Die Routine fehlt. Wenn ich mir dessen nicht bewusst wäre, dann hätte ich es spätestens beim Abholen der Startunterlagen gemerkt. Die Startnummer muss ich mir mit Sicherheitsnadeln anheften, denn an das Startnummernband habe ich zuhause nicht gedacht.
Wenn es nur die Packroutine wäre. Eindreiviertel Jahre ist es her, seit ich das letzte Mal eine Startnummer trug. Alle weiteren geplanten Läufe fielen dann aus. Diese Annulationen – in Verbindung mit dem totalen Umkrempeln des gewohnten Alltags – bewirkten etwas eigentlich Unerklärliches. Mit der Laufbegeisterung war es praktisch von einem Tag auf den anderen vorbei. Fertig, Stecker gezogen, Luft draußen, Hahn zugedreht.
Die Unermüdlichen, die ihre Pace allen Widrigkeiten zum Trotz gehalten haben und nun wieder ihre freudvollen Berichte von Laufanlässen schreiben konnten, haben mir geholfen, eine perspektivische Freude zu spüren und die Hürde des Wiedereinstiegs zu nehmen.
Noch bin ich nicht weiter als 17 Kilometer am Stück gelaufen, doch die Streckenbeschreibung, das angekündigte Wetter und die Aussicht auf die Schwingungen eines Laufanlasses – Wettkampf wäre für mich nicht das passende Wort – bringen mich zu einer spontanen Anmeldung zum Schnebelhorn Panoramatrail.
Nun bin ich in Mosnang, ein kleiner Ort im unteren Toggenburg, dessen Name meiner Generation spätestens seit den Erfolgen der dort aufgewachsenen Skirennfahrerin Maria Walliser bekannt ist.
Von der zum Parkplatz umfunktionierten Wiese ist es nur ein kurzer Weg zum Schulhaus, das als Wettkampfzentrum dient. Die Rahmenbedingungen sind so, dass die zu beachtenden Schutzmaßnahmen nur einen marginalen Eingriff in die gewohnten Abläufe einer Laufveranstaltung bedeuten. Im Innern des Gebäudes, also für die Anmeldung, das Abholen der Startnummer und den Gang zum Klo ist das Tragen einer Maske erforderlich. Im Außenbereich gibt es keine spürbaren Einschränkungen.
Mit einem leicht mulmigen Gefühl stelle ich mich am Ende des Feldes in die Startaufstellung. Es gibt nicht nur eine Besenläuferin, es gibt noch eine zweite, welche aber nicht einen Besen mit sich führt, sondern einen Teppichklopfer. Diesen Antrieb möchte ich nicht spüren, geschweige denn auf der Strecke zusammengekehrt werden. Doch das großzügige Zeitlimit von vier Stunden lässt mich weder das Eine noch das Andere als reale Gefahr erachten.
Vor dem Start ergeht noch der gute Rat an die Teilnehmer, es auf dem ersten Kilometer langsam angehen zu lassen. In der Tat könnte man da unnötig Körner wegschmeißen und gleich zu Beginn den Anblick schöner alter Häuser verpassen. Auf geteerter Straße geht es vorerst weg vom Dorf und vor allem hoch.
Um mich herum eine Gruppe, welche mir vor dem Start schon aufgefallen ist. Sie alle tragen Shirts mit dem Aufdruck „Leben schenken - Organe spenden“. Kopf und einziger Mann der Gruppe ist Mathias Zahner, der mir seine ihn begleitende Tochter vorstellt. Fünf Jahre alt war sie, als ihm sein Leben durch eine Lebertransplantation zum zweiten Mal geschenkt wurde. Seine Dankbarkeit ist für ihn Verpflichtung, nebst anderen Aktivitäten für die Sache bei Marathons und anderen Läufen auf das Thema Organspende aufmerksam zu machen.
Kaum ist der erste Kilometer in den Beinen, eröffnet sich der Blick über die hügelige Landschaft, der an diesem Nachmittag zu meinem stetig wiederkehrenden Begleiter wird. Zur Erholung von den Anfangsstrapazen können wir es nun auch rollen lassen. Bis kurz vor dem Ende des vierten Kilometers geht es wieder auf die Ausgangshöhe zurück. Doch dann gibt es für die Anzeigen auf den mitgetragenen Höhenmessern nur eine Richtung: nach oben.
Bei den angenehmen spätsommerlichen Verhältnissen schlägt sich das in Form zahlreicher Schweißtropfen nieder, doch was den Flüssigkeitsnachschub betrifft, kümmert man sich kurz nach dem fünften Kilometer darum. Iso und Wasser werden mit musikalischer Unterstützung von drei Alphörnern gereicht.
Ein weiteres Versäumnis beim Packen plagt mich. Ohne Stirnband oder Mütze rinnt mir der Schweiß gnadenlos in die Augen, was bei einem Brillenträger erst recht unangenehm ist.
Bevor es zum Schlussaufstieg auf das Schnebelhorn geht, darf nochmals verpflegt werden. Zu den beiden Auswahlgetränken werden auch Gel und Bananen gereicht.
Auf dem höchsten Punkt (1292m) werden alle mit Applaus und vom Fotografen empfangen. Ich fühle mich ziemlich ausgelaugt aber zufrieden und glücklich (später finde ich bei den Bildern des Veranstalters den perfekten Beweis dafür). Zudem erlebe ich eben eine Premiere. Noch nie zuvor habe ich den höchsten Gipfel des Kantons Zürich bestiegen. Ich glaube kaum, dass ich als Einziger den Status des Erstbegehers habe, doch meinen bisherigen Beobachtungen zufolge habe ich ein Alleinstellungsmerkmal. Dieses habe ich nach dem zweiten Verpflegungsposten in Stellung gebracht und ausgefahren.
In der Ausschreibung wurde erwähnt, dass die Strecke nicht für das Laufen mit Stöcken geeignet sei, der Einsatz unter zwei Bedingungen aber gestattet sei. Die Stöcke müssen während des ganzen Laufs mitgeführt werden und man muss ich beim Start hinten im Feld mit dem Status Genussläufer einreihen.
In Unkenntnis der Streckenbeschaffung und in Anbetracht der fehlenden Trailroutine und den in unterschiedlicher Stärke immer wieder auftretenden Sehproblemen auf einem Auge, habe ich die Stöcke dabei. Bei dem steilen Abstieg vom Gipfel geben sie mir Sicherheit und lasten sie für die schlecht trainierte Oberschenkelmuskulatur gute Unterstützungsdienste. Da nehme ich gerne in Kauf, dass ich sie auch dann dabeihabe, wenn ich sie nicht brauche.
Runter, flach, kurze Gegenanstiege – und immer wieder der weite Blick über die Hügel. Es war die richtige Entscheidung, mich kurzfristig für diesen Lauf anzumelden.
Viereinhalb Kilometer vor und zweihundert Höhenmeter über dem Ziel steht bei einem Bauernhof der dritte und letzte Verpflegungsposten. Ich fühle mich ziemlich ausgetrocknet und greife zu. Hans betont, dass er erst in einem halben Jahr den Achtzigsten feiere – und macht sich nach dem Schnappschuss auf und davon.
Ich kann es ebenfalls rollen lassen - mindestens so lange bis sich mein Reizdarm schmerzlich bemerkbar macht. Dass ich die Becher mit Cola am VP 3 erst entdeckt habe, nachdem ich schon Mengen von Iso in mich hineingeschüttet hatte, macht sich auf diese Weise bemerkbar und statt denen vor mir im gleichen Abstand folgen zu können, muss ich mich auf vorsichtiges Gehen beschränken.
Kurz vor Mosnang gibt es einen Streckenabschnitt, der nur anlässlich des Panoramatrails belaufen werden darf und über privates Wiesland führt. Einen Kilometer vor dem Ziel hat sich das Grummeln im Gedärm wieder gelegt und ich kann wieder in einen sanften Laufschritt wechseln. Dann teilt mir ich die Kirchturmuhr mit, dass ich die Marke von drei Stunden erreicht habe. und ich bilde mir ein, dass das nun einsetzende Glockengeläut meinem baldigen Zieleinlauf gilt. Besser als dem Abgesang aus dem Leben…
Noch bevor ich zur Zielverpflegung komme, wird mir der „Hans Baumann Sonderpreis“ überreicht, eine mit lokalen Spezialitäten gefüllte Tüte für alle, die länger als 2:45 benötigen, dies aber nicht als Grund sehen, nicht teilzunehmen.
Nach der Zielverpflegung gilt es dann nochmals die Maske aufzusetzen und in der Turnhalle eine weitere gut gefüllte Tüte und ein paar Laufsocken mit dem Schriftzug der LR (Läuferriege) Mosnang in Empfang zu nehmen.
Mit dem Teller Spätzli mit Beilage (wahlweise auch fleischlos), welcher ebenfalls zum Startpaket gehört, setzte ich mich im Schulhof an einen der Tische und verfolge die Siegerehrungen und die Auslosung der zahlreichen wertvollen Sachpreise. Obwohl mein Name dabei nie aufgerufen wird, fahre ich als reich Beschenkter nach Hause – mit der Überzeugung, dass es ein Fehler wäre, den Schnebelhorn Panoramatrail nicht wieder auf meine Wunschliste zu setzten.