Es geht aber nicht durchgehend nach oben, zwischendrin ist auch eine „steile Abfahrt“ zu bewältigen, vor der wir per Hinweisschild gewarnt werden. Alles halb so schlimm, der Wiesenkamm ist wirklich ein Traum, ich bin schwer begeistert. Weiter geht es in leichtem auf und ab zum Passo di Pozzaiolo, von wo ein schweißtreibender Trail auf den Gazzirola hinaufführt. Leider vollkommen ohne Aussicht. Auch wenn es optisch so aussieht, den Gipfel haben wir am 20 km-Schild noch nicht erreicht. Wir müssen erst noch über ein langgestrecktes Plateau, um das Gipfelkreuz zu Gesicht zu bekommen. Leider ist der Monte Gazzirola (2116 m), unser höchster Punkt der Strecke, vollkommen in den Wolken. Es gibt nix zu sehen.
Über einen stark ausgewaschenen Pfad, der viel Aufmerksamkeit erfordert, geht es wieder sehr steil abwärts ins Valcolla Tal zur Capanna San Lucio. Die Hütte liegt am Passübergang zur italienisch-schweizerischen Grenze. Nach 24 Kilometern ist für die Teilnehmer des kürzeren Trails finito, sie haben ihr Ziel erreicht. Für ihren Rücktransport nach Tesserete dürfen sie aber noch gemütlich 3 Kilometer ins Tal absteigen, denn von hier ist kein Shuttle möglich. Der Cut-Off liegt bei 6 Stunden, ich habe eine Stunde Luft und kann mich so in aller Ruhe endlich von meinen vollkommen durchnässten Klamotten trennen. Nachdem bereits erste Wolkenlöcher auszumachen sind, nehme ich einen kompletten Kleiderwechsel auf kurz-kurz vor. Samt ausgiebiger Verpflegung kostet mich das zwar 20 Minuten, aber in trockener Bekleidung weiterlaufen zu können, ist unbezahlbar.
Nachdem der 24K zu Ende ist, geht es für mich einsam weiter. 500 Meter vor mir ist eine Gruppe, 500 Meter hinter mir kommt ein einzelner Läufer nach. Das Feld ist weit auseinandergezogen. Seit dem Gazzirola schlängeln wir uns praktisch immer an der Schweizer-Italienischen Grenze entlang. Südwärts geht es über zwei grasige Hügel, den Monte Cucco und den fast gleich hohen Colmo di San Bernardo. Die Gruppe vor mir ist gesprengt, ich kann einen Läufer überholen. Die Horde Ziegen im Nebel macht sich gut, tolles Bild. Ich benötige aber Trailrunner, um nicht nur Landschaftsaufnahmen auf den Speicherchip zu haben.
Nach einem kurzen Zwischenabstieg in die Bocchetta di San Bernardo geht's wieder steil bergan über einen latschenbewachsenen Hang zur Cima di Fojorina, dem höchsten Punkt in dem lang gestreckten Grenzkamm. Wir sind jetzt wieder auf knapp über 1800 m. Sehr felsig ist es hier oben. Während des Aufstiegs kann ich wieder einen Läufer überholen, aber er schwächelt, kann mir nicht lange als Bildmotiv dienen. Der Gruppe vor mir komme ich aber langsam näher.
Am Gipfelkreuz des Fojorina hängen die Wolken tief. Auf der italienischen Seite geht es um die Türme der Cima dell'Oress herum und weiter an einem Grat abwärts in einen Wald. Ich bin jetzt auf die Gruppe vor mir aufgelaufen, endlich bekomme ich wieder Läufer auf die Bilder. Und es gibt auch gleich richtig Action im Wald. Der Waldboden ist vollgesaugt mit Wasser, wie auf Schmierseife balancieren wir nach unten. Keiner kommt ohne eine Gratis-Fangopackung durch den tiefen Schlamm. Ich bin froh mit Stöcken unterwegs zu sein, so kann ich mich oft doch noch irgendwie abfangen. Aber saumäßig Spaß macht’s schon.
Nach 30 km erreichen wir die Capanna Pairolo, unsere 3. Versorgungsstation. Cut-Off sind 8 Stunden. Hört sich nach viel an, man sollte aber auch die fast 3000 Höhenmeter einkalkulieren, die wir hier in etwa bereits hinter uns haben. Ich muss erst Hände und Kamera reinigen, bevor ich mich mit einer warmen Bouillon und Käse stärke.
Nachdem ich mich einige Zeit hinter den drei italienisch sprechenden Jungs gehalten habe und mir ihr Tempo sehr gut passt, beschließe ich, mich der Gruppe anzuschließen. Samuel, Claudio und Kevin sind astreine Local-Heros aus Tesserete und sprechen kein Wort Deutsch. Die Tessiner Bevölkerung fühlt sich mit ihrem Nachbarn Italien kulturell stark verbunden, die Amtssprache im Ticino ist Italienisch. Für 87,7 Prozent ist es auch ihre Hauptsprache, 10,8 Prozent geben Deutsch an. So können wir nur in Englisch miteinander kommunizieren. Macht aber nix, sie sind so locker drauf und mir macht es auch Spaß, mit ihnen zu laufen. Außerdem machen sie sich gut auf den Bildern.
Auf teils spektakulären Trails durchqueren wir unterhalb der Gipfel die Denti della Vecchia (auf Deutsch: „die Zähne der Alten“). Die Bergkette gehört zu den historischen Kletterorten im Ticino. Generationen von Kletterern haben die Wände, Felsnadeln und Steilhänge der „Tessiner Dolomiten“ schon erforscht. Meistens geht es durch einen schattigen Laubwald, der angenehmen Schatten spendet, aber auch sehr matschig und dadurch rutschig ist. Mittlerweile scheint die Sonne und die Temperaturen sind sprunghaft angestiegen. Atemberaubende Aussichten werden uns geboten. Manchmal schimmert der See durch die Bäume oder scharfkantige Felsformationen.
Als letzter richtig steiler Aufstieg steht uns der Gipfel des Monte Boglia (1516 m) bevor, auf dem Höhenprofil als giftige steile Spitze angezeigt. Über zwei Kilometer geht es serpentinenartig im hohen Buchenwald deftig nach oben, bis wir kurz unterhalb des Gipfels wieder auf unseren „berühmten“ Wiesenkamm wechseln. Die Aussicht am Gipfelkreuz ist gewaltig. Unter uns liegt der Golf von Lugano, gegenüber die italienische Seite des Luganer Sees und die Berge im Norden, auf dessen Kamm die Grenze zwischen dem Tessin und der italienischen Provinz Como verläuft. Ein absoluter Gänsehautmoment für mich. Das hier ist der Platz im Paradies. Ein hier postierter Helfer macht Fotos von uns. Bei Top-Wetter bietet der Gipfel ein Panorama, das bis nach Mailand, zum Monte Rosa in den Walliser Alpen und bis in die Berner Alpen und den Apennin reicht.
Aber es kommt noch besser. Der Wiesengrat führt uns auf der gegenüberliegenden Seite wieder runter von der Spitze. Ich habe fast das Gefühl, über dem See zu balancieren. Es ist nicht wirklich gefährlich, aber nur ungern möchte ich hier das Gleichgewicht verlieren. Links geht’s runter nach Italien, rechts in die Schweizer Seite des Luganer Sees. In der Mitte des Kamms bekomme ich von meinen neuen Freunden den Vier-Seen-Blick erklärt. Von Luganer See, Comer See und Lago Maggiore sind Teile auszumachen. Ja, einer fehlt, ich hab nicht alles richtig verstanden.
Technisch höchst anspruchsvoll, anfangs fast in Falllinie mit aufregendem Blick auf den See direkt unter uns, geht es wieder runter. Vor uns thront der San Salvatore, liebevoll auch der „Zuckerhut” der Schweiz genannt, es gibt unglaublich geile Ausblicke. Durch die steile Waldlandschaft gelangen wir in den höchstgelegenen Stadtteil von Lugano, ins Dorf Brè. Durch enge Gassen zwischen steinernen Häusern erreichen wir dort nach 40 Kilometern VP4. Ich fühle mich gut, für die restlichen 14 km sehe ich kein Problem und die Höchstschwierigkeiten sind auch durch. Zeit für mich, ein Schnäpschen auszupacken, um mit mir zu meinem 111. Marathon/Ultra-Finish anzustoßen. Hier gibt es natürlich auch eine Zeitbarriere, sie liegt bei 10 Stunden.
Nicht weit weg von unserer Station, nur einen kurzen Fußmarsch oberhalb Brè, liegt der Hausberg von Lugano, der Monte Brè. Wir kommen nicht bis zum Aussichtspunkt. Es heißt aber, er sei der sonnigste Berg der Schweiz. Und tatsächlich, hier ist es so warm, wie den ganzen Tag über noch nicht. Fast hochsommerlich. Die Standseilbahn Funicolare bringt seit 1912 Ausflügler auf den Berg. Durch die Bahn wurde das Dörfchen Brè erst erschlossen. Vorher war es nur über Maultierpfade erreichbar.
Von Brè führt unser Kurs in einer Schleife im Wald zurück zur Alpe Bolla am Fuße des Monte Boglia. Der Aufstieg ist nicht sonderlich spektakulär. Auf schmalen Wegen zieht er sich aber immerhin über fast drei Kilometer kontinuierlich nach oben, was meinen Freunden schon einmal ein „porco dio“ und „stronzo“ entlockt.
Dafür gönnen wir uns auf der Terrasse von Alpe Bolla ein Bierchen, nachdem wir uns für den Schlussakkord an der unmittelbar davorliegenden, offiziellen Labestation nochmals gestärkt haben. Über die Ortschaften Villa Luganese und Sonvico geht es zurück nach Tesserete. Überwiegend geht es bergab, aber nicht nur. Es sind auch immer wieder kürzere Anstiege zu bewältigen, die uns so langsam den Zahn ziehen. Sonvico liegt genau unter den Spitzen der Denti della Vecchia, den „Tessiner Dolomiten“. Die Jungs weisen mich mit Stolz darauf hin, dass wir heute da oben auch schon rumgeturnt sind.
An San Stefano vorbei geht es zur Dorfmitte und ins Ziel. Die Local Heros werden mit Champagner bespritzt, anschließend gibt es für jeden Finisher aus der direkt neben dem Zielbogen liegenden Kneipe ein Bierchen auf Kosten des Veranstalters, einen Teller Pasta gibt es gegen den erhaltenen Gutschein.
Welchen Spaß macht dieser Hammertrail! Leider ist er hier zu Ende. Grazie Samuel, Claudio e Kevin, è stato un piacere averti.
Noch nicht einmal halb so lange wie wir ist der Sieger unterwegs. Es ist wie bereits im Vorjahr Stephan Hugenschmidt, der auf dem Weg zu einem ganz Großen in der Trailszene ist.
Mein Resümee:
Der Scenic Trail bietet eine spektakuläre, abwechslungsreiche und höchstanspruchsvolle Strecke mit atemberaubenden Aussichten. Die Trails sind aber nicht zu extrem und jederzeit gut zu meistern. Auf meiner Favoritenliste werde ich ihn ganz oben einordnen. Einen kleinen Wehrmutstropfen gibt es aber: Den Platz im Paradies sollten sich auf der/den Langstrecken nur Geübte erobern.
Für nächstes Jahr sind bereits Erweiterungen angekündigt, so wird es für die Hardcore-Fraktion ein 100 km Rennen mit 7500 Höhenmetern geben. Aber auch an Einsteiger wird gedacht. Für sie wird eine Strecke über 11 Kilometer und 800 hm hinzukommen. Da kann für den Zugang ins Paradies geübt werden.
Sieger 54K
Männer
1. Hugenschmidt, Stephan, Deutschland 05:57:35
2. Jonsson, Thorbergur, Island 06:02:02
3. Van Norden, Huub, Niederlande 06:11:57
Frauen
1. Goetz, Kathrin, Schweiz 07:10:43,6
2. Ogi, Helene, Schweiz 07:40:56,4;
3. Huser Andrea, Schweiz 07:44:04