmern geteilt.
Als wir ein kleines Kreuz erreichen, ist das natürlich nicht schon der höchste Gipfel der heutigen Etappe. Weiter geht es zuerst abwärts, dann wieder hinauf auf einem traumhaften Paradies-Trail durch dicht mit Flechten bewachsenen Bergwald. Super schön! Welch ein Glück, hier zu laufen!
An einer etwas steileren Trail-Stelle werde ich tatsächlich von einer Kuh überholt. So etwas klingt eigentlich nicht schön in einem Laufbericht. Doch mir geht es außerordentlich gut! Glücklich laufe ich bergauf und bergab. Ich fühle mich nicht wie bei der dritten Etappe eines mehrtägigen Wettkampfes sondern, wie in einem netten Trainingslager mit Freunden.
An sonnigen Tagen sieht man vom Venetmassiv aus in allen Richtungen viele Dreitausender. Heute bleiben sie dauerhaft hinter Wolken verborgen. Doch die Nebelfelder und Wolken um uns herum sorgen auch für tolle Stimmungen. Es muss nicht immer Postkartenwetter sein. Auch eine etwas unwirtliche Szenerie kann faszinieren.
Wieder erreichen wir ein Kreuz, doch auch diesmal ist noch nicht der höchste Gipfel. Absteigen, aufsteigen, wieder hinab, wieder hinauf….. Wegen der tiefen Wolken sieht man oft nur kurze Wegabschnitte und man weiß nicht, ob noch ein höherer Gipfel vor einem liegt. In Abwandlung eines alten Spruches gilt hier: „Immer wenn du glaubst es steigt nicht mehr, kommt aus der Ferne ein Kreuz daher“.
Weiter auf steinigen Trails, mal gut laufbar, mal mit Blockfeldern, die Konzentration erfordern, mal mit einigermaßen weiter Sicht, mal in dichtem Nebel – welch herrliches Bergabenteuer. Aber man sollte für solche Trails ausreichend Bergerfahrung und -training haben.
Die Streckenmarkierung führt uns auch bei dieser Witterung ohne jeden Zweifel sicher voran. An schwierigen Passagen stehen Helfer von der Bergwacht. Schließlich erreiche ich bei der 2512 m hohen Glanderspitz den Hauptgipfel des Venetmassivs.
Dann geht es meist bergab. 500 Höhenmeter tiefer erreiche ich die nächste Verpflegungsstelle. Während manche Läufer, denen ich unterwegs begegne, schon seit gestern über Erschöpfung, Magen- und Muskelprobleme klagen, fühle ich mich nach wie vor voller Energie. Mein gemäßigtes Tempo zu Beginn zahlt sich aus. Daher ignoriere ich jetzt meinen Vorsatz, bei den 4Trails nicht am Limit zu laufen und gebe bei den restlichen 1200 Höhenmetern Abstieg richtig Gas. Es macht einfach Spaß, so den Berg hinab zu brettern!
An einer Stelle weist eine Tafel darauf hin, dass auf dem Fels unter unseren Füßen die Spuren einer alten Römerstraße zu erkennen sind. Schnell ein Foto, dann weiter. Das Tempo macht mir jetzt so viel Spaß, dass ich keine Lust habe, mir Gedanken darüber zu machen, ob meine Muskeln morgen dafür büßen müssen.
Unterhalb der Burg Landeck warnt uns ein Streckenposten „Vorsicht Treppe!“. Als würden uns ein paar Treppenstufen nach all den Trails etwas ausmachen!
Glücklich erreichen wir das Ziel. Hier kann ich die Zielverpflegung loben. Pizzastücke und Mohnkuchen, dazu Holundersaft, wirklich lecker. Vier Stunden später erfüllt die fade Pasta beim Abendessen dagegen nur die Funktion, mich zu sättigen. Etwas Salz und Gewürze hätten die Mahlzeit leicht retten können.
Landeck, die westlichste Stadt Tirols, liegt an einer Biegung des Inntals. Auch heute habe ich keine Lust auf Stadtbesichtigung und ruhe mich lieber im Hotel aus.
Beim Briefing sagt Wolfi: „Ich weiß nicht, ob ihr mir überhaupt noch etwas glaubt, wenn ich vom Wetter erzähle.“ Nun kündigt er für die letzte Etappe endlich freundliches Wetter mit fünf Stunden Sonnenschein an. Hoffnung ist etwas Schönes, auch wenn man mal enttäuscht wird.