Hektisches Treiben in einer von Teilnehmern geradezu berstenden Sporthalle irgendwo westlich von Hildesheim am Rande der Region Hannover im Calenberger Land: beladen mit einer riesigen Tragetasche wühle und drücke ich mich durch die Menge.
Gerade schaue ich auf die Uhr: ach was, es ist bereits halb Neun? „Oha, in einer halben Stunde geht’s bereits los“, denke ich mit einem Hauch Nervosität. Ich verschaffe mir einen Überblick: da drüben die Startnummernausgabe, am anderen Ende der Halle, los geht’s. Eine freundliche Helferin reicht mir ein kleines, handliches Beutelchen, das Starterbag, bestehend aus Eau de Toilette, Halstabletten, Taschentüchern und Waschmittel.
Seit Vereinsgründung 1949 richtet der Vfl erstmals einen anspruchsvollen Landschaftsmarathon aus. Dabei hatte man anfänglich sogar mit der Genehmigung der Veranstaltung zu kämpfen. Die Idee zu dem Laufevent entstammt dem ersten Vorsitzendem und 100 Marathon Club Urgestein Heinrich Schütte, der bereits über 500 Marathons auf seinem Konto verbuchen kann. Weitere bekannte Gesichter der Vielläufer-Szene: Da sehe ich zum einen Weltrekordler Christian Hottas, welcher mit über zweitausend Marathonläufen wohl schon mehr als zweimal um die Welt gelaufen ist. Auch erkenne ich in der Menge Christine Schroeder wieder, welche mit nunmehr 55 Jahren in nicht einmal sechs Jahren über 450 Marathons gelaufen ist. Beachtlich!
Der Marathonduft liegt wieder in der Luft, die herrliche Spannung greifbar: Hunderte Sportler und Zuschauer warten in Adensen auf den besonderen Moment! „Es geht jeden Moment los, wo ist Deine Startnummer? Und überhaupt: wolltest du dich nicht umziehen?“, werde ich dankenswerterweise von meiner Frau erinnert.
Eigentlich hatte ich meine Laufklamotten ja bereits an, aber ich wusste ja, worauf meine Frau da anspielte. Sie guckt mich an, ich gucke sie an, verstohlen schaue ich mich ein letztes Mal um. Dann greife ich in die Tragetasche und ziehe - beinahe aus einem Zauberhut - seufzend etwas plüschig-rosafarbenes zum Anziehen heraus. Fertig umgezogen pierce ich mir noch die Starternummer auf die flauschige Brust. Währenddessen beobachtet mich meine kleine Tochter verstohlen. Sie hat derzeit sichtlich Mühe, ein freches Grinsen zurückzuhalten. Ihr plötzliches Gelächter ist dank ihres lauten Organs meilenweit zu hören. „Paapaaa, du-bist-ein-rosa Haaa-seee! Hihi! Hoppelst Du jetzt zu den Zwergen hoch?“ Zwerge? Ach ja, ich hatte ihr ja von der Legende über die Zwerge tief unter dem Marienberg erzählt.
Irgendwer klopft mir plötzlich auf die Schulter, das kann nur Kumpel Marco sein. Erleichtert drehe ich mich um, vor mir jedoch ein fremder Hüne: “Na, Häschen? Welche Wette hast denn Du verloren?“ Ich beiße die Zähne zusammen…und fasele irgendwas von Alkohol. Eine in diesem Zusammenhang spaßige Kooperationsvereinbarung mit einem in der Läuferszene mittlerweile recht bekannten Bio-Fruchtsaft-Hersteller hätte mir dieser Typ nun garantiert nicht abgekauft.
Der Startschuss fällt, ich nehme flugs die Beine in die Hand.
Durch verschiedene Bundesstraßen, Kreisstraßen und Buslinien ist Adensen verkehrsgünstig an Hannover, Hildesheim und Springe angebunden. Der Ort bildet mit Hallerburg eine Dorfgemeinschaft mit gemeinsamer Kirchengemeinde und Vereinen. Durch Adensen und Hallerburg führt der Calenberger Weg, ein Fernwanderweg, der von Bad Nenndorf bis Nordstemmen reicht.
Für beste Witterungsbedingungen sorgt Meister Herbst: dauerhaft leichter Nieselregen an diesem trüben Samstagmorgen und wenige Grad über Null bestimmen fortan auch die nächsten Stunden. Eine bunte Läufermasse bewegt sich vom südlichen Ortsrand aus in unmittelbarer Nähe zur Haller – einem Nebenfluss der Leine in der Region Hannover. An der Haller arbeiteten bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts noch drei Wassermühlen – mit dem romantischen Namen Rosenmühle auch eine bei Adensen gelegen, an welcher wir gerade unweit vorbeilaufen.
Schnell wird mir bewusst, dass ich hier und heute hasentechnisch keine persönliche Bestzeit hoppeln werde – das ist nicht nur antonym, das ist auch garantiert. Schon folgt die erste seichte Steigung…aber es ist bloß eine Brücke, die uns über die Bundesstraße 3 in die Feldmark Richtung Marienberg führt. „Hopp hopp, Häschen…“, ruft mir eine Läuferin keck zu und starrt – ich könnt‘s beschwör’n - ganz ungeniert auf den Puschelbommel meines rosa Allerwertesten.
Nun wird es jedoch ernst, denn dieser sehr abwechslungsreiche Landschaftsmarathon mit seinen gut fünfhundert Höhenmetern bietet mit dem Marienberg direkt vor mir die erste Erhebung. Kurz blitzt der absurde Gedanke auf, ob mein Hasenkostüm atmungsaktiv ist, als ich auch schon den Märchenwald betrete und der bunten Perlenkette von Läufern auf dem engen Trail folge. Dieser schmale und teilweise höchst matschige Wanderweg führt uns jedoch erst einmal am Waldrand von der West – auf die Ostseite des Berges. Ich bin heute sicherlich nicht der Einzige, der sich darüber aufregen könnte, keine Trailschuhe angezogen zu haben. Der oftmals schlammige Untergrund ist von den Niederschlägen der letzten Tage derart aufgeweicht, das es eine helle Freude ist, mit vollster Konzentration jeden einzelnen Schritt gründlich zu erwägen - ein falscher, und mein rosa Teint wäre glatt versaut.
Der Trail endet mit einer kurzen, aber sehr rutschigen Downhill-Passage hinunter zur Kreisstraße K 505. Durch Steinbrüche und den Bau der Straße ist an vielen Stellen an der Südkante des Marienbergs anstehendes, schräges Buntsandgestein sichtbar. Kaum war Karnickel froh, rutschfesten Boden unter seinen Füßen zu spüren, wird es von einem Helfer auch schon wieder in den Wald gejagt. „Da geht’s hoch, aber Vorsicht, es ist sehr steil und rutschig!“.
Ich blicke hoch und erkenne Trauben von Läufern, die eine enge Serpentine hoch laufen. Seufzend knicken meine Ohr-Löffel ein. „Das könnt ein dreckiges Ende nehmen“, erwidere ich lachend. Der Marienberg war von alters her ein sagenumwobener Ort. Es heißt noch heute, dass Zwerge ihn bewohnen. Meine Gedanken schweifen ab, während ich mich an den matschig-steilen Anstieg wage…
Wenn der alte Zwergenkönig tief im Innern des Marienberges eines besonders verflucht, dann von einem Rütteln und Schütteln geweckt zu werden. Gähnend öffnet der müde Regent seine Augen und blickt in das überängstlich wirkende Gesicht seiner engsten Leibwache. Er war mal wieder im Thronsessel eingepennt, na prima, wie peinlich. “Das Trippeln, Trappeln, Rumpeln und Rappeln hunderter Füße, mein König, hoch über uns, was hat das zu bedeuten?“
Im Thronsaal hatten sich währenddessen viele Zwerge versammelt, hier und dort ein Getuschel und Gemurmel, ratlose und besorgte Bergmännchen-Gesichter, wohin der König sah. Man sei einheitlich zu dem Schluss gekommen, bei dem Gelärme und Gepolter dort oben könne es sich wahrlich nur um König Georg den Fünften handeln, welcher nun mit seiner Geliebten Misi und einer gigantischen Gefolgschaft aus seinem Exil in Österreich zurückgekehrt sei und hundertsechsundvierzig Jahre später den preußischen Besatzertruppen ordentlich den Marsch blasen wolle.
Genervt rieb sich der Zwergenkönig mit Daumen und Zeigefinger die Augen und hob letztlich die Hand. Es wurde mucksmäuschenstill. „Ihr solltet mal öfters an die frische Luft, ihr Pappnasen: wir leben im 21. Jahrhundert und dort droben feiert Heiner Schütte Premiere mit dem Schloss Marienburg Marathon!“
Von weitem erklingt Dudelsackmusik und reißt mich aus meinen Gedanken wieder ins hier und jetzt. Ich schaue hinauf und erkenne erste Konturen und Umrisse des Märchenschlosses zwischen Bäumen und Ästen. Begeistert drehe ich mit der Kamera ein kleines Video, während Ich über die Zugbrücke den Innenhof des Schlosses betrete. Zu Ehren der Zwerge ließ die Königin damals Denkmale erbauen, natürlich in angemessener Größe. Wer sich aufmerksam im Schlosshof umsieht, wird sie auch entdecken. Zu beiden Seiten des Torbogens stehen zwergische Wachposten mit massiven Eisenschilden in der Hand – Prellsteine, die damals zum Schutz der Toreinfahrt vor Beschädigung durch die eisernen Radreifen der Pferdewagen dienten. Eine Zeit lang verweile ich im Innenhof.