Die Laufrichtung ist talabwärts, was nicht bedeutet, dass es nicht noch einmal ein paar Höhenmeter zu bewältigen gibt. Auf dem abwechslungsreichen Wanderweg kommt mir Christoph entgegen und fragt, ob ich vielleicht seine Videokamera gefunden habe. Leider nein, aber ich wünsche ihm, dass er das gleiche Wunder wie ich erleben darf. Vor zwei Jahren habe ich beim Ultra auf dem Hinweg meine Stirnlampe verloren und durfte sie auf dem Rückweg kurz vor dem Dunkelwerden beim Verpflegungsposten in der Nähe wieder entgegennehmen.
Mit über 20 Minuten Vorsprung auf die Marschtabelle komme ich in Schwendi zum Verpflegungsposten. Den kann ich gebrauchen, habe ich doch seit dem letzten schon über 20 Kilometer zurückgelegt. Es gibt alles, was das Ultraherz begehrt. Richi, ein Läufer der schneller Sorte, der mir vor zwei Jahren schon entgegenkam als ich noch weit vom Wendepunkt entfernt war, steht als Helfer im Einsatz. Wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen und vor lauter Plaudern vergesse ich, das tolle Buffet und die freundlichen Helfer zu fotografieren.
Christoph ist schon ein paar Meter vom Posten entfernt, da bekomme ich mit, dass die eben neu eingetroffenen Läufer seine Kamera gefunden und mitgebracht haben, und kann ihn zurückrufen. Das ist halt schon was anderes als eine kurz liegengelassene und innert Minuten verschwundene Kamera – mir so geschehen an einem großen Städtemarathon im vergangenen Jahr.
Schwendi verlasse ich innerhalb des Zeitplans, allerdings mit der beruhigenden Zusage, dass ich mir alle Zeit der Welt lassen kann. Solange noch Ultras und Extreme innerhalb ihres Zeitlimits hier vorbeikommen, muss ich nicht befürchten aus dem Rennen genommen zu werden. So flexibel ist man hier. Große Kohle einsacken und dann mit fadenscheinigen Argumenten auf stur stellen, das findet dieser Tag anderswo im Trailrunning statt…
Gut gestärkt nehme ich den unmittelbar folgenden Anstieg zurück auf den Gamidaurkamm in Angriff, die Kleinigkeit von 1400 Höhenmetern. Der Weg im Wald ist überraschend gut zu belaufen. In meiner Erinnerung vom letzten Mal blieb er als Abschnitt mit Schmierseifenqualität. Unterwegs nach Unterprecht hole ich Christoph ein, was sich für uns beide als Glücksfall herausstellt. Seit dem Schwarzsee war ich alleine unterwegs und zwischen Wildseeluggen und Schwendi traf ich nur auf einen Pulk von drei Läufern. Nicht, dass ich diese Einsamkeit in der Natur nicht genossen hätte. Nur, wenn es ans Eingemachte geht, ist es im Duo leichter zu bewältigen.
Die Forststraße zwischen Unterprecht und Oberprecht bietet beim Tempowandern Gelegenheit zur Erholung und zum Sammeln neuer Kräfte. Bevor wir die zweite Hälfte der finalen Höhenmeter packen, gibt es noch eine Wasserstelle. Ganz dem Credo der Veranstaltung folgend, mehr zu halten als zu versprechen, wird zusätzlich nebst Gel auch Long Energy Iso angeboten.
Nach einem gut getränkten Weidestück geht es ins Steilstück hinein, auf dessen Serpentinen ich zwischendurch innehalte und mich mit der Aussicht erhole. Während wir in Richtung Wolken und Nebel unterwegs sind, erstrahlt die Landschaft in nördliche Richtung im warmen Licht der Frühabendsonne.
Auf dem Weg zum Gamidaurbach kommt uns ein sportlich beschwingtes Wanderpaar entgegen, feuert uns an und sagt: „Ihr seid schon bald bei der Verpflegung!“ Nach unseren fragenden Blicken erfahren wir mehr. Nach der Bachquerung und dem Gang durch einen in der Karte der Landestopografie als Sumpfgebiet ausgewiesenen Abschnitt erreichen wir die Hütte auf Alp Gamidaur. Das für die Hüttenwartung zuständige Paar hat aus eigener Initiative eine Verpflegungsstelle errichtet und fragt schon von weitem nach unseren Wünschen. Tee, Kaffee, Kekse, Kuchen, Salz, Bier… Als ehemaliger Teilnehmer des Sardona Ultra Trails weiß man eben worauf es ankommt. Etwas Salz, mit ein paar isotonischen Hopfenschlücken heruntergespült, und der Hinweis, dass nur noch 190 Höhenmeter vor uns liegen, beflügeln mich. Auf die Aussage von jemandem, der hier oben jeden Stein kennt, verlasse ich mich.
Ein kurzer Schwatz mit der Equipe der Alpinen Rettung auf dem Gamidaurkamm, und dann geht es zum Finale. Auf bekanntem Weg hinunter zum Baschalvasee, nach Gaffia und von da an das Ziel auf Furt vor Augen. Die Anstrengung des hinter mir liegenden Tages wären vergessen, würden mich nicht die Oberschenkel schmerzlich daran erinnern. Aber das Bergziegen-Gen ist stärker und annähernd so dominant wie früher und so spule ich die verbleibende Strecke vergleichsweise locker ab.
Fast eine halbe Stunde Reserve auf die Zeitvorgabe habe ich im Ziel, wo mich Umberto persönlich begrüßt. Mit seinen Glückwünschen und dem wohlverdienten Finishershirt unter dem Arm gehe ich zum Restaurant. Die Schuhe mit dem Bodenpotpourri der Pizol-Region ziehe ich anstandshalber vor dem Eintreten aus. Es reicht, dass ich mich verschwitzt und nicht nach Rosenwasser riechend zu einem Bleifreien begebe.
Leider kann ich nicht lange bleiben, denn ich sollte noch die Gondel ins Tal erwischen. Das gemütliche Zusammensein und das Warten auf weitere eintreffende Läufer würde ich gerne auch genießen. Aber ich bin auch so glücklich und erfüllt und vor allem dankbar, dass ich wieder mittun kann; und zwar sogar bei einem Trail Marathon, der sich von den bekannten Klassikern der Bergmarathons entschieden unterscheidet. Einer, den es nicht zu unterschätzen gilt, und der einen mit bleibenden Eindrücken und guten Gefühlen belohnt – vorausgesetzt, man bringt ihm gebührend Respekt entgegen. Ein Geheimtipp für Fortgeschrittene.