Einen Marathon in der Nachbarschaft kann ich nicht einfach links liegen lassen. Ich meine, wenn man am Sonntag fast ausschlafen und trotzdem dabei sein kann, kommt dies der Quadratur des Kreises schon sehr nahe.
Wenn es sich dann noch um einen bestens organisierten Landschaftsmarathon handelt, wäre es schon fast fahrlässig, ihn zu ignorieren; erst recht, wenn es sich um einen Klassiker handelt.
Zum zweiundvierzigsten Mal geht heute der Schwarzwald-Marathon über die Bühne, der weltälteste Natur- und Frauenmarathon, der in der Anfangszeit zeitweise sogar das weltgrößte Teilnehmerfeld aufweisen konnte. Der Lauf der Zeit ging auch nicht spurlos an ihm vorbei, doch es waren auch verschiedene Anpassungen, die ihm seinen verdienten Platz im Laufkalender sichern.
In Anbetracht meines gegenwärtigen Marathonpensums stellte ich mich auf Plan A ein. Dieser sah vor, dass ich die seit 2005 in dieser Form zu absolvierende Runde eher gemütlich angehe und mir noch ein paar Körner für die verbleibenden Läufe aufspare. Ein Telefonanruf am Samstag ließ mich aber Plan B hervornehmen. Die Wettervorhersage, die nochmals angenehmes Laufwetter vor einem Kälteeinbruch versprach, brachte Britta dazu, mit mir nach Bräunlingen zu fahren. „Wenn sie schon mitkommt, dann können wir auch zusammen laufen“, dachte ich, mit der sanften Ahnung, was ich mir mit diesem Plan einhandeln könnte. Immerhin sind unsere Bestzeiten fast die gleichen und in Zermatt war sie im Juli schon bei einem kühlen Alkoholfreien, als ich über die Ziellinie röchelte.
Gemütlich tuckern wir durch die herbstlich bunte Landschaft, freuen uns, dass die Morgensonne die Wolken vertreibt und die Farben so schön zum Leuchten bringt – und hoffen, dass das Wetter so bleibt, denn besser kann man es sich nicht wünschen!
Zum Glück ist es nur ein Katzensprung vom Parkplatz zur Stadthalle, wo es die Startunterlagen gibt. So kann ich Energie sparen, die ich später, dessen bin ich mir aber so was von sicher, bestimmt noch brauchen werde. Die Startnummer und die Laufsocken von Falke erhalte ich auch ohne große Anstrengungen. Aus ökonomischen Gründen verzichte ich auf den kurzen Gang zur Garderobe und komplettiere meine Laufkleidung neben den Absperrgittern beim Start. Während Britta zu einer mir Angst einflößenden Aufwärmrunde durch die historische Altstadt aufbricht, steige ich in der Stadthalle nochmals die Treppe zur Gepäckaufbewahrung hoch.
Kurz vor halb zehn treffen wir uns wieder und wollen uns in den Startblock einreihen. Mit Betonung auf Wollen. Wir haben keine Chance, uns irgendwie zwischen die Abschrankungen zu quetschen. Zu schmal, zu kurz, zu überfüllt. Für die 555 Marathonis würde es reichen, für die rund 1300 Halbmarathonis auch. Für beide zusammen ist der Platz eindeutig zu knapp bemessen. So komme ich zu der doch eher seltenen Perspektive für eine Aufnahme eines Teils des Läuferfeldes: Sie blicken in meine Richtung, während im Hintergrund das Startbanner zu sehen ist, unter welchem wir dann mal durchgehen. In der Natur der Sache liegt es auch, dass sich zahlreiche Läufer in gnadenloser Selbstüberschätzung – oder dem unheimlichen Drang auch mal vorne im Feld dabei zu sein – nicht dort eingereiht haben, wo es ihren Fähigkeiten entspricht.
Auf dem ersten Teil der Strecke durch das Städtchen ist in der Breite genügend Platz, um diesen Hindernissen aus dem Weg zu gehen. Vor der Kirche stehen wieder der Pfarrer und die Messdiener. Danke für den Applaus – aber könnten Sie bitte noch ein gutes Wort für uns einlegen, damit den von ihrem lobenswerten Sportgeist getriebenen und dabei die Regeln des Fairplay vergessenden Bremsklötzen Erkenntnis geschenkt wird und sie uns Platz zum Überholen lassen?
Wir sind offensichtlich auf dem Radweg bevor der Pfarrer wieder beim Altar steht. Einem Tausendfüßler gleich zieht sich die Läuferschlange durch die Landschaft. Doch der Tausendfüßler leidet an Verstopfung. Den bewaffneten Kampfwanderern gleich blockieren eben erwähnte Sportfreunde den Weg. So was nervt! Ich kann es mir verklemmen eine Bemerkung zu machen: „Hallo Freunde, Ihr habt euch ein bisschen zu weit vorne eingeordnet und haltet nun die auf, die gerne etwas schneller laufen möchten“. Damit handle ich mir ein kameradschaftliches „Ach, du Klugscheißer“ ein. Ich verzichte darauf, im Gegenzug Pech und Schwefel zu wünschen, aber so ein gemeiner Wadenzwicker würde dem Kerl auch auf der halben Strecke gut tun.
Britta schlägt ein strammes Tempo an. Zusammen mit dem zusätzlichen Kraftaufwand fürs Überholen treibt das meinen Puls ziemlich hoch. Emiliana Torrini lässt grüßen: „My heart beats like a jungle drum“. Techno Beats sind wahre Zeitlupe dagegen, meine Pulsuhr ist kurz vor dem Explodieren. Wenn es so weitergeht, muss ich mich von Britta und Plan B verabschieden…
Es geht zum Glück nicht so weiter, denn das Feld entzerrt sich mehr und mehr, andere keuchen noch mehr als ich und haben den Widerstand gegen das Überholt-Werden aufgegeben. Sechs Kilometer übers offene Feld und der erste Verpflegungsposten liegen hinter uns. Mittlerweile haben wir zum Zugläufer für 3:30 aufgeschlossen und können somit die Geschwindigkeit etwas drosseln. Von hier an wird für die nächsten rund dreißig Kilometer der Wald unser Begleiter zu beiden Seiten sein. Von kurzen Gefällstrecken abgesehen ist die Strecke durchwegs ansteigend. Der Blick auf die Uhr zeigt mir, dass meine Pulsfrequenz trotzdem um zwei oder drei Schläge zurückgegangen ist. Immerhin.
Und was gibt es über die Strecke zu berichten? Der Untergrund der Forststraßen ist vom gestrigen Regen weich aber nicht aufgeweicht, auf jeden Fall Gelenk schonend. Im Vorfeld der Veranstaltung wurde die Strecke hergerichtet, es gibt keine Löcher, in welchen mach sich den Fuß vertreten könnte oder die als Pfütze umgangen werden müssten. Auch da hat der Veranstalter ganze Arbeit geleistet.
Auch die zweite Verpflegungsstelle ist angekündigt und übersichtlich aufgebaut. Schon von Weitem kann ich ohne Brille lesen, wo es Iso, Tee oder Wasser gibt; in dieser Reihenfolge, wie von mir gewünscht. Zuerst von dem magenverträglichen Iso, nachher noch mit Wasser nachspülen, einfach die perfekte Zusammensetzung für mich statt einer explosiven Mischung. Der Beweis, dass man auch mit einer Mineralwasserfirma als Sponsor die Leute nicht mit Kohlensäure aufpumpen muss.
Mir kommt es ganz gelegen, dass Britta nicht im Laufen trinkt, sondern ein paar Schritte geht. Wir bleiben so zwar nicht beim Pulk um den Zugläufer, dafür stimmt es für uns sonst.
Nach zwölf Kilometern kommt die Weiche. Wie wurde mir doch schon von klein auf richtigerweise beigebracht: „Junge, halte dich nicht an die Leute, die halbe Sachen machen; auf die ist kein Verlass!“. Genau so ist es, wie ich an dieser Stelle demonstriert bekomme. Die Halbmarathonis gehen geradeaus und überlassen uns unserem eigenen Schicksal. Wir biegen rechts ab – in die relative Einsamkeit. Wie gesagt, sie ist relativ. Wir sind zu zweit unterwegs, in Sichtweite zwar zu anderen Läufern, aber mit viel Platz um uns herum. Außer dem Trapp-Trapp unserer Schuhe ist es still im Wald. An gewissen Stellen erreicht uns der Wind auch im Schutz der Bäume, er ist aber nur zu spüren, nicht zu hören.
Da und dort stehen an einer Wegkreuzung ein paar Zuschauer. Schön, dass sie den Weg hierher gefunden haben und für einen kurzen Moment den Part übernehmen, den sonst der Wald in seiner Vielfalt innehat. Die Ruhe gibt Kraft.
Bei Oberbränd verlassen wir kurz den Wald und treten hinaus in den Sonnenschein. Bei guter Fernsicht kann man von hier die Alpen sehen. „Hier ist gut sein, lasst uns Hütten bauen!“ , hat sich hier jemand gesagt und sich an diesem schönen Plätzchen ein buntes Anwesen hingestellt, das sich die Energie aus der Natur holt. Das ganze Dach ist mit Sonnenkollektoren bedeckt. Auch wenn Oberbränd nicht zu Bräunlingen gehört, ist es leicht nachvollziehbar, weshalb die Stadt vor drei Jahren Umweltpreissieger des Landes Baden-Württemberg war.
Bevor es auf Asphalt ein kurzes Stück ordentlich steil hinunter geht, gehen wir zum Auftanken ein paar Schritte. Umso heftiger donnern wir weiter. Brittas Rollerqualitäten führen zu einem für mich beängstigenden Kilometerschnitt von 4‘14‘‘. Und das bevor wir die Hälfte hinter uns haben, geschweige denn die Höhenmeter gesammelt haben. Wenigstens hat sich meine Pumpe in der Zwischenzeit auf einem mir vertrauten Wert eingependelt.
Die Streckenhälfte passieren wir in 1:47 – aber eben, das ist erst die Hälfte. Und weiter geht es mit einem weiteren herzhaft ansteigenden Kilometer. Beim Kilometerschild mit der zwanziger Schnapszahl frage ich mich, ob das mit dem Plan B nicht eine Schnapsidee war. Gut gemeint aber schlecht umgesetzt. Ich habe meine Zweifel, ob ich das noch lange so durchhalte. Wäre ich alleine unterwegs, würde ich einen bis zwei Gänge runterschalten. Oder doch nicht? Genau, ich hätte es von Anfang an gemütlicher genommen.
Britta ist aber ruhig atmend mit schöner Regelmäßigkeit am Laufen und ich will sie dabei nicht stören, indem ich sie alleine weiter schicke. Also schicke ich diesen kleinen mentalen Hammermann-Kobold zurück zu seinen Gefährten, dorthin in den Schwarzwald, wo der Wald dichter steht als hier. Hier gibt er Geborgenheit und gleichzeitig Weite. Seine Schönheit, der würzige Geruch des Holzes und das Strahlen der Sonne lenken mich von dieser kurzen Unpässlichkeit ab und spätestens nach Kilometer 24 und einer weiteren Verpflegung ohne Hetze läuft es mir wieder wie zuvor. Nein, sogar noch besser. Die weiteren Kilometer fliegen regelrecht an uns vorbei.
Trotzdem – oder gerade deswegen? – saugen Britta und ich die vielfältigen Eindrücke entlang der Strecke auf. Wir reden nicht viel, wir genießen. Zwischendurch, wenn wir etwas besonders wahrnehmen, machen wir uns darauf aufmerksam – und laufen weiter.
Es ist kaum zu glauben, dass nur noch ein Fünftel der Strecke vor uns liegt, als wir bei Unterbränd den Wald verlassen. Einen Kilometer noch und wir sind im Herzen des Dorfes, dort, wo die Halbmarathonstrecke einbiegt und das größte Läuferfeld schon vorbeigekommen ist. An diesem Schnittpunkt ist Rambazamba. Musikalische Unterstützung, Anfeuerungen durch Zuschauer und am siebten Verpflegungsposten beste Versorgung durch einige der dreihundert Helfer, die im Einsatz stehen, warten auf uns.
Es dauert nicht lange und wir sind schon wieder im Wald und haben von dort einen schönen Blick hinunter auf den kleinen Kirnbergsee. Jetzt warten noch drei Kilometer im Wald auf uns und dann – nach einer letzten Verpflegung – drei Kilometer auf Asphalt und übers Feld nach Bräunlingen.
Auf dem letzten Kilometer durch die Stadt sehen wir unter den Zuschauern ein paar Landsleute von Britta. Zu erkennen sind sie an jedem Sportanlass, da sie immer Farbe bekennen und konsequent ihre Landesflagge auf Shirts und Trainingsanzügen zeigen. So habe ich auch Britta kennengelernt. Wobei der eigentliche Grund war, dass zu meiner ersten Wahrnehmung etwas nicht passte. Wieso spricht eine für ihr Land laufende Dänin Schweizerdeutsch? Ganz einfach, weil sie seit Jahren in der Schweiz wohnt und mit einem Schweizer verheiratet ist. Das Danish Dynamite ist ihr aber geblieben und sie versteht es, dieses gezielt zu zünden und in kontrollierte Energie umzusetzen, wie sie eben beweist. Damit reicht es ihr heute zum siebten Gesamtrang.
Diese hervorragende Leistung reicht in ihrer Altersklasse leider nicht fürs Podest; sie belegt den vierten AK-Rang. Mich hat sie, absolut gesehen, zu meinem zweitschnellsten Marathon in diesem Jahr gezogen. In Anbetracht der Höhenmeter und der Waldwege ist es relativ gesehen vermutlich sogar der schnellste. Dies festzustellen überlasse ich den Fachleuten. Von denen gibt es ja genug, wie aus den zahlreichen Ratschlägen entnehme, die unter der warmen Dusche links und rechts ausgetauscht werden und die mir so ziemlich egal sind.
Anscheinend passe ich auch als Marathonike nicht in ein Schema, wie ich bei der Befragung nach dem Zieleinlauf feststellen muss, die für die Bachelorarbeit einer Studentin durchgeführt wird. Was soll’s? Mein Ziel habe ich erreicht: Ich bin ohne Beschwerden ins Ziel gekommen und in den nächsten Tagen wird mich ein schönes Stück Schwarzwälder Schinken, ein Finishergeschenk, an diesen schönen Lauf erinnern und längerfristig werden das die für diese Veranstaltung hergestellte, individuelle Medaille und die Urkunde übernehmen, welche wir umgehend in Empfang nehmen können.
Gerade rechtzeitig sind wir wieder beim Ziel um mit Rolf Helge (heute ohne Hund) zu bangen und uns mit ihr zu freuen, als seine Brigitte mit einer Punktlandung in der von ihr erhofften Zeit die Matte überquert.
Mit lecker Pommes und Wurst bewaffnet gehen wir an die Rangverkündigung in der gut besetzten Stadthalle. Klar, die Reihen lichten sich nach der Ehrung der Halbmarathonis. Unübersehbar nutzen viele Sportvereine diese Gelegenheit zu einem gemütlichen Zusammensein. Und wenn jemand aus ihrem Kreis aufs Treppchen gerufen wird, dann auch unüberhörbar. Zum Beispiel die mit Schweizer Wimpel angereiste Laufgruppe LV Langenthal, die Alexandra mitgeschleppt haben, die bei ihrem ersten Marathonstart gleich den dritten Platz in der Hauptklasse holt.
Mein Fazit: Für viele Läuferinnen und Läufer wurde heute wieder ein Traum wahr. Auch für mich. Die Mischung aus Schwarzwälder Beschaulichkeit und Danish Dynamite wird mir in guter Erinnerung bleiben. Auch dann, wenn der Schinken schon längst weggeputzt ist.
Marathon-Sieger
Männer
1 Häntzschel, Steffen (GER) LSG Schwarzwald-Marathon 02:37:34
2 Dörr, Hans-Jörg (GER) TV Hathenbühl 02:39:28
3 Merkt, Jürg (SUI) TV Hüntwangen 02:44:56
Frauen
1 Meiniger, Simone (GER) LTG Kämpfelbach 03:16:40
2 Matt, Brigitte (GER) LG Hohenfels 03:20:18
3 Schikowski, Irene (GER) TG Konz 03:25:13
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