Kurz unterhalb des Gamidaurkamms prescht der Führende des Halbmarathons vorbei. Auch wenn ich könnte, müsste ich mich zurückhalten. Die Einteilung der Kräfte ist wichtiger Faktor für das Gelingen. Bei mir kommt dazu, dass ich ab dieser Höhe (2280m) die reduzierte Fähigkeit, genügend Sauerstoff in den Körper zu bekommen, besonders ausgeprägt spüre. Das ist leicht nachzuvollziehen. Mit EPO gedopten Betrügern fließt das Blut mit der Konsistenz von Tomatensaft in den Adern, womit der Sauerstofftransport auf Hochtouren läuft. Dass die Blutverdünnung den gegenteiligen Effekt haben muss, ist da leicht abzuleiten.
Der Posten der Alpinen Rettung wird da oben noch lange ausharren müssen – nicht nur bis ich hoffentlich auf dem Rückweg wieder aufkreuze. Für den X-Treme Trail besteht ein Zeitlimit von 22 Stunden.
Mit mäßiger Steigung geht es weiter. Was dem Kaiser Qin in Xi’an die Terrakotta-Armee, sind uns hier die Steinmännchen. Da ist es kein Beweis kriegerischer Stärke, diese wurden aus Freude an der Sache von den Bergwanderern errichtet. So wie ich laufe. Zudem liegen genug Steine herum und irgendjemand muss ja aufräumen.
Dann kommt der zweite See in Sicht, der Schwarzsee. Er liegt in einer weiten Senke, was einen Abstieg mit sich bringt. Unten am Ufer des Sees habe ich von einem Moment auf den anderen einen Einbruch. Ich vermute, dass ich Energie zuführen sollte und genehmige mir mein Energiegel Marke Eigenbau ohne Verklebungsgefahr. Das Rezept heißt nicht Findus, sondern in Beerensaft aufgequollene Chiasamen.
Jetzt laufen immer wieder Halbmarathonis von hinten heran, denen ich gerne Platz zum Überholen lasse, zumal es wieder bergauf auf den Schwarzchopf geht. Eine große Wandergruppe ist am Rasten, ein Luxus, den ich mir nicht leisten kann, denn es gibt ein Zeitlimit von 3 ½ Stunden bei der Wildseeluggen. Also nichts wie weiter, hinunter zum dritten, dem Schottensee. Dort realisiere ich, dass ich übersehen habe, dass es bis zum Cut Off nochmals eine knackige Steigung zu bewältigen gibt. Dazu kommt, dass der Weg stellenweise nicht wirklich einer ist, sondern eine Abfolge von Markierungen, damit man weiß, von welchem Felsbrocken man weiterhüpfen muss. Es dauert länger als erwartet, bis der Wildsee, der größte der fünf, ins Blickfeld kommt.
Bei der Zeitnahme Wildseeluggen winselt ein ringelschwanzwedelndes Wesen in mir. Die Versuchung ist groß zu sagen, ich gehe ab durch die Lücke nach links, sehe auch noch den fünften der Seen, genehmige mir noch vergleichsweise entspannte acht Downhillkilometer und Reihe mich im Halbmarathonklassement ein. Nein, ich will mich langfristig wieder bei den Ultras einreihen, was nicht anders als mit Training, Aufbau und Durchbeißen geht. Es bleibt mir noch Zeit, mich zu verpflegen, auch diesmal aus der eigenen Küche: Reis an gut gesalzenem Tomatensaft aus dem Beutel. Schmeckt lecker!
Mit 15 Minuten Zeitlimit mache ich mich auf den weiteren Weg, was nicht weniger als weitere Zweidrittel der Strecke bedeutet. Was da gerade kommt, lässt mich gleich nochmals zweifeln, ob ich das in der vorgegebenen Zeit hinkriege. Ich kämpfe mich durch eine Felswüste bis ich in der Sohle des Gletschereinschnitts bin. Vom Pizolgletscher selbst ist nichts zu sehen – viel ist davon auch nicht mehr übrig. Nach dem Durchqueren der Talsohle geht es zum höchsten Punkt der Strecke, dem Lavtinasattel. Auch hier ist ein Freiwilliger der Alpinen Rettung postiert und hat den Überblick auf beide Seiten der Krete. Diejenige hinunter nach Batöni ist steil. Zwischen den Wolkenfetzen sind die Wasserfälle weit unten im Talkessel zu sehen. Bis dorthin erhitzen die Oberschenkel auf infernalische Temperaturen. Zuerst ist der Bergpfad steil und steinig, weiter unten dann vor allem rutschig. Ich komme mir vor wie in jungen Jahren beim Skifahren und ich glaube, dass mir die Erfahrung der hohen Tempi auf steilen, vereisten Buckelpisten hilft, mich von Hügelchen zu Hügelchen zu kämpfen, ohne aus dem Gleichgewicht zu kommen. Die Szenerie ist wie aus einer anderen Welt. Helle Steinbrocken, dunkle Felspartien, von Runsen durchzogene Flanken in leuchtendem Grün, einfach anders als alltäglich.
Vor Batöni hat sich der Lavtinabach tief eingegraben. Das Gefälle, das er schon hinter sich gebracht hat, wartet kurz vor dem nächsten Kontrollpunkt auf mich. Die Langdistanzler mussten an dieser Stelle links, ich darf dem Zusammenfluss der fünf über teilweise eindrückliche Wasserfälle herabstürzenden Bäche in Richtung Weißtannental folgen. Meine Vorstellung eines leicht zu belaufenden Weges mit Zeitgewinn zerschlägt sich von Beginn weg. Zuerst sind es nur Steine, Rinnsale und Bächlein und die präsentieren sich mittlerweile im Sonnenschein.
In einem Waldstück kommt eine Markierung und lotst auf den Bergweg. Wie sieht wohl der Talweg aus (sofern es überhaupt einen gibt)? Sumpf und Schliddern sind angesagt, Zeit aufzuholen eine Illusion so groß wie der Matsch tief ist. Trotzdem gelingt es mir, mit nur einer Pirouette durchzukommen, bei welcher ich mit einer Hand kurz den Boden berühre. Ich habe den Eindruck, dass dies nicht die gewöhnliche Unterstufe ist. Das gehört schon zur Begabtenförderung. Hoffentlich kann ich da mithalten.
Die Häuser von Weisstannen signalisieren eine kurze Verschnaufpause. Die wenigen Meter Asphalt durch das schmucke Dorf würden ein entspanntes Laufen zulassen. Trotzdem trotte ich gemütlich weiter und lasse mir das frische Wasser am Brunnen munden. Wenn ich nur deshalb aus dem Zeitlimit falle, dann habe ich sonst etwas falsch gemacht oder muss ich mir eingestehen, dass ich noch nicht oder nicht mehr für solche Abenteuer tauge.