Sardona Ultra Trail. Sardona, das tönt irgendwie italienisch. Aber nichts da, niente Italia, nicht einmal Tessin. Deutschschweiz pur, so wie der Name des Hauptsponsors, ein Fachgeschäft für Bergsteigen, Wandern, Trekking und was man sonst oberhalb des Flachlands draußen so alles anstellen kann: Bächli. Schweizerischer könnte das nicht tönen. Kratzendes „ch“ und „-li“, das erwartet man doch als sprachliche Hauptzutaten Helvetiens.
Ein bisschen Italianita gibt es doch noch. Umberto Michelucci ist Renndirektor und wird im technischen Komitee von Marco de Gaspari und Emanuele Manzi unterstützt. Genau genommen ist das viel Italianita und vor allem eine geballte Ladung Expertenwissen zum Berglauf.
Das UNESCO-Weltnaturerbe Tektonikarena Sardona hat auch in der Schweiz selbst noch keine große Bekanntheit. Ältere Semester erinnern sich vielleicht noch an knochen- und staubtrockenen Erdkundeunterricht, in welchem diesbezügliches Wissen mit geologischen Details zum Auswendiglernen von vornherein dem Kurzzeitgedächtnis zugeteilt wurde. Aber eben, da war doch was?
Im kaum bekannten Grenzgebiet der Kantone St. Gallen, Glarus und Graubünden können Spuren der Gebirgsbildung weltweit am besten beobachtet werden. Nirgendwo auf der Welt sind diese Prozesse so deutlich sichtbar wie hier. Entlang der Glarner Hauptüberschiebung, einer schnurgeraden, über viele Kilometer zu beobachtenden Linie, sind alte Gesteine auf jüngere geschoben worden. Das will ich mir doch anschauen. 80 Kilometer Strecke sollten mir dazu ausreichend Gelegenheit bieten, wenn auch absehbar ist, dass ich auf dem letzten Streckendrittel nur noch das vor die Augen bekomme, was im Lichtkegel meiner Stirnlampe liegen wird.
Den Vortritt bei der Startnummernausgabe am Freitag und den buchbaren Schlafplatz im Massenlager der Berggasthöfe überlasse ich denen, die eine weitere Anreise haben als ich. Meine dauert keine zwei Stunden, da muss ich nicht einmal mitten in der Nacht aus den Federn.
Um 06.30, zwei Stunden vor dem Start fährt die erste Gondel von Wangs nach Furt, wo sich Start, Ziel, Toiletten, Duschen und die samstägliche Ausgabe der Startunterlagen befinden. Diese gibt es gegen einen unterzeichneten Haftungsausschluss und beinhalten auch eine Rettungsdecke und einen Trinkbecher, welche beide zur Pflichtausrüstung gehören. Wer den Becher nicht mitführt, kann zusehen, wo und wie er seinen Durst stillt. So weit kommt es nicht, denn die Ausrüstung aller Teilnehmer wird kontrolliert.
Schon am Donnerstag war absehbar, dass der Lauf nicht auf der vorgesehenen Strecke stattfinden kann. Vereister Schnee verunmöglicht ein Überschreiten der beiden höchsten Punkte Lavtinasattel und Muotatalsattel. Gestern wurde noch an der Ausweichroute gefeilt, heute wird sie den Teilnehmern individuell mitgeteilt und auf dem abgegebenen Kartenmaterial markiert. Sicher schwingt eine Enttäuschung darüber mit, dass die attraktive Strecke mit wunderbarer Aussicht, die dem beliebten 5-Seen-Bergwandeweg folgt, nicht begangen werden kann, doch die Trailers sind sich dieses Jahr noch ganz anderes gewohnt. Die Freude überwiegt, dass die aktuellen Wetterverhältnisse geradezu ideal sind und immerhin fast 70 Kilometer und rund 5000 Höhenmeter serviert werden.
Der Startschuss erfolgt ein paar Minuten später als geplant, es scheint sich aber niemand daran zu stören. Wenn sich Trailers treffen, gibt es immer genügend Gesprächsstoff, da langweilt sich niemand in der Zwischenzeit. Zuerst gibt es ein lockeres Einlaufen bergab, anschließend geht es mit angenehmer Steigung hoch zum Garmil. Einmal so richtig warmgelaufen, wird es oberhalb der Baumgrenze steiler. Tief unten im Rheintal können die Leute in die Morgensonne blinzeln, wir haben ein wechselndes Spiel von Wolken, Nebelschwaden und blauem Himmel dazwischen.
Beim Gipfelkreuz ist erstmals die Höhe von 2000m erreicht, doch bevor es noch höher geht, holen wir im Abstieg nach Gaffia Anlauf. Nach einer ersten Verpflegung mit Iso, Wasser und Gel, für welche der eigene Becher nicht ausgepackt werden muss, kommt das nächste Gesäßmuskeltraining. Die nächsten 600 Höhenmeter stehen an. Wenigstens eine kleine Kostprobe der beliebten 5-Seen-Wanderung gibt es nun. Auf dem Weg zum Gamidaurkamm kommen wir am Baschalvasee vorbei. Es dauert eine Weile, bis ich den See als solchen wahrnehme, denn Nebel, Schnee und die spiegelnde Wasseroberfläche gehen nahtlos ineinander über.
Auf dem Kamm steht der Streckenposten und grüßt mit dem erhobenen Daumen. Dieses Zeichen gilt auch der Sonne. Sie bescheint den Beginn des langen Abstiegs ins Weisstannental. Waren es vorher klar sichtbare Bergpfade, so sind es nun nur noch kleine Pfosten mit weiß-rot-weißer Markierung, die anzeigen, in welcher Richtung ein Weg gesucht werden muss. Grasnarben, durchfurcht von Kuhwegen, so präsentiert sich das Gelände und stellt an die Koordination einige Anforderungen.
Bei der Alp Gamidaur folge ich den Läufern vor mir und mache damit ebenfalls einen kleinen Umweg. Eine kleine Unsicherheit in Bezug auf die Streckenmarkierung plus Herdentrieb gleich Umweg. Ungefähr so, würde ich sagen, lautet die Gleichung. Weiter unten wird das Geflecht von Trampelpfaden mit Sprühfarbe aufgeschlüsselt.
Den Gamidaurbach quere ich mit ein paar eleganten Hüpfern von Stein zu Stein, verpatze aber die letzte Landung. Zwar lege ich noch eine Pirouette ein, die Hälfte davon aber schon mit Bodenkontakt. Das gibt Abzug in der B-Note und ein geschürftes Schienbein, behindert mein weiteres Fortkommen sonst glücklicherweise in keiner Weise.