Nach einer ausgiebigen Pause stürme ich wieder los und lasse mich nach einer Weile von einem Irrpfad zu weit nach rechts und oben ziehen. Ein Rufen von der Hütte her weckt meine Aufmerksamkeit und ein Blick zurück zeigt mir die heftigen Bemühungen, welche die Helfer auch mit ihren Armen unternehmen, um mich auf den richtigen Pfad zu bringen. Und mit mir die, welche mir im Vertrauen auf meine Navigationskünste gefolgt sind.
Es kommen uns nicht mehr viele Läufer entgegen, was nicht heißt, dass wir das Zeitlimit im Nacken hätten. Trotz geänderten Cut-Off- und Zielzeiten haben wir auch im hinteren Teil des Feldes ein sehr komfortables Zeitpolster. Da wurde nicht nur an die Crème de la Crème gedacht. Entspannt, uns unterhaltend und lachend laufen wir auf bekannter Strecke zurück. Langweilig ist das überhaupt nicht. In umgekehrter Richtung ist es genauso interessant. Dazu trägt auch das Licht bei, das der Landschaft ein paar Stunden später eine ganz andere Note gibt.
Wir rechnen uns aus, dass wir es schaffen sollten, noch vor Anbruch der Dunkelheit Weisstannen zu erreichen, was gerade nochmals ein Aufsteller ist.
Maria-Christina hält am Brunnen immer noch die Stellung mit ihrem Gel- und Riegelvorrat, muss sich aber mit Wolldecken gegen die sich langsam einschleichende feuchte Abendkühle schützen. Otto und ich laufen quietschfidel weiter ins Weisstannental hinunter und werden dabei von Verena eingeholt. Wir bleiben zusammen und laufen gemeinsam zur großen Stärkung vor der noch größeren Steigung hoch zum Gamidaurkamm.
Vor 101 Jahren wurden in dieser Gegend wieder Steinböcke ausgesetzt. Dies, nachdem es die Schweizer geschafft hatten, dieses Wild im Land gänzlich auszurotten. Aufgrund dieser Tatsache ist es also Fakt, dass auch die Vorzeige-Schweizer aus Graubünden, die Steinböcke Gian und Giachen einen Migrationshintergrund haben. Ihre hier angesiedelten Vorfahren stammten aus königlichem italienischem Bestand und um die Legalität ihrer Akquisition und ihres Exports war es auch nicht gerade bestens bestellt. Die Steinböcke machen sich rar, dafür äsen am Waldrand sechs Hirsche, auf welche uns die Mannschaft des Verpflegungspostens aufmerksam macht. In einem anderen Tal in dieser Gegend hat kürzlich ein Wolfspaar eine kleine Familie gegründet. Diese Gegend gefällt mir immer besser.
Das Wunder schlechthin ist, dass ich meine verlorene Stirnlampe in Empfang nehmen kann. Ich kann es kaum glauben, dass sie gefunden und abgegeben wurde. Leider können mir die Helfer nicht sagen, wer der aufmerksame und ehrliche Finder war. An dieser Stelle bedanke ich mich ganz, ganz herzlich und bitte ihn, sich bei mir zu melden. You made my day (night)!
In einer Fünfergruppe nehmen wir den Rest in Angriff. Der Untergrund auf dem Schlammweg ist durch die zahlreichen Fußpaare der Schnelleren teilweise etwas kompakter als noch am Morgen, einen Mangel an Matsch kann ich aber trotzdem nicht beklagen.
Bevor es auf den Wirtschaftsweg geht, machen wir einen Halt bei Unterprecht, kühlen aber schnell aus. Meine Hoffnung, dass ich aufwärts schnell wieder warm genug bekomme, zerschlägt sich. Wir halten nochmals kurz und alle ziehen sich noch eine Schicht über.
Etwas weiter oben ist bei Oberprecht in der Nacht ein neuer Streckenposten, führt Buch und Anwesenheitsliste und hat Gel, Riegel und Wasser dabei. Bald schon kommen die Serpentinen, wo ich zwischendurch stehenbleibe, die Lampe ausknipse und den mondlosen Sternenhimmel betrachte. Bei aller Müdigkeit und Anstrengung: es ist einfach traumhaft.
Beim Schlussaufstieg zum Kamm wird uns von oben im Stil eines Leuchtturms angezeigt, wohin wir gehen müssen. Die Leuchtstreifen an den Markierungsposten haben jedoch eine so hohe Leuchtkraft, dass die Richtung nicht zu verfehlen ist. Im Gewirr der Kuhpfade ist der Weg dort, wo du gehst und das nächste Schlammloch ist sicher dort, wo du als nächstes deinen Fuß hinsetzt. Ich mache genau das, was Professor Manfred Spitzer zur Gesunderhaltung unseres Gehirns empfiehlt. Ich „jogge“, habe sozialen Austausch und fordere meine Synapsen, indem ich das Navigieren nicht einer Software, sondern dem Gehirn überlasse.
Ein Vorgeschmack des Glücksgefühls, das sich im Ziel einstellen wird, gibt es beim letzten Streckenposten. Bald haben wir es geschafft, wenngleich sich die etwas mehr als 4 Kilometer bis dorthin noch ziehen werden. Immerhin gehen sie abwärts und die Aussicht auf eine heiße Dusche ist hier oben, wo kurz vor Mitternacht Reif liegt und der Schnee gefroren ist, auch nicht ohne.
Nach etwas mehr als 16 Stunden nach dem Start - fünf weitere würden uns noch zur Verfügung stehen - kommen Otto, Verena und ich gemeinsam ins Ziel, wo wir nicht nur von Umberto und Gefolge, sondern auch von anderen Teilnehmern empfangen werden und das ärmellose Finisher-Shirt (gibt es selten) für heiße Tage überreicht bekommen. Nach der heißen Dusche können wir uns im Hotel Furt eine leckere Portion Spaghetti munden lassen. Der Wirt macht mit seinem Team Nachschicht für uns und sagt mir, dass er den Eindruck habe, dass die Ultraläufer eine verschworene Gemeinschaft seien, in welcher sich alle zu kennen scheinen. „Gut beobachtet“, kann ich da nur sagen.
Bruno hat am Morgen gesagt: „Du bist schuld, dass ich hier bin. Du hast mich im Frühjahr auf diese Veranstaltung aufmerksam gemacht.“ Mit diesen Schuldgefühlen kann ich leben. Falls er eine Haftungsklage anstrengen würde, kämen die Richter sicher zum Schluss, dass mir als Beklagtem eine Summe ausbezahlt werden müsse, weil ich ihm – nicht ahnend, wie schön es sein wird – diesen Tipp gegeben habe.
Mit kleinem Budget aber viel Herzblut und Gespür hat Umberto mit seinem Team diesen Lauf (übrigens auch als 39km-Marathon und 21km-Short) organisiert. Obwohl die vorgesehene Strecke nicht gelaufen und auf eine „Out and back“-Strecke ausgewichen werden musste, hat er sich bei allen Läufern, mit denen ich gesprochen habe, als Meilenstein eingeprägt. Es steht auch für mich fest, dass ich im kommenden Jahr dabei sein will – aber auch, dass es von Vorteil sein wird, für die Originaldistanz vorher noch ein paar zusätzliche Höhenmeter anzutrainieren.