Im Jahr meiner Einschulung schrieb der Schwarzwald Marathon bereits Geschichte. Mit einer gewissen Schlitzohrigkeit gelang es, Frauen erstmals einen Marathon bestreiten lassen zu können, ohne dass sie sich wie im Jahr zuvor Kathrine Switzer beim Boston Marathon als Mann ausgebend hätten ins Lauffeld einschleusen müssen.
Die Schwarzwälder Kuckucksuhren tickten schneller als ein paar Kilometer südlich die Schweizer Präzisionsuhren. Erst drei Jahre später konnten sich die Eidgenossen durchringen, den Eidgenossinnen das Stimm- und Wahlrecht auf Bundesebene zuzugestehen. Zur Ehrrettung der Aufgeklärten möchte ich aber doch erwähnen, dass in dem Ort, in welchem ich meine ersten Lebensjahre verbracht habe, den Frauen auf Gemeindeebene diese Rechte immerhin schon drei Jahre vor meiner Geburt zugestanden wurden.
Im Vorfeld des heutigen Marathons hat Sandra Schmid – vor drei Jahren als Zweitklassierte im Ziel – sich dahin gehend geäußert, dass der Schwarzwald Marathon mit dieser Pionierleistung viel zu bescheiden umgehe. Stimmt. Marketing-Fritzen könnten daraus Kapital schlagen, doch das Veranstaltungsgremium macht offensichtlich lieber das, was sie schon immer gemacht haben. Einen schönen, soliden Laufanlass für uns Läufer veranstalten, statt sich in Selbstbeweihräucherung zu zelebrieren.
Deshalb findet der Schwarzwald Marathon nach dem Ausfall im vergangenen Jahr trotz erschwerter Bedingungen statt. Allen Widrigkeiten zum Trotz blieben die Macher am Ball und ich habe ihnen mein Startgeld deshalb liebend gerne überwiesen. Wohlverstanden, ohne zu wissen, wie viele der darin enthaltenen Leistungen ich würde beanspruchen können.
Man sollte meinen, dass ich nach 25-jährigem Läuferdasein und dem damit erlebten Auf und Ab vernünftig genug sein würde, nicht innerhalb von zwei Monaten von Null auf Marathon zu gehen. Fast 22 Monate nach dem letzten Marathon und nach eineinhalb Jahren Laufabstinenz vor der Wiederaufnahme meines erst zweimonatigen Trainings warte ich bei frostigen Temperaturen auf den Start. Der verzögert sich um zwanzig Minuten, weil es beim Check In einen Stau gibt. Der blaue Himmel und die zunehmend wärmer werdenden Sonneneinstrahlen verheißen perfekte Wetterbedingungen.
Wie üblich starte ich weit hinten und versuche meinen Tritt zu finden, so wie ich ihn mittlerweile vom Laufband gewohnt bin. Anders als üblich stehen weder Pfarrer noch Ministranten vor der Kirche. Ich nehme an, dass das der Startverspätung geschuldet ist. Wenn dieses Mal der kirchliche Segen nicht erteilt wird, so habe ich doch den Segen meiner Ärzte – mehr noch, ihre Ermutigung dazu, ungeachtet aller anderen Umstände auf meinen Körper zu hören und entsprechen wieder an meine frühere Lauferei anzuknüpfen. Wohlverstanden nicht an die schnelle, sondern an die erbauende, entspannende und entspannte.
Noch ist vor mir eine große Läuferschar zu sehen und es dauert auch gar nicht so lange, bis von hinten die zehn Minuten später gestarteten Halbmarathonis uns überholen. Die ersten flachen dreieinhalb Kilometer übers Land sind ideal, um gleichmäßig in die Hufe zu kommen, erst dann beginnt, was die nächsten gut zwanzig Kilometer der stetige Begleiter sein wird: sanfte, aber nicht zu unterschätzende Steigung.
Kurz nach dem fünften Kilometer gibt es die erste Verpflegungsstelle und die erste und zugleich letzte Enttäuschung heute. Der erste Schluck Iso findet zur Hälfte den Weg die Kehle runter, der Rest findet den Weg in die Landschaft. Meine Geschmacksnerven signalisieren, dass etwas mit diesem Geschmack meinem Körper Schaden bescheren würde. Also muss es ein wenig Wasser tun und für den weiteren Weg habe ich einen ausgiebigen Vorrat an Cola im Rucksack.
Gut zwei Kilometer später verlassen wir die offene Landschaft und tauchen in den Wald ein. Laufen, Radfahren, Wandern, mit den Hunden spazieren; egal was die Aktivitäten sind, die Kulisse und die Beschaffenheit der Forststraße sind für all das geradezu prädestiniert.
Bei Kilometer zehn ist eine Zeitmessmatte und die Anzeige auf der dazugehörenden Uhr verblüfft mich. Bis hierhin hatte ich ziemlich genau die Pace, mit welcher sich in den letzten Wochen das Laufband unter meinen Füßen abgespult hat. Diese positive Überraschung begieße ich mit einem Becher Wasser an dem an dieser Stelle aufgebauten Verpflegungsposten. Dazu ein kräftiger Schluck Cola aus meinem Vorrat – und weiter geht es.
Dass ich bisher offensichtlich gut auf meinen Körper gehört habe, gibt mir zusätzliche Motivation für mein heutiges Unterfangen. Vieles geht mir durch den Kopf. Wenn ich das Ding ins Ziel bringe, dann ist es für mich ein wichtiger Markstein. Wenn nicht, dann ist es aber auch kein Scheitern. Das wäre es, wenn ich es nicht versuchen würde. Ich wage einen Versuch, bei welchem ich keine Mutwilligkeit, Böswilligkeit oder Inkompetenz von außen zu fürchten habe, welche mich zu Fall bringen wird. Wenn der Körper Stopp sagen sollte, dann werde ich das akzeptieren. Was das Mentale anbelangt, so bin ich gewillt zu kämpfen und am Kämpfen nicht zu zerbrechen, sondern zu wachsen und durchzuhalten. Auch deswegen habe ich letztendlich entschieden, mich für die ganze Distanz anzumelden.
So richtig tauche ich bei der Weiche in diese Überlegungen ein. Die Halbmarathonis laufen geradeaus in Richtung Unterbränd, für den langen Kanten wird rechts abgebogen. Schlagartig ist die Läuferdichte massiv reduziert.
Dominique und Robert werden auf ihrem ersten Marathon von ihrem Kollegen Fumiaki begleitet und machen es richtig. Kein Kampf um Sekunden, sondern entspanntes Laufen, bei welchem sie sich unterhalten können.
Kurz bevor es vor Oberbränd aus dem Wald hinaus auf den vierten Verpflegungsposten zugeht, schließe ich zu Susanne auf. Auch sie läuft ihren ersten Marathon. Bei ihr waren die Vorzeichen umgekehrt. Es war die Pandemie, welche sie zu diesem Schritt bewog. Allein, ohne Unterstützung durch eine Laufgruppe, hat sie sich mit Herbert Steffnys Großem Laufbuch auf diesen Tag vorbereitet, und mein Eindruck, dass nicht nur die Vorbereitung, sondern auch die Umsetzung perfekt ist, verfestigt sich mit jedem Kilometer, den wir von da an zusammen laufen.
Ich bin froh, dass ich die nun folgenden Kilometer nicht allein „fressen“ muss. Die wären sonst ziemlich einsam und mental härter, obwohl die Umgebung, in der ich mich bewege, bei dem herrlichen Sonnenschein einfach nur schön ist und so viel Ruhe und Frieden ausstrahlt.
Es ist immer wieder seltsam, dass ein gedrucktes Profil einer Strecke sich in Natura anders anfühlt. Besonders mit zunehmender Kilometerzahl wird jede Gegensteigung anspruchsvoller. Nach 28 Kilometern ist auf dieser Strecke das Härteste diesbezüglich abgehakt.
Zwei Kilometer später, bevor es endgültig wieder ostwärts in Richtung Bräunlingen geht, ist aus dem Wald nochmals ein Blick auf Oberbränd zu erhaschen, wo wir zwölf Kilometer zuvor vorbeikamen.
Für mich beginnt jetzt trainingstechnisch Neuland und mein Kopf sagt dummerweise auch, dass es sich auch so anfühlt. Meine Taktik ist nun, dass ich mich auf Unterbränd hinarbeite, wo nicht nur das Schild mit der 35 steht, sondern auch der siebte Verpflegungsposten. Immerhin habe ich bisher – mindestens dem Gefühl nach - meine Pace halten können und würde auch mit einem in eine Sonntagswanderung transformierten letzten Streckenabschnitt locker vor Zielschluss zurück in Bräunlingen sein.
Es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, dass es sich von Unterbränd an nicht anfühlt wie Kaugummi. Mindestens die folgenden vier Kilometer. Doch dann wird es auch optisch überschaubar. Die Zähringerstadt ist zu sehen und ein Auftanken mit Banane und Cola am letzten Verpflegungsposten wird den nötigen Energieschub geben.
Ich spreche Jana und Michael, welche ich sicher seit der Halbmarathonmarke immer im Blickfeld habe, auf ihr gleichmäßiges Tempo und der ihm vermutlich zugrunde liegenden Erfahrung im Marathonlauf an. Nichts dergleichen, es ist ihr erster Marathon und auch Jana sagt, dass die zusätzliche Zeit, die sie während der Pandemie zur Verfügung hatte, sie zu diesem Schritt bewogen habe.
Der letzte Kilometer kommt mir länger vor, doch dann ist die Stadthalle in Sicht und damit auch wenig später das Zielbanner. Fünfzig Meter davor ist der Akku leer. Glücklicherweise nicht der meines Körpers, aber die Kamera gibt mir zu verstehen, dass für sie nun Schluss sei.
Der Blick auf die Uhr bei der Zeitmessmatte erfreut mich. Ich kenne zwar nur die Zeit für die ersten zehn Kilometer und kann daraus nicht auf die Gleichmäßigkeit schließen, doch die auf dem Laufband trainierte Pace habe ich gesamthaft ins Ziel gebracht.
Dass mir das gelungen ist, ist heute aber nur die Rückseite der Medaille. Untrennbar mit der Vorderseite verbunden, aber nicht die Seite, der das Hauptaugenmerk gilt. Allen Widrigkeiten zum Trotz, ist es mir gelungen, den Kampf, um auf diesen Punkt zu kommen, in Angriff zu nehmen. Läuferisch bin ich wieder dabei. Und das gibt mir die Zuversicht, dass ich es auch sonst wieder sein kann.
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